Taiwans Inseln vor China

Keine Angst vor der KP

24:25 Minuten
Blick aufs Meer vor Nangan im Matsu-Archipel von einem alten Militärfort aus, das in ein Café umgewandelt wurde.
Eine Mehrheit der rund 13.000 auf den Matsu-Inseln lebenden Menschen fühlt sich kulturell und familiär näher zum chinesischen Festland als zu Taiwan hingezogen. © Getty Images / Anadolu Agency / Walid Berrazeg
Von Kathrin Erdmann |
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Chinas Kommunistische Partei betrachtet Taiwan als Teil der Volksrepublik. Immer wieder droht sie auch militärisch. Das könnte den Einwohnern der taiwanischen Matsu-Inseln direkt vor Chinas Küste Angst machen. Aber viele zeigen sich gelassen.
Entspannt sitzt Zhang Cheng-yu mit seinen beiden Freunden in dem beschaulichen Dorf Jinsha auf der Hauptinsel der taiwanischen Matsu-Inselgruppe. Die liegt etwa 150 Kilometer entfernt von Taiwans Hauptinsel, aber nur etwa 20 Kilometer vor der chinesischen Provinz Fujian.
„Egal welche Manöver die Kommunisten jetzt machen, welche Raketen sie auch auf uns abfeuern, das lässt uns alles total kalt, wir sind kein bisschen nervös.“
Zhang ist Kommissar. Er sagt: Viel größer seien die Sorgen zum Beispiel 1996 gewesen. Damals wurden in Taiwan die ersten demokratischen Wahlen nach der Militärdiktatur abgehalten. Die Menschen flohen mit Sack und Pack von den Inseln. Man habe schon so viele erlebt, sagt der 62-Jährige.
„Wir auf Matsu sind entspannt, und das gilt für das ganze Land. Während der Manöver ist das normale Leben weitergegangen. Die ganzen Nachtmärkte waren offen, die Leute sind ins Kino gegangen.“
Wachsfigur eines taiwanesischen Soldaten mit einer taiwanesischen Flagge in Dongyin / Matsu-Archipel.
Soldat aus Wachs vor taiwanischer Flagge: „Wir sind kein bisschen nervös“, sagt ein Kommissar von den Matsu-Inseln – auch wenn man einen Angriff Chinas auf Taiwan nicht ganz ausschließen könne.© Getty Images / Anadolu Agency / Walid Berrazeg
Natürlich könne man einen Angriff Chinas auf Taiwan nicht ganz ausschließen, aber die Volksrepublik habe dafür drei Voraussetzungen herausgegeben: Eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans, einen Bürgerkrieg auf der Insel oder wenn es eine ausländische Einmischung durch die USA oder Japan geben würde.

„Wir fühlen uns zur chinesischen Kultur zugehörig“

Das Problem ist aus seiner Sicht, dass die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen versuche, das Taiwanproblem zu internationalisieren, und das sei eine rote Linie für China. Dann steht Kommissar Zhang auf, zieht sein T-Shirt hoch und zeigt auf seinen Bauchnabel.
„Von der Identität und den Familienbanden her fühlen wir uns stark zur chinesischen Kultur zugehörig. Das ist wie eine Nabelschnur, die man irgendwie nicht abschneiden kann.“
Dass sich eine Mehrheit der rund 13.000 hier lebenden Menschen kulturell und familiär näher zum Festland als zu Taiwan hingezogen fühlt, heißt aber nicht, dass sie auch die Politik der Kommunistischen Partei unterstützen: „Wenn es um Demokratie und Freiheit geht, identifizieren wir uns mit Taiwan“, nicken auch die anderen beiden heftig, die im selben Alter sind wie Zhang Cheng-yu.
Der Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, Anfang August in Taiwan, sei nicht gut für die Beziehungen zu China gewesen. Allerdings verstehen Zhang und seine Freunde auch Taiwans Regierung: „Sie will für Taiwan einen stärkeren internationalen Status erkämpfen. Aber ich bin nun mal Kuomintang-Anhänger und nicht von der Regierungspartei DPP. Deshalb denke ich: Wir können uns durchaus an die USA anlehnen, aber wir dürfen dabei nicht die Beziehungen zu China kappen. Man muss gucken, dass wir zu beiden Seiten gute Beziehungen haben. China ist unser Nachbar, das ist ein riesiger Markt und Taiwan ist wirtschaftlich abhängig.“
Für die USA, da sind sich die drei Männer einig, sei Taiwan eine Schachfigur im Streit mit China. Man müsse sich nur anschauen, was in Afghanistan und jetzt in der Ukraine passiere. Sie würden immer nur Waffen schicken, mehr nicht.
„Egal wie stark wir unseren Verteidigungshaushalt erhöhen, wir können nicht mit den Chinesen in einen Rüstungswettlauf gehen.“

