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Gemütlicher Schauerroman aus dem literarischen Leben

Die düsteren Unterströmungen der Normalität schildert die Autorin Louise Welsh anhand eines Literaturprofessors auf Forschungsreise zu einem Hippie-Poeten - und zu sich selbst. Der Roman lässt sich in keine Schublade einordnen.

Von Brigitte Neumann | 04.03.2011
    Was "Das Alphabet der Knochen" alles nicht ist: Es ist kein Page-Turner, kein Buch, das man verschlingen würde. Es hat kein spektakuläres Thema und es kommt nichts Extremes vor: nichts Ekliges, keine Gewalt, kaum Kraftausdrücke. Falls es ein Krimi ist, dann einer, in dem das Böse keine Rolle spielt oder höchstens in homöopathischen Dosen. Hat es einen Höhepunkt? Irgendwie ja, aber der ist so geheimnisvoll, dass er auch die Auflösung in Mitleidenschaft zieht.
    Louise Welshs neuer Roman hat andere Qualitäten. Sie bringt die düsteren Unterströmungen der Normalität ganz lapidar zur Sprache, zum Beispiel. Die Autorin über das, worauf es ihr ankommt:

    "Das Detail ist wichtig. Und manchmal, wenn ich Bücher lese, oder auch, wenn ich mir Kunst anschaue, dann möchte ich, dass ich die Welt anders zu sehen bekomme. Und zwar so, dass ich denke: Genau, das wusste ich doch eigentlich auch. Aber ich konnte es vorher noch nicht so sehen. Aber ich will auch, dass Bücher unterhaltend sind. Dass sie die Leser mit sich forttragen. Denn der Kern jedes Romans ist eine Geschichte. Es kommt auf die Story an. Als ich ein Kind war, erinnere ich mich, erklärte sich die ganze Welt durch Geschichten. Und daran glaube ich bis heute. Zum Beispiel wenn ich mit meiner Oma einkaufen ging, dann traf sie jemanden unterwegs und sie erzählte ihm alles, was wir an diesem Morgen bereits getan hatten. Ich war erstaunt: Was? War der Morgen wirklich so aufregend?"

    Geschichten erzählen kann die 45-Jährige, das hat sie bewiesen mit ihrem Debut "Dunkelkammer", und jetzt mit "Das Alphabet der Knochen". Auch wenn sie in ihrem aktuellen Roman Spannung neu definiert: etwa als verlangsamtes Einsinken in Sümpfe der Normalität. Das mag zwar nicht atemberaubend sein, lässt einen aber auch nicht mehr los.

    Ihr Held ist Dr. Murray Watson, Mittdreißiger, Single und Dozent der Literatur an der Glasgower Universität. Er hat sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet und alles erreicht, was er sich je vornahm. Aber trotzdem, das Leben scheint ihm insgesamt doch enttäuschend.

    Es soll ja Literaturdozenten geben, die bei ihren Studenten damit werben, dass man am Ende nicht nur ein Zertifikat erhält, sondern an ihrem Fachbereich auch gleich die Midlife-Crisis hinter sich bringen kann. Murray Watson hatte vermutlich nicht einmal eine Pubertät. Aber auf der Suche nach Lebendigkeit erinnert er sich eines Moments der Leidenschaft. Nämlich als er 16 war und die Gedichte Archie Lunans las, eines Glasgower Hippies, der mit 31 unter mysteriösen Umständen vor der schottischen Insel Lismore ertrank. Watson beantragt ein Forschungsjahr, denn er will zur Ehrenrettung des vergessenen Poeten seine Biografie schreiben. Allein – der Nachlass in einem Schuhkarton gibt nichts her. Da aber die Affaire mit der Gattin des Fachbereichsleiters sowieso ausläuft, packt Watson seine Sachen und reist nach Norden, auf die Insel, vor deren Gestaden Lunan einst ertrank. Louise Welsh:

    "Das ist eine Reise auf vielen Ebenen. Er entdeckt sich selbst und er entdeckt neue Räume und Landschaften. Das gehört ja häufig zusammen. Murray muss über etwas hinwegkommen, eine Trauer. Und er kriegt heraus – wie viele von uns im Laufe ihres Lebens – dass er gar kein so schwacher Mensch ist, wie er dachte. Er war ja ein wenig verzweifelt, mochte sich nicht. Und für ihn ist es wichtig, sich mit der eigenen Person zu versöhnen."

    Louise Welsh, das ist eine weitere Qualität nicht nur dieses Romans, hat eine besondere Sicht auf die Menschen: Sie nimmt ihnen kaum etwas übel. Weder Betrug noch Mord, ihren Gestank nicht, ihre Angst und Spießigkeit, ihre Süchte nicht und auch nicht ihre schlecht kaschierte Not. Sodass man beim Lesen das Gefühl hat: Diese Autorin mag Menschen - unter allen Umständen. Das gibt ihren Romanen diesen friedlichen Ton.

    In ihrem Erstling "Dunkelkammer" zum Beispiel hat Rilke, ein schwuler Griesgram und Mann für Haushaltsauflösungen aller Art, plötzlich mit Porno-Bildern der furchtbarsten Sorte zu tun. Welsh erzählt davon, als würde sie bei einer Touristenführung durch die Kanalisation ein wenig im Bodensatz stochern: So what? Perversionen gehören zum Leben.

    Im "Alphabet der Knochen" spielen Sex and Crime eher eine nebensächliche Rolle. Dr. Murray Watson, ein Mann ohne Eigenschaften, blüht auf, als er seine Recherche zum Tod Archie Lunans beginnt. Eine Reise, einmal ins Herz der Finsternis der Hippie-Ära, aber viel wichtiger: eine Reise ins Innere seiner eigenen Verzagtheit. Eine Reise auch auf eine Insel vor der schottischen Westküste, wo es in wahrhaft apokalyptischem Ausmaß regnet.

    "Ich glaube, das Wetter spiegelt in diesem Buch wieder, wie Murray sich fühlt. Er ist der Mann, über dem eine dunkle Wolke hängt, aus der es heftig regnet."

    Welsh hat mit "Das Alphabet der Knochen" einen unheimlichen und gespenstisch langsamen Roman geschrieben, über dessen Genrezugehörigkeit man rätseln kann: Ist das ein Campus-Roman? Ein Schauerroman? Ein Krimi? Oder alles auf einmal? In englischen Zeitungen wurde bereits die Forderung laut, Louise Welsh solle sowohl für den wichtigsten Krimi-Preis, den Golden Dagger als auch für den großen Literatur-Preis Man Booker nominiert werden.

    "Es ist sehr schön, wenn Leute solche Sachen über einen sagen. Aber ein Schriftsteller sollte einfach zu Hause bleiben und weiter arbeiten. Er sollte dem, was man über ihn sagt, nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Das trifft auch auf die Einordnung der Literatur zu. Menschen klassifizieren Dinge, damit sie besser darüber reden können. Aber das braucht den Schriftsteller nicht zu interessieren. Der Schriftsteller soll nur schreiben, was er schreiben will und keinen Gedanken daran verschwenden, in welche Schublade sein Text wohl passt."

    Und der nächste Roman ist bereits in