Der Handel mit den Hausmädchen
22:40 Minuten
Madagaskar zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Statt zur Schule zu gehen, müssen viele junge Mädchen als Hausangestellte schuften. Sie werden von Agenturen oder auf Facebook gehandelt – nicht selten von den eigenen Eltern.
„Sie hatten ein ganz bestimmtes Kabel, mit dem sie mich geschlagen haben“, erzählt Angeline. „Sie haben es jedes Mal benutzt. Während ich bei ihnen war, haben sie mich jeden Tag geschlagen. Und ich habe jede Nacht geweint. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Überall auf der Haut waren Narben. Die haben so unfassbar wehgetan.“
Das Mädchen sitzt auf der Kante ihres Bettes. Die zarten Hände liegen in ihrem Schoß, fast regungslos, während sie ins Leere starrt. Die Schultern hängen tief, ihre nackten Füße streichen leicht über den Holzboden. Angeline ist klein und dünn, fast schon zerbrechlich.
Obwohl sie 16 Jahre alt ist, sieht sie aus wie ein Grundschulkind. Immer wieder blitzt eine Zahnlücke hervor, während sie erzählt, was sie in den letzten fünf Jahren erlebt hat: „Ich habe nur einmal pro Tag etwas zu Essen bekommen. Und wenn es vergammelte Reste gab… Anstatt sie wegzuschmeißen, musste ich sie essen. Obwohl ich sehr krank geworden bin, musste ich weiterarbeiten und alles alleine erledigen. Ich musste mich um die Kinder kümmern, sie zur Schule bringen und wieder abholen. Feuer machen, kochen, das ganze Haus putzen und die Wäsche mit meinen Händen waschen.“
Kein Tag ohne Misshandlungen
Nicht einen Cent hat sie bekommen. Angeline war elf Jahre alt, als ausgerechnet ihre Schwester und deren Ehemann sie in die Hauptstadt von Madagaskar – Antananarivo – lockten. Knapp drei Millionen Menschen leben hier, der Inselstaat selbst zählt 25 Millionen Bewohner. Im Zentrum der Hauptstadt leben meist die ärmeren Menschen – es ist dreckig, überfüllt und stickig.
Viele Leute leben hier auf der Straße, auch Kinder. Oben in den Bergen ist es ruhiger, die Häuser netter. Wer hier wohnt, hat oft Hausangestellte. Trotzdem spürt man die Armut an fast jeder Ecke. Seit Angeline hierher kam, ist kein Tag vergangen, an dem sie nicht misshandelt wurde.
Dass ein Familienmitglied die Mädchen in die großen Städte holt, passiert oft. Meist mit der Aussicht auf ein besseres Leben und dem Versprechen, dort endlich zur Schule zu gehen.
Es gibt aber auch offizielle Agenturen, die die Minderjährigen vermitteln oder ganz einfach: Facebook-Gruppen. Hier bieten Eltern ihre Töchter an, man verhandelt, macht Schnäppchen. Zehn Euro kostet ein Hausmädchen pro Monat durchschnittlich. Der Mindestlohn liegt umgerechnet eigentlich bei 32 Euro. Fast die Hälfte der Mädchen sind zwischen zehn und zwölf Jahre alt, wenn sie das erste Mal als Hausangestellte arbeiten.
„Die Mädchen würden nie zur Polizei gehen“
Rund 50 Mädchen sitzen an großen Holztischen im Speisesaal. Aus buntem Stoff nähen sie Untersetzer, kleine Taschen und Tischdecken. Eine junge Frau spielt Gitarre, fast alle singen mit. Einige haben selbst schon Kinder, die zwischen den Stühlen herumkrabbeln. Sie alle leben im Akany Avoko Faravohitra, ein Heim für junge Frauen in der Hauptstadt Antananarivo. Es ist eines der nur wenigen Zufluchtsorte für Mädchen in ganz Madagaskar.
