"Er war authentisch"

Heinz Ludwig Arnold im Gespräch mit Ulrike Timm · 16.07.2010
Nach Einschätzung des Philologen Heinz Ludwig Arnold könnte die heutige deutsche Gesellschaft und Literaturszene einen Autor wie Heinrich Böll gut gebrauchen. Böll habe "unbestechlich" auf die Dinge geschaut, sagte Arnold.
Heinrich Böll: Es ist oft gesagt worden, vorwurfsvoll gesagt worden, was ich und was meine Generation geschrieben haben – zu der ich Grass nicht zähle, das ist schon eine andere Generation –, sei die Literatur der Versehrten. Es ist sogar spöttisch das Wort Versehrtenliteratur gefallen, und ich empfinde diesen Vorwurf als sehr positiv. Denn versehrt, verletzt hat ja auch den Sinn der Passion.

Ich glaube, dass man in einem nicht nur metaphysischen, sondern auch in einem sehr irdischen Sinn von einer Passion sprechen kann. Ich habe sehr viel geschrieben, schon mit 17, 18, Romane, Erzählungen, Gedichte. Dann kam der Krieg, in dem ich keine Zeit fand zum Schreiben. Ich war Soldat, hab’ dann gleich nach 45 wieder angefangen, und zwar ganz anders. Vor dem Krieg war ich wahrscheinlich ein Bewohner des elfenbeinernen Turmes. Und ich bin aus diesem, glaube ich, herausgekommen.

Ulrike Timm: Der ruhige, leise und immer ein wenig traurige Tonfall von Heinrich Böll. Vor 25 Jahren starb der Literaturnobelpreisträger, der keine politische Debatte ausließ in den 1960ern und 70ern, heute aber eher wenig gelesen wird. Am Telefon begrüße ich Heinz Ludwig Arnold, Publizist, Herausgeber der Edition Text und Kritik und von Kindlers Literaturlexikon. Schönen guten Tag, Herr Arnold!

Heinz Ludwig Arnold: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Arnold, die Kriegszeit hat den Menschen und Schriftsteller Heinrich Böll geprägt wie nichts anderes, das haben wir eben von ihm selbst gehört. Wie genau hat denn dieses Erlebnis seine Haltung und sein Erzählen geformt?

Arnold: Also er hat ja das Wort Passion genannt, und Passion heißt ja Leiden und heißt auch Leidenschaft. Und genau das eine hat das andere produziert. Er hat unter dem Krieg gelitten, der Krieg hat verhindert, dass er ein Schriftsteller schon werden sollte, früh, das hat er in Briefen an seine Verlobte und dann später Frau Annemarie geschrieben, und er hat eine richtige Sendung gefühlt, diese Schriftstellerei zu übernehmen.

Und in der Tat, die frühen Sachen, die es da so gibt, sind elfenbeinturmartig, und später hat er sich eben eingemischt. Und diese Versehrtenliteratur – oder man hat ja auch mal ... 53 hat er einen Vortrag gehalten über die Trümmerliteratur – ist eben eine Literatur, die sich der eigenen Leiden, aber auch der eigenen Schuld des eigenen Volkes sehr deutlich angenommen hat. Das prägt das Werk von Heinrich Böll.

Timm: Berühmt wurde er dann, wie er in den 60ern und 70ern an den Debatten der damaligen Bundesrepublik teilgenommen hat. Er war Repräsentant wie der große Kritiker der Bundesrepublik, keine Debatte, keine Demo ohne Böll, ob es nun um Gerechtigkeit, Frieden, Medienkritik ging. Die Springer-Presse stempelte ihn sogar zum Sympathisanten der RAF-Terroristen. Heinrich Böll war also beides: Bürgerschreck und moralische Autorität. Wie konnte eigentlich jemand, der Instanzen selbst so verachtet hat, selbst zu einer solchen Instanz werden?

Arnold: Na ja, Bürgerschreck war er nur für die Bürger, die sich auf das Rückwärts besonnen haben und die nicht in die Zukunft geschaut haben. Die Springer-Presse war reaktionär damals, das ist ganz eindeutig. Und er hat sich auch nicht auf jeder Demo blicken lassen. Es ist übrig geblieben das große Bild Mutlangen, Heinrich Böll mit der Baskenmütze und so weiter, demonstrierend gegen die Stationierung der Pershing, aber er war nie ein Mensch, der viel auf Demonstrationen gegangen ist. Auf der Friedensdemonstration später in Bonn war er auch noch mal dabei.

