Aus den Feuilletons

Einer wird gewinnen

04:23 Minuten
Zwei Frauen umarmen einander, eine schaut dabei auf zu den Wahlresultaten.
Wann der Sieger der US-Präsidentschaftswahl feststeht, kann man aufgrund des Wahlsystems noch nicht sagen. © Laif / UPI / Ken Cedeno
Von Arno Orzessek · 03.11.2020
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Die "FAZ" kürt den Begriff "Wahlangst" (Election Anxiety) beim zermürbenden Kampf ums Weiße Haus zum Wort der Stunde: Überall in Amerika male man sich aus, welches Chaos die Abwesenheit einer deutlichen Mehrheit nach sich ziehen könnte.
Mit einem beliebigen Tag ist es ja so: Man trifft ihn Stunde um Stunde immer weiter westlich an, weil sich die Erde halt in einer bestimmten Richtung um sich selbst und um die Sonne dreht und dabei immerzu unter dem Tag weg.
Für hiesige Zeitungen hat das alle vier Jahre missliche Folgen: Sie müssen ihre Seiten füllen, während die Wahlen in den USA gerade anlaufen und allmählich westwärts ziehen. Liegen die Blätter dann am nächsten Morgen auf dem deutschen Frühstückstisch, steht da nichts über den Wahlausgang drin, während Radio, Fernsehen und Internet gar kein anderes Thema kennen.

Keine Entscheidung am Wahlabend

In dieser prekären Situation flüchtet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG in den Konjunktiv und verkündet: "Die Vereinigten Staaten könnten heute einen neuen Präsidenten haben." Tja, das könnte man so sagen. Doch eigentlich geht Nina Rehfeld nicht davon aus, dass die Sache entschieden ist.
"Von einer angespannten Stimmung im Wahl-Amerika zu sprechen, das wäre ein Understatement. 'Election Anxiety' [Wahlangst] ist das Wort der Stunde; niemand, mit dem man auf der Straße, unter Freunden, im Supermarkt spricht, scheint davor gefeit. Denn der zermürbende Kampf um die Präsidentschaft wird nach Expertenmeinung kaum am Wahlabend – also gestern – oder auch am darauffolgenden heutigen Tag entschieden sein, und überall malt man sich aus, welches Chaos die Abwesenheit einer deutlichen Mehrheit nach sich ziehen könnte."
Wir lesen schon ziemlich lange Zeitung, aber die Formulierung "am darauffolgenden heutigen Tag" haben wir noch nie gelesen. Irgendwie ist da die Erdumdrehung mit drin – toll!

Der Präsident zum Selberfalten

Die Tageszeitung DIE WELT, ebenfalls in der Gestern-Heute-Zwickmühle, titelt ironisch "And the winner is…" - allerdings nicht im Feuilleton, sondern auf Seite 1. Kundige Redakteure haben je ein Foto von Trump und Biden in fünf Streifen geschnitten und zebrastreifenartig verbunden. Auf Bidens Hinterkopf folgt Trumps Nase, auf Bidens Schläfe folgen Trumps Krähenfüße und so weiter.
Die WELT verspricht: "Mit dieser Titelseite haben Sie definitiv ein Foto des Siegers und eines des Verlierers in der Hand. Schneiden Sie einfach das Foto aus und falten Sie es entlang der vertikalen Linien. Je nachdem, aus welcher Richtung Sie das Bild dann betrachten, sehen Sie entweder Donald Trump oder Joe Biden." In der Kita – und das spricht nicht gegen die WELT – käme so etwas sicher auch gut an.

Männer malen, Frauen werden gemalt

Doch zum "Bild der Frau". Unter diesem Obertitel untersucht die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, "wie sich Museen um die Sichtbarkeit von Künstlerinnen bemühen". Karin Janker bespricht die Ausstellung "Invitadas" ['Ungebetene Gäste'] im Madrider Prado und spießt zunächst den Missstand auf:
"Wenn Männer Frauen malen, sind diese Frauen meistens nackt, verrückt oder gerade dabei etwas wirklich Langweiliges zu tun, Sticken zum Beispiel. Die Rollenverteilung war jahrhundertelang klar: Männer malen, Frauen werden gemalt, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Museen und Maler waren Komplizen bei der Unterdrückung weiblicher Kreativität."
Mit "Invitadas" will der Prado im eigenen Haus den Umkehrschub einleiten – was nach Meinung der SZ-Autorin Janker gelingt, nach Ansicht der spanischen Kritik eher weniger. Auf derselben SZ-Seite bedenkt Catrin Lorch vor dem Hintergrund einer Londoner Ausstellung die wechselhafte Rezeption der Barock-Malerin Artemisia Gentileschi:
"Dass sie psychologisch aufmerksam und unerhört kühl operiert, übersahen Generationen. Bis es die feministischen Künstlerinnen der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts waren, die einforderten, dass sich die Kunstgeschichte und die Museen auf die Suche machen nach Frauen wie […] Gentileschi. Die jetzt, endlich, nicht nur erforscht und ausgestellt, sondern durch Ankäufe verbindlich in den Kanon aufgenommen werden."

Die unverkennbare Tilda Swinton

Sollte es einen Filmkunst-Kanon geben – Tilda Swinton hätte darin ihren Platz sicher. Entsprechend große Worte findet die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG zu Swintons 60. Geburtstag: "Sie kann vor der Kamera alles sein. Selbst wenn man sie nicht erkennt, ist sie unverkennbar."
Es wird sicher nie vorkommen. Doch sollten Sie bei unserer Presseschau jemals mit dem Schlaf kämpfen, beten Sie am besten das Stoßgebet, das der SZ als Überschrift dient: "Erlöse uns von dem Dösen."
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