Taiwan schießt chinesische Aufklärungsdrohne ab

Wie sich die Situation mit dem großen Nachbarland weiterentwicklt, hänge auch von der innenpolitischen Lage dort ab, meint Tang Li, der von den Matsu-Inseln stammt, aber inzwischen in Taipeh lebt.
„China hat innenpolitisch sehr viele Probleme, unter anderem wegen des überschuldeten Immobiliensektors. Und der Westen klagt sie an wegen ihrer Menschenrechtspolitik. Und es ist ja bekannt, dass sie versuchen vor dem Parteitag von diesen Problemen abzulenken.“
Der Parteikongress im Oktober, auf dem sich Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping eine dritte Amtszeit sichern will. Für ihn ist Taiwan ein untrennbarer Teil der Volksrepublik und soll über kurz oder lang angegliedert werden, obwohl es nie Teil davon war. Seinem Ziel hat Xi zuletzt durch massive Militärmanöver versucht, Nachdruck zu verleihen.
Seit dem Pelosi-Besuch fliegen nicht nur Kampfflugzeuge und Raketen der Volksbefreiungsarmee rund um Taiwan. Laut Angaben aus Taiwan und Japan wurde auch die als innoffizielle Grenze geltende Mittellinie überflogen. Außerdem schickte China Aufklärungsdrohnen, auch über die Matsu-Inseln. Ein Foto zeigte kürzlich, wie taiwanische Soldaten eine solche entdecken, hilflos in die Luft gucken und nichts unternehmen. Die Regierung von Tsai Ing-wen war blamiert.
Anfang September sah sich Taiwans Premier Su Tseng-chang zum Handeln genötigt: „China lässt Drohnen in unser Land fliegen und filmt sogar Videos, die dann für interne Propaganda verwendet werden. Wir haben wiederholt gewarnt und wiederholt darum gebeten, nicht einzumarschieren und einzudringen. Das taiwanesische Volk empfindet auch Unmut über diese Aktionen.“
Erstmals hatte Taiwan nicht nur zugeschaut, das GPS der Drohnen versucht zu stören, sondern über den benachbarten Kinmen-Inseln eine vom Himmel geholt, erklärt der Premier.
„Diesmal sah sich die nationale Armee gezwungen, die betreffende Drohne in einer Verteidigungsaktion abzuschießen, nachdem Warnungen und Aufforderungen, dies zu unterlassen, ignoriert worden waren. Dies war angemessen, nachdem man geduldig war und wiederholt gewarnt hatte. Ich vertraue darauf, dass das taiwanische Volk und alle demokratischen Länder in der ganzen Welt dies für angemessen halten werden.“

Die lange Militärgeschichte der Matsu-Inseln

Matsu waren früher Garnisoninseln. Bis zu 50.000 Soldaten hatte die Regierung der Republic of China (ROC), wie Taiwan offiziell bis heute heißt, hier stationiert, um die Inseln gegen die Armee der Kommunistischen Partei zu verteidigen. Das Kriegsrecht wurde auf Matsu auch erst 1992 und damit fünf Jahre später als in Taiwan abgeschafft. Und anders als Taiwan war die Inselgruppe nie japanische Kolonie.
Die militärische Vergangenheit ist noch heute an vielen Stellen sichtbar. Beeindruckendes Zeugnis und längst eine Touristenattraktion ist der Behai-Tunnel, der Anfang der 1970er-Jahre in einen Granitfelsen gehauen wurde und mit seinen 18 Metern Höhe und 640 Metern Länge sogar Schiffe in seinem Bauch verstecken konnte. Heute kann man im Halbdunkel durch den Tunnel laufen. An anderen Stellen der Hauptinsel rotten verlassene Kasernen vor sich hin.
In dem dunklen Tunnel hängen an den Steinwänden rechts in gegelmäßigen Abständen brennende Lampen. Der Boden ist mit Wasser bedeckt.
Errichtet wurde der Behai-Tunnel auf den taiwanischen Matsu-Inseln zum Schutz von Militärschiffen vor möglichen chinesischen Angriffen. Heute ist er ein Touristenziel.© Kathrin Erdmann
Wer von Taiwan aus auf die Matsus fahren will, kann dies unter anderem per Schnellboot. Eine ruckelige, dreistündige Fahrt einmal quer durch die Taiwanstraße. Kurz nach einem Taifun ist das Meer aufgewühlt, man soll sitzenbleiben, nach einer halben Stunde übergeben sich die ersten Passagiere.