Aber früher hat er sich eben eingemischt, weil er genau hingesehen hat, was in dieser Republik passierte. Und Themen wie soziale Gerechtigkeit, katholische Kirche, damals der deutsche Terrorismus – ich meine, viel hat sich ja da auch nicht geändert. Heute täte uns ein Böll not. Wir haben heute aber eine andere Literatur, eine, die sich nicht mehr so einmischen will ins gesellschaftliche Leben. Und das tat er selbst, und das tat er auch mit seiner Literatur.

Timm: Gerechtigkeit, Streit um den Glauben, auch Terrorismus sind ja auch noch die Themen von heute, zugleich sind die Würdigungen, die heute erscheinen, relativ kurz. Die "Welt" fragt gar: "Wie tot ist Böll?" Warum geriet dann sein Werk eigentlich so schnell aus dem Blickfeld? Er wird ja heute auch wenig gelesen.

Arnold: Ja, aber da muss man doch auch mal ehrlich sein: Schullektüre ist er noch, aber was sagt schon Schullektüre. Und man muss auch mal überlegen, wird denn Koeppen noch so gelesen, wird Alfred Andersch noch so gelesen, wird Max Frisch wirklich so gelesen, wie man denkt, und von Johnson die aktuelle Lektüre? Also da wäre ich sehr vorsichtig. Das ist einfach mit dem Datum 1990, Vereinigung der beiden deutschen Staaten, seitdem hat sich die Literatur, literarische Landschaft völlig verändert.

Ich hab’ das mal mit drei Schritten gesagt: Einmal war es die Moralisierung der Literatur, und da fällt Böll darunter, dann war es die Politisierung der Literatur, das waren die Spät-68er und die 70er-Jahre, und dann kommt die Privatisierung der Literatur - das ist so meine eigene Formel.

Und heute haben wir einfach keine Literatur mehr in dem Sinne, wie in den 60er-, 70er-Jahren, die sich dann aus den 50er-Jahren heraus entwickelt hat. Wir haben viele Bücher, aber eine Literatur in dem Sinne, die damals noch das große Thema der Vergangenheitsbewältigung hatte, der Gegenwartsbewältigung hatte eines neuen Deutschland nach 45, das haben wir heute nicht mehr. Das sind die Entwicklungen.

Timm: Trauen wir uns doch einen Moment mal zu spinnen, Herr Arnold: Wenn Heinrich Böll heute in der Gegenwart bei uns wäre und man redete über Gerechtigkeit, über Glaubenskriege, über Terrorismus, wo würde er sich heute platzieren? Hätte er vielleicht einen Blog, würde er sich kundtun, wie würde er sich verhalten?

Arnold: Na ja, würde er sich natürlich, gerade wenn wir hier die Hartz-IV-Debatte haben und so weiter, die ja auch viele Unebenheiten hat. Hartz IV ist ja, sagen wir mal gemessen an den sozialen Errungenschaften der 50er- oder 60er-Jahre doch schon fast ein Fortschritt. Damals hat man da noch ganz anders gelebt.

Die geballte Medienmacht, die auch die Politik treibt, die Politik, die sich treiben lässt, das sind Themen, der wäre genauso zornig wie damals, als es gegen ein Adenauer’sches Restaurationsmodell anzukämpfen ging. Terrorismus ist eine andere Sache. Wir haben heute einen globalen Terrorismus, damals hatten wir einen deutschen Terrorismus.

Der deutsche Terrorismus wuchs aus der 68er-Begegnung als kleine absonderliche Sektiererei heraus, das muss man verstehen, das hatte seine sozialen oder seine Wurzeln, die musste man verstehen, die musste man begreifen. Ohne das zu billigen, was da passierte, um Himmels willen, das ist keine Billigung, aber zu versuchen, Geschichte und Entwicklung zu erklären, das war immer Bölls Angelegenheit.

Timm: Und man sieht ihn ja auch noch vor sich, die ewige Baskenmütze, der ein bisschen schlürfige Gang, die leise Stimme, den Nobelpreis nahm er im Leihfrack entgegen, weil er nie einen Frack besessen hat, und anfangs fragte er: Warum kriege ich den, warum nicht Grass? Inwieweit trug denn die bescheidene Art von Heinrich Böll zur Wirkung bei?

