Sofia Andruchowytsch: "Die Geschichte von Romana"

Zahllose Hinterlassenschaften

07:57 Minuten
Das Cover des Romans von Sofia Andruchowytsch, "Die Geschichte der Romana. Das Amadoka-­Epos 1"
© Residenz

Sofia Andruchowytsch

Übersetzt von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck

Die Geschichte von Romana (Amadoka-Epos 1)Residenz, Salzburg 2023

304 Seiten

25,00 Euro

Von Olga Hochweis · 01.02.2023
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Eine Archivarin versucht anhand persönlicher Erinnerungen, die Geschichte der Ukraine von der Stalin-Zeit bis zur Gegenwart zu rekonstruieren. Sofia Andruchowytsch kreist in ihrem teilweise mysteriösen Roman um die Themen Gedächtnis und Identität.
Amadoka hat es vielleicht nie gegeben. Der mystische See auf dem Territorium der heutigen Westukraine fand in der Antike bei Herodot und Ptolemäus Erwähnung. Noch im Mittelalter bestätigten Landkarten die Existenz des angeblich größten europäischen Gewässers. Doch im 17. Jahrhundert taucht es nicht mehr auf.
Für Sofia Andruchowytsch ist der titelgebende Name des verschwundenen Sees eine Metapher für den Verlust von Erinnerung und Gedächtnis in der Ukraine. Eine kollektive Amnesie betraf vor allem die Jahrzehnte der Stalin-Herrschaft.
Das Amadoka-Epos rekonstruiert die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert. Es geht um den Holocaust und die Verfolgung ukrainischer Intellektueller in den 1930er-Jahren. Der Zweite Weltkrieg wird ebenso thematisiert wie der Krieg im Donbass, der 2014 begann. Auch historische Figuren ukrainischer Geistesgeschichte wie etwa der Dichter und Denker Viktor Petrov Domontovich haben Pate gestanden für Figuren im Roman.

Eine unzuverlässige Erzählerin

Das kollektive Gedächtnis, so zeigt der Roman, entsteht aus individueller Erinnerung. Nicht zufällig heißt die zentrale Figur Romana: Das fiktional Romanhafte als „unzuverlässige Erzählerin“ ist ihr bereits im Namen eingeschrieben.
Auch Romanas Beruf als Archivarin in Kiew, auf dem altehrwürdigen Areal der 1000-jährigen Sophien-Kathedrale, ist nicht zufällig gewählt: Mit Dokumenten versucht sie, eine Vergangenheit zu rekonstruieren, die über ihre eigene Person hinausweist.
Romana behauptet, sie sei die Frau eines Kriegsversehrten aus dem Donbass, der seit Monaten im Krankenhaus behandelt wird. Nach einer Explosion hat er sein Gedächtnis verloren. Es gibt auch keinen, der seinen Namen kennt. Aufgrund seiner Verletzungen kann ihn niemand wiedererkennen:
„Sein großer Körper und sein Gesicht sind entstellt, von tiefen Narben zerfurcht: rosa, rot, braun, violett", beschreibt ihn Sofia Andruchowytsch: "Er sieht aus wie ein Tier, das im Schlachthof von Fleischern zerteilt wurde, dessen einzelne Stücke aber dann aus irgendeinem Grund wieder zusammengewachsen sind.“
Romana will beweisen, dass der Mann ihr einstiger Lebensgefährte Bogdan ist – ehemals war er Archäologe. Schicht für Schicht legt sie nun ihrerseits sein Leben frei. Doch die entsprechenden Dokumente, Fotos und Gegenstände stammen aus zweiter Hand, vom Vater des Mannes – eines ominösen Schönheits-Chirurgen, der ausgerechnet Gesichter operiert und in dessen Wohnung Romana durch Zufall auf zahllose Hinterlassenschaften seiner Familie gestoßen war. Neue Figuren aus unterschiedlichsten Generationen kommen durch sie ins Spiel, erzählt wird von Urgroßmüttern und Waisenkindern, Geliebten und widerständigen Priestern während der Stalin-Zeit.

Überkonstruiert und teilweise schrill

„Die Geschichte von Romana“ entwirft nicht nur ein Gedächtnis und eine Identität für Bogdan, sondern, so scheint es, exemplarisch auch für die ukrainische Gesellschaft. Vieles bleibt jedoch vage und mysteriös. Den vielen Figuren fehlt es an Profil – wie Pappfiguren bewegen sie sich in einer reichlich überkonstruierten und teilweise schrillen Szenerie. Romana, die Hauptfigur, bleibt bis zuletzt ein Rätsel. Die bildreiche und expressive Sprache des Romans entwickelt dennoch in seinen stärksten Passagen eine sogartige Wirkung.
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