Schiffsverkehr mit China seit Pandemie ausgesetzt

Das Schnellboot fährt erst seit April und ist eines von zwei Schiffen Chen Kai-shous. Der Unternehmer hat sein Büro in einem schlichten weißen Container fußläufig vom Hafen. Er empfängt in Sportkleidung und bereitet erst mal einen Tee zu. Immer wieder schüttet er heißes Wasser, das direkt aus seiner Leitung unter dem Schreibtisch kommt über die Kännchen und das Tablett.
Schiffsunternehmer Chen Kai-shous bereitet in seinem Büro eine Kanne Tee zu. Hinter ihm ist eine Seekarte zu sehen mit den Strecken seiner Schiffe zwischen Taiwan und den Matsu-Inseln.
Schiffsunternehmer Chen Kai-shous bedauert das Ende des Schiffsverkehrs zwischen den Matsu-Inseln und dem chinesischem Festland seit 2020.© Kathrin Erdmann
Chen hat das Monopol auf den Schiffsverkehr zwischen Taiwan und den Matsu-Inseln. So wie vorher auch nach China, das ja nur einen Katzensprung weit entfernt ist. Die Verbindungen aufs Festland sind jedoch wegen der Pandemie seit mehr als zwei Jahren ausgesetzt.
„Als die Verbindung weggefallen ist, war das natürlich ein großer Schlag für uns. Die Touristen sind weggeblieben und dadurch haben viele Leute ihren Job verloren. Das sind Reiseleiter, Busunternehmer, Hotels.“
Man versuche das seitdem mit taiwanischen Touristen auszugleichen. Aber das gelänge noch nicht ganz, sagt er.

Mehrheit mit familiären Wurzeln in China

Die finanziellen Einbußen sind jedoch nur das eine. Es geht auch um menschliche Schicksale, denn zwischen den Inselbewohnern und den Festlandchinesen bestehen enge Verbindungen, eine Mehrheit hat dort familiäre Wurzeln, viele Taiwaner besitzen Immobilien in der gegenüberliegenden chinesischen Provinz. Zudem sind auf Matsu rund 200 Chinesinnen mit Taiwanern verheiratet. Auch Chen.
„Das ist ein Riesenproblem: Die Frauen sind ja in der Regel auch für die Eltern verantwortlich und müssen dann auf dem Festland die Krankenpflege übernehmen. Deshalb hoffen wir, dass die Verbindungen bald wieder aufgenommen werden.“  
Denn wer jetzt aufs Festland oder von dort nach Matsu will, muss umständlich reisen und überall noch immer in Quarantäne. Chen findet, man sollte China nicht unnötig provozieren, das bringe nichts und schließlich sei man doch eine Familie.
Auch die Friseurin Ya-Ting, die in einem anderen Dorf wohnt und gerade alle Hände voll zu tun hat mit Schneiden, Färben, Waschen, bedauert dass die Verbindungen zum Festland gekappt sind, weil sie dort oft ein paar Tage Urlaub gemacht hätte: „Das ist schade, wir haben ja nicht so viel Urlaub und Taiwan ist weit weg, nach China kann man in einem Tag hin und zurück.“
Die jüngsten Militärmanöver interessieren sie nicht, ihr Leben gehe normal weiter, so die 44-Jährige: „Ich mache mir keine Sorgen.“
Sie findet gute Beziehungen zu den USA wichtig, allerdings meint Ya-Ting: Solche hochrangigen Besucher wie Nancy Pelosi müssen nicht sein. Ob die USA Taiwan im Falle einer Eskalation direkt beispringen würden. Die Friseurin ist skeptisch: „Ich glaube nicht, dass sie uns helfen würden, sie wollen uns einfach nur Waffen verkaufen.“