Arnold: Zur Lektüre trägt so was vielleicht auch bei. Kleines Beispiel, heute noch: Joachim Gauck hat ein wunderbares Buch geschrieben, das einigermaßen ging. Kaum tritt er als Persönlichkeit, jetzt als Kandidat als Bundespräsident, schnellt dieses Buch hoch in die Charts. Günter Grass, wenn er ein neues Buch hat, versucht irgendwo immer ein öffentliches Gespräch in Gang zu setzen. Und selbstverständlich war es auch damals so: Heinrich Böll hat geschrieben, aber auch gerade, weil er sich öffentlich äußerte, hatte er natürlich eine andere Resonanz.

Grass hat mal gesagt, vor vielen, vielen Jahren, er habe seinen kleinen literarischen Ruhm der Politik gewidmet. Na ja, was heißt der Politik gewidmet oder sogar geopfert hat er gesagt. Dadurch kam er natürlich über die Feuilletonseiten hinaus in die politischen Seiten, und das vermehrte die Leserschaft ungeheuer. Insofern geht beides zusammen. Aber bei Heinrich Böll war nie irgendeine Absicht dabei, um seine Bücher zu protegieren, sondern Heinrich Böll war eben derjenige, der genau hinschaute, der sich aufgeregt hatte, der sehr unbestechlich auf die Dinge geschaut hat. Und er war authentisch.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", mit einem Blick auf den Schriftsteller Heinrich Böll, der heute vor 25 Jahren starb. Hat denn möglicherweise, Herr Arnold, der doch allzu fixierte Blick auf den ehrenwerten Mann, auf den guten Menschen Heinrich Böll die Wahrnehmung seiner Literatur verkleinert?

Arnold: Na ja, ich sagte es ja eben, eher umgekehrt, weil er so auffiel, nicht nur auf den Feuilletonseiten, sondern eben …

Timm: Aber heute ist er halt ziemlich weg.

Arnold: Na ja gut, weil er nicht mehr als diese moralische Figur da ist. Aber in allen Zeitungen lesen Sie: An diese Figur erinnern wir uns. Und ich denke, wenn man Böll in einer kleineren als einer 26-, 27-bändigen Ausgabe, die in diesem Jahr im Oktober beendet wird, wie sie erscheint, ein Klassikergrab ersten Ranges, wenn man Böll eher noch mit kleineren Büchern, zwei, drei Bücher, und vor allen Dingen mit einigen der frühen Erzählungen, die heute noch genauso gelten und genau diese Gleichnisse sind der menschlichen Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, des Sichwehrens, "Die Waage der Balex" etwa oder "Mein teures Bein".

Das sind symbolische Erzählungen, die würden heute auch noch gelten. Ich plädiere dafür, eine schöne zwei-, dreibändige Ausgabe aus dem ganzen Böll zu machen, ich garantiere Ihnen, der würde auch wieder gelesen werden.

Timm: Welches Werk würde diese kleine Ausgabe dann anführen, welches ist für Sie bis heute dauerhaft gültig?

Arnold: Na ja, erst, wie gesagt, einige dieser ganz frühen Erzählungen, mit der er die Authentizität seines literarischen Werkes gewonnen hat, dann "Das Brot der frühen Jahre", dann "Gruppenbild mit Dame" und "Ende einer Dienstfahrt" und natürlich nicht zu vergessen die Satiren.

Timm: Herr Arnold, Sie haben jetzt eine Chance, Sie dürfen uns bitte für jüngere Leser, die die ganze Aufregung der 70er-Jahre nicht mitbekommen haben, ein Werk zum Einstieg von Heinrich Böll empfehlen.

Arnold: Ui!

Timm: Was soll man unseren Schülern geben, vielleicht auch außerhalb der Schulliteratur?

Arnold: Dann würde ich sagen "Ende einer Dienstfahrt".

Timm: Warum?

Arnold: Weil es die Stumpfsinnigkeit einer falsch verstandenen Administration und Bürokratie vorführt.

Timm: Und das ist zeitlos aktuell?

Arnold: Das ist zeitlos aktuell!

Timm: Ich danke Ihnen sehr! Heinz Ludwig Arnold war das über den Schriftsteller Heinrich Böll, der heute vor 25 Jahren starb. Ich danke Ihnen sehr!

Arnold: Bitte sehr!