Die Leiterin Hanta Randrianarimalala kennt die traumatischen Erlebnisse, die die Heimbewohnerinnen mitbringen. Sie erzählt: „Wenn ein Mädchen in Madagaskar gut behandelt wird, ist das nicht normal. Wenn du ein Mädchen schlecht behandelst, das ist normal. Und wenn eine Familie nett zu dem Mädchen ist, denkt sie sich manchmal: ‘Was ist da los? Was wollen die von mir? Das ist nicht normal.’ Deshalb reden die Leute hier überhaupt nicht mehr darüber, weil es so normal ist. Die Mädchen würden niemals zur Polizei oder zum Richter gehen und sich darüber beschweren, dass sie misshandelt werden.“
Immer wieder schaut Hanta rüber zu ihrem Heim, als müsse sie die Kinder jederzeit beschützen. Sie steht oben im Garten, an eine Mauer gelehnt. Unter ihr ein Volleyballfeld, ein Sandkasten, überall laufen Hühner. Hanta ist klein, vielleicht einen Meter fünfundfünfzig und stämmig gebaut. Vor vier Jahren hat sie das Heim gegründet, sie kümmert sich um Spenden und ist die wichtigste Ansprechperson für die Mädchen. Viele davon sind ehemalige Hausangestellte, die es geschafft haben, ihren Gastfamilien zu entkommen. Doch ohne Hanta wären die meisten hier wohl im Gefängnis.
„Denn anstatt die Mädchen zu bezahlen, beschuldigen sie sie, Geld geklaut zu haben, oder Schmuck. Dann rufen sie die Polizei. Die Polizei gibt den Fall dann weiter an den Richter, der die Mädchen dann hierher schickt, während sie auf ihr Verfahren warten. Die meisten Mädchen sind danach frei“, erzählt Hanta.
Im Gefängnis – weil der Lohn eingefordert wurde
So wie bei Malala. Um ihre Familie zu entlasten, hat die 16-Jährige fünf Monate als Hausmädchen geschuftet. Sie sollte die Kinder zur Schule bringen und wieder abholen. Doch dann kamen immer mehr Aufgaben hinzu: 15 Stunden pro Tag musste sie putzen, waschen, im Garten arbeiten, Feuer machen. Bis sie es nicht mehr ertragen habe, sagt sie.
„Am Ende des Monats habe ich immer nach meinem Gehalt gefragt. Aber sie meinten immer, dass sie gerade nicht genug Geld hätten, um mich zu bezahlen. Nach einer Weile habe ich dann gesagt, dass ich gehen will, weil sie mir kein Geld gegeben haben.“
Doch statt ihr Gehalt bekam sie eine Anzeige – wegen Diebstahl. Ihre Arbeitgeber beschuldigten sie, ein Handy geklaut zu haben. Dass sie eine Minderjährige zu Hause beschäftigten, war den Behörden egal. Sie erzählt: „Also haben sie mich mit zur Polizei genommen. Der Polizist hat dann gefragt, ob ich das Handy geklaut habe. Ich habe ‘nein’ geantwortet. Dann hat er mich mit einem Gürtel geschlagen. Von Mittwoch bis Samstag war ich eingesperrt und habe nichts zu Essen bekommen.“
Anstatt ihre Haftstrafe im Gefängnis abzusitzen, hat Malala einen Platz bei Hanta im Akany Avoko Faravohitra bekommen. Ein Glücksfall, denn in den meisten Regionen in Madagaskar gibt es keine Heime. So warten viele Kinder teils jahrelang in Gefängnissen auf ihr Gerichtsverfahren – meist ohne Betten, Decken, Fenster oder Toiletten in ihren Zellen.
Eines der ärmsten Länder der Welt
Doch warum landen überhaupt so viele madagassische Mädchen in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen? Ein Grund: Die große Armut auf der Insel. Rund 75 Prozent der Bevölkerung lebt von weniger als 1,90 Dollar pro Tag. Damit gehört Madagaskar zu den ärmsten Ländern der Welt. Es ist außerdem das einzige Land ohne Krieg, in dem die Menschen heute ärmer sind als noch vor 60 Jahren. Das BIP ist um über 40 Prozent gesunken.
Dabei erhält kaum ein Land so viel internationale Unterstützung wie Madagaskar. Doch das Geld versickert, es kommt nicht bei den Menschen an. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 gibt es immer wieder wechselnde Regierungen. Auch der seit gut einem Jahr amtierende Staatspräsident Andry Rajoelina schafft es nicht, Stabilität herzustellen und die Korruption einzudämmen.
