LGBTI-Community und Corona

Wenn Safe Spaces schließen müssen

07:59 Minuten
Ein Mann bedeckt sein Gesicht mit regenbogenfarbenen Händen.
Beratungsstellen für queere Menschen können in der Coronakrise nur eingeschränkt arbeiten. © imago images / fStop Images / Malte Müller
Von Jonas Ochsmann · 05.10.2020
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Queere Menschen sind durch die Coronakrise besonders von Einsamkeit und Isolation betroffen. Viele Treffpunkte und Hilfsangebote wurden geschlossen. Gerade in kleinen Städten und auf dem Land gibt es für die Betroffenen dann keine Alternativen.
Eine verrauchte Eckkneipe in Berlin-Neukölln. Es ist 20 Uhr. Gleich wird die Show der Draqqueen Karlie Kant losgehen. Es scheint, als würden sich die knapp 50 Besucherinnen und Besucher freuen, wieder mal rauszukommen. Das Publikum, alle zwischen 20 und 40 Jahre alt, versucht auf den Abstand zu achten. Niemand steht. Getränke werden vom Platz aus bestellt.
"Ich glaube, es ist einfach ein schöner Ort, um für Leute zusammenzukommen, die einfach in ihrem Alltagsleben sonst herausstechen." Hinter der Bühne macht sich Robin, 30 Jahre alt, für seinen Auftritt fertig. Noch ist er damit beschäftigt, sich die Perücke aufzusetzen, die Schminke aufzutragen – sich in Karlie Kant zu verwandeln. "Und dort können wir unter uns sein und das an uns feiern, wofür uns andere auf die Fresse schlagen wollen."

Rückzugsorte sind weggebrochen

Für Robin ist seine Kunstfigur Karlie Kant eine Möglichkeit, sich außerhalb des Alltags auszuleben. "Karlie Kant ist ein Showgirl mit einer großen Nase und noch größeren Träumen. Dadurch, dass ich mir selber eine äußerlich andere Form gebe, können andere Teile in mir noch krasser ausgelebt werden, die sonst irgendwie köcheln. Und jetzt sind sie am Kochen."
Seit ein paar Jahren tritt Karlie auf, heute zum ersten Mal in ihrer eigenen Show, nicht als Gast bei anderen Draqqueens. Der heutige Abend aber ist auch deswegen besonders, weil es durch die Coronapandemie seit dem Frühjahr überhaupt keine Auftritte mehr gegeben hat. "Für Drag-Performer war es mega einschneidend. Es ist eigentlich so gut wie alles weggebrochen."
Abgesagte Events, geplatzte Gagen – wie für viele Menschen in der Kulturszene war die finanzielle Absicherung erst mal weg. Aber für die queeren Szenen sind auch Rückzugsorte weggebrochen. Für Robin war es deshalb wichtig, unter den aktuellen Corona-Bestimmungen wieder eine Show stattfinden zu lassen. "Ich habe es jetzt im Endeffekt so gemacht, dass wir das in zwei Abenden hintereinander gemacht haben, einfach um zu vermeiden, dass wir Hunderte von Leuten in einer Bar reinquetschen müssen."

Viele zeigen sexuelle Orientierung nicht offen

In Berlin gibt es eine vielfältige queere Subkultur. In kleineren Städten oder ländlichen Gegen sieht das anders aus. Queere Lebensweisen werden immer noch schief angesehen, viele nicht-heterosexuelle Menschen erleben Gewalt in ihrem Alltag. Eine neue Studie einer EU-Behörde hat gezeigt, dass fast die Hälfte der LGBTI-Personen in Deutschland ihre geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung nicht offen zeigen.
Martin Wunderlich wohnt in Dresden, er arbeitet im Dachverband der queeren Vereine in Sachsen. Für ihn ist Diskriminierung ein Grund, warum viele Menschen der LGBTI-Community sich in der Coronazeit besonders isoliert gefühlt haben.
"Das haben wir in Sachsen ganz besonders gespürt. Gerade dort, wo beispielsweise die bestehenden Kontaktbeschränkungen es nicht möglich gemacht haben, dass sich Selbsthilfegruppen und Unterstützungsnetzwerke weiterhin so treffen konnten oder tätig sein konnten wie bisher. Da war das natürlich für die Menschen, die darauf angewiesen sind, eine enorme Belastung. Und das spiegelt sich natürlich auch in wachsenden Zahlen von Depressionen, Angsterkrankungen oder zum Teil auch in häuslicher Gewalt nieder. Das muss man ganz klar so sagen."