Auf Matsu-Inseln regiert China-freundliche KMT

Auf der Bank in dem beschaulichen Dorf Jinsha reden Kommissar Zhang und seine zwei Freunde inzwischen über die bevorstehenden Kommunalwahlen im November in Taiwan. Während in Taipeh die demokratische Fortschrittspartei (DPP) von Tsai Ing-wen das Ruder fest in der Hand hat, sieht es auf den Matsu-Inseln völlig anders aus. Hier regiert seit Jahrzehnten die eher chinafreundliche Opposition, die jahrzehntelang an der Macht war: die Kuomintang (KMT).
Warum, dazu meint Zhang: „Die Leute sind hier politisch gesehen sehr konservativ. Man kann sagen, das ist hier mehr so etwas wie Clan- als Parteipolitik. Wir gucken nach der Person und nicht nach der Partei. Meiner Meinung nach hat die Regierungspartei hier wenig Chancen.“
Seine beiden Freunde nicken schweigend. Allerdings, auch da sind sich die drei einig, treffe das vor allem auf die Menschen ihres Alters zu: „Die jungen Leute denken anders als wir. Meine Kinder denken auch anders als ich. Unsere Generation, selbst wenn Du uns ins Feuer geworfen hättest, hätte immer noch die Kuomintang gewählt.“
Sein Sohn hingegen, der in der Hauptstadt Taipeh lebt, würde die Demokratische Fortschrittspartei von Präsidentin Tsai wählen.
Auf den Matsu-Inseln war das bisher nicht möglich, auch deshalb, weil es keine Kandidaten gab. Die Demokraten in Taipeh schienen die Insel direkt vor China irgendwie abgeschrieben oder vergessen zu haben, könnte man meinen. Doch das ändert sich jetzt. Seit zwei Jahren gibt es erstmals ein Parteibüro der DPP.

Regierungspartei will Matsu-Inseln erobern

Wen Lii und sein Parteifreund Lee Che-yu haben sich einen gelben Ballon in Fischform um die Hüften geschnallt. So sind die beiden schon von weitem gut zu erkennen. Gemeinsam haben sie Ende August öffentlichkeitswirksam die Matsu-Hauptinsel zu Fuß umrundet und sind auf der 20 Kilometer langen Strecke mit den Menschen ins Gespräch gekommen – auch über eine neue grüne Flagge, die Wen Lii und seine Mitstreiter kreiert haben.
„Die Flagge der demokratischen Fortschrittspartei zeigt normalerweise die Umrisse Taiwans. Für die Matsu-Inseln haben wir eine lokale Version entworfen. Die stellt die Inseln hier in den Mittelpunkt. Wir hoffen, dass dies die Identität und die Identifikation stärkt.“
Lii Wen stammt zwar nicht aus Matsu, hat die Inseln aber irgendwie in sein Herz geschlossen und hat durchaus Chancen, bei den Kommunalwahlen im Herbst landesweit bekannt zu werden. Der 33-Jährige kandidiert als Kreisvorsteher und schickt sich an, die KMT vom Thron zu stoßen oder ihn zumindest zum Wackeln zu bringen. Es wäre eine Sensation. Für Lii stehen die Zeichen auf Veränderung.
„Bei der Wahl 2020 hat Präsidentin Tsai hier 20 Prozent der Stimmen erhalten. Und jetzt nominieren wir erstmals Kandidaten auf der Kommunalebene, aufregend ist das.“
Der 33-Jährige Lii, ein ehemaliger Journalist, ist optimistisch, auch weil derzeit einige Korruptionsverfahren gegen Lokalpolitiker anhängig seien, so dass manch‘ langjährige Wähler der KMT darüber nachdenken würden, dieses Mal bei den Demokraten das Kreuzchen zu machen.

Junge Menschen zurück auf die Inseln holen

Lii will nicht spalten, sondern versöhnen. Für ihn ist es kein Widerspruch, auf die Herkunft aus der chinesischen Provinz Fujian oder die chinesische Kultur stolz zu sein und sich gleichzeitig gegen die kommunistische Regierung in China zu positionieren.
„Was ich durch den Austausch mit den jüngeren Leuten hier begriffen habe, ist, dass sie die Familienbande oder die Freundschaften mit den Menschen vom Festland schätzen. Das bedeutet aber nicht, dass die autoritäre Politik der Regierung dort unterstützt wird.“
Das seien auch nicht die Themen, die die Menschen wirklich interessieren. Für ihn gehe es vielmehr darum, noch mehr junge Menschen auf die Insel zurückzuholen, für sie bezahlbaren Wohnraum und attraktive Arbeitsplätze zu schaffen.
Dass Potenzial da ist und sich etwas bewegt, kann man bereits sehen. Die Matsu-Inseln verzeichnen die höchste Geburtenrate Taiwans.

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