Hanta erklärt: „Wenn die Eltern kein Geld haben, schicken sie die Mädchen in die Stadt, um dort zu arbeiten. Die Kultur im Süden ist so: Wenn man kein Geld hat, muss man überlegen, wer von den Kindern zur Schule gehen darf. Die Eltern entscheiden sich immer für die Jungen. Die Mädchen sind dafür gemacht, im Haushalt zu arbeiten.“
Doch auch die generelle Einstellung der Eltern sei Schuld, sagt sie: „Es ist die Aufgabe der Eltern, Geld für ihre Kinder zu verdienen. Es ist nicht die Aufgabe der Kinder, Geld für ihre Eltern zu besorgen.“
Die meisten Hausangestellten kommen aus ländlichen Regionen. Hier ist die Armut oft größer als in den Städten. Viele Menschen leben hier von der Landwirtschaft, doch im Süden herrscht seit fünf Jahren extreme Dürre. Außerdem ziehen brutale Banden durch das Land, die Dörfer terrorisieren und Zebu-Rinder rauben.
Ein Monatslohn von zwölf Euro
Am Rande von Tuléar, einem Ort im Südwesten der Insel, lebt Mirasoa mit ihrem Freund und fünf Kindern in einer Wellblechhütte – auf etwa zehn Quadratmetern ohne Strom und Wasser. Direkt nebenan: eine kleine Straße auf der Fahrräder und Tuk Tuks fahren. Der Boden ist schlammig, die Luft riecht nach Rauch. Fliegen kreisen um die vielen Händler am Straßenrand, während Kinder in zerrissener Kleidung im Müll nach Essbarem stochern.
Mirasoa und ihre Tochter Terantsoa waschen gemeinsam die Kleidung ihrer Familie. Das Wasser hat sich dunkel gefärbt, fast schwarz. Die Wäscheleine schlapp über den Dächern zweier Hütten. Gerade erst ist Tochter Terantsoa zurückgekehrt. Auch sie musste als Hausangestellte in der Hauptstadt arbeiten.
Ihre Mutter erzählt, warum: „Wir leiden hier. Deshalb habe ich meine Tochter zum Arbeiten weggeschickt. Ich habe ihr gesagt, dass sie was aus ihrem Leben machen soll. Sie ist schon eine junge Frau und kann ihren Eltern helfen, so wie es sich für junge Frauen nun mal gehört. Wir mussten uns auch immer um unsere Eltern kümmern. Jetzt ist sie an der Reihe.“
Ihr Gehalt – umgerechnet etwa zwölf Euro – hat Terantsoa jeden Monat an ihre Familie geschickt. Doch obwohl ihr Arbeitgeber sie gut behandelt hat, nahm auch sie schnell den Bus zurück nach Hause. Das Heimweh war zu groß. Eine Entscheidung, die nicht einfach war. Denn seit ihrer Rückkehr ist das Leben für Terantsoa noch schwieriger als zuvor. Jetzt muss sie draußen schlafen, alleine unter einer Plastikplane. Ihr Stiefvater hat sie rausgeworfen.
Solche Reaktionen erlebt auch Hanta immer wieder, wenn sie Kindern aus ihrem Heim helfen will: „Wenn ein Mädchen endlich frei ist und zurück nach Hause kommt, sagen die Eltern oft, dass sie wieder arbeiten gehen soll. Wenn sie dann ‘nein’ sagt, schlagen sie das Mädchen und schicken es fort. Das ist nicht einfach. Manchmal habe ich das Gefühl, Familien zu trennen. Die Arbeit mit den Eltern ist eine große Herausforderung!“
Sexueller Missbrauch ist an der Tagesordnung
Die noch größere Herausforderung aber ist, den Mädchen dabei zu helfen, ihre Traumata zu bewältigen. Jede dritte Hausangestellte, die zu Hanta ins Heim kommt, wurde in ihrer Gastfamilie sexuell missbraucht.
Zuflucht finden die Mädchen meist zuerst im Centre Vonjy. Es ist die einzige Klinik für minderjährige Vergewaltigungsopfer in der Millionen-Hauptstadt. Telina Rakotonarivo arbeitet hier als Sozialarbeiterin. Die Wände ihres Behandlungszimmers sind kahl, die blaue Farbe daran fleckig. Ihr gegenüber sitzt ein junges Mädchen mit ihrem besorgten Vater. Ihr gelingt es kaum zu sprechen.