Mehr Arbeit für Beratungsstellen

Angebote, um queeren Menschen bei ihren Problemen zu unterstützten, mussten durch die Coronakrise eingestellt oder auf kontaktlose Beratungen umgestellt werden. Workshops und Veranstaltungen sind ausgefallen. Das brachte auch die Vereine in eine finanziell prekäre Lage. "Viele können nicht auf Rücklagen zurückgreifen und müssen nun mit den zusätzliche Einnahmeneinbußen zurechtkommen. Für viele ist das eine existenzbedrohende Situation."
Dabei haben die Vereine jetzt besonders viel zu tun. Beratungen am Telefon wurden während des Lockdowns vor allem von Menschen in ländlichen Regionen stark nachgefragt. Aber in der aktuellen sächsischen Haushaltsdiskussion über den Umgang mit der Coronakrise wird die Finanzierung der queeren Beratungs- und Bildungsprojekte vom CDU-Finanzminister infrage gestellt. "Und das ist gerade eine sehr paradoxe Situation, wenn man eigentlich jetzt Mehrbedarf anmeldet und mehr Förderung braucht und gleichzeitig aber auch das Damoklesschwert von massiv eingekürzten Förderungen über den Köpfen hängen hat".

Auch heute gibt es noch viel Homofeindlichkeit

Marie, 25 Jahre alt, aus Halle, gerade mit dem Jura-Studium fertig, ist Mitglied einer selbstorganisierten queeren Gruppe, den Queerulanten. "Ich hatte in der Berichterstattung und der öffentlichen Diskussion den Eindruck, dass queere Vereine ganz unten auf der Liste von Dingen stehen, die man jetzt irgendwie retten muss. Aber diese Vereine sind einfach Safe Spaces für Leute, die woanders nicht sie selbst sein können. Und man muss halt anerkennen, dass es auch heute noch in der Gesellschaft viel Homo- und Transphobie gibt. Und deswegen ist eben die Finanzierung von queeren Vereinen immer noch essenziell notwendig. Und ich hoffe wirklich, dass das jetzt bei der Coronakrise nicht herunterfällt."
Die prekäre Lage durch Corona betrifft viele soziokulturelle Projekte. Marie kann aus erster Hand erzählen, welche besondere Bedeutung lokale queere Vereine in kleineren Städten und ländlichen Gegenden haben. "Für mich ganz persönlich war es halt ziemlich cool, damals Leute kennenzulernen, die eben ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich, weil ich damals auch bei meiner Familie nicht geoutet war."

Ein wichtiger Begegnungsort

Die Gruppe Queerulanten versteht sich als Austausch- und Erfahrungsraum für junge Menschen, die sich als homo-, bi- oder transsexuell bezeichnen oder noch in der Findungsphase ihrer eigenen Identität sind. "Und mir hat auch neulich eine Person aus unserer Gruppe gesagt, dass sie nur hier erstmal sie selbst sein kann. Die Person ist zum Beispiel gerade am Anfang ihrer Transition und meinte auch, dass sie sich woanders gar nicht trauen würde, mal andere Klamotten anzuziehen oder sich mit anderen Pronomen ansprechen zu lassen."
Die Gruppe ist auch ein wichtiger Begegnungsort für junge queere Menschen aus den Kleinstädten der Umgebung – wie Merseburg oder Köthen. "Und dann sind wir eigentlich eine bunte Truppe aus Schülern und Schülerinnen und Studierenden und manche arbeiten schon. Wir unterhalten uns hier über alle Dinge, über die sich junge Leute auch sonst unterhalten. Aber natürlich sind es auch Themen wie Transition oder wenn jemand ein Date hatte oder wenn jemand sich outen möchte und Probleme in der Schule hat, die hier besprochen werden." Durch Corona war dieser Begegnungsraum ab März lange geschlossen – das hat gerade bei den Jüngeren für Probleme gesorgt.
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