Über 700 Kinder kamen 2018 hierher. Doch nicht alle schaffen den Weg in die Klinik. Die Zahl der eigentlichen Opfer sei deshalb viel höher. Telina erinnert sich vor allem an eine zwölfährige Hausangestellte, die zu ihr kam. Sie erzählt:
„Jeden Abend als der Mann betrunken nach Hause kam, hat er das Mädchen vergewaltigt. Vor seiner Frau und seinen Kindern, weil es nur einen Raum gab. Nach einiger Zeit war die Frau dann so eifersüchtig, dass sie das Mädchen mit einem heißen Löffel und mit Holzkohle verbrannt hat. Das ist unglaublich heiß, glauben Sie mir! Sie hat ihren ganzen Körper verbrannt. Ihr Gesicht und ihre Ohren verunstaltet. Zum Glück konnte das Mädchen fliehen. Eine Nachbarin hat sie dann zu uns gebracht.“
Zu diesem Zeitpunkt war die Zwölfjährige bereits schwanger.
Die Regierung greift nicht durch
Was in Madagaskar hinter geschlossenen Türen passiert, ist kein Geheimnis. Selbst Angestellte großer internationaler Organisationen beschäftigen Minderjährige privat zu Hause, erzählt eine UNICEF-Mitarbeiterin, die nicht namentlich genannt werden möchte. Und trotzdem: Die Regierung greift nicht durch. Zwar werden Abteilungen aufgestockt, Mitarbeiter geschult, etwas Geld investiert – doch die Korruption siegt auch hier. Oft stecken Polizei und Gastfamilien unter einer Decke. Das zeigen auch die Zahlen aus dem Centre Vonjy:
Nach der ärztlichen Untersuchung meldet die Klinik die Sexualverbrechen der Polizei für Moral und Jugendschutz. 2018 wurden 202 Personen verurteilt, 108 kamen gegen Kaution wieder frei. Dabei gab es mehr als 700 bestätigte Fälle.
In Hantas Heim ist die Prävention deshalb am wichtigsten. Sie sagt: „Wir arbeiten sehr hart daran, dass die Mädchen nie wieder in solchen Situationen landen. Ich erkläre ihnen, dass es auch andere Wege gibt, um Geld zu verdienen. Und dass sie ein Recht darauf haben, zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen. Das größte Problem ist, wenn die Mädchen nicht mehr an sich und ihre Zukunft glauben.“
„Alles ist eine Herausforderung in Madagaskar – alles“
In einem kleinen Haus mit rosa Wänden, direkt an einem Berg mit bestem Blick über die Hauptstadt Antananarivo, dröhnen pausenlos die Geräusche mehrerer Föne. Zwei Mädchen sitzen auf Stühlen vor einem Spiegel. Ihre Blicke folgen jeder noch so kleinen Bewegung der jungen Frauen hinter ihnen. Mit Bürsten und heißer Luft ziehen sie so lange an den krausen Haaren, bis sie glatt sind.
Diese Mädchen sollen bald als Friseurinnen arbeiten. Andere lernen Kochen oder sie kellnern im „Social Restaurant“, das Hanta vor einigen Wochen neben ihrem Heim eröffnet hat. Doch die meisten Kinder müssen erst einmal Lesen und Schreiben lernen. Denn die wenigsten hier haben jemals eine Schule besucht. Ihr größter Ansporn: Hanta selbst.
„Ich war in genau der gleichen Situation als ich klein war. Wenn ich nicht in so ein Heim gekommen wäre, hätte ich das alles nicht geschafft“, sagt Hanta. „Und wenn ich das geschafft habe, warum sollten die Mädchen nicht auch etwas aus ihrem Leben machen? Wenn wir Sozialarbeiterinnen uns alle zusammentun würden – davon träume ich nachts – und dann der Regierung etwas vorschlagen würden… Aber alles ist eine Herausforderung in Madagaskar… alles… alles…“
Und dennoch: Sie glaubt fest daran, dass sie und alle anderen Frauen auf der Insel irgendwann einmal ein besseres Leben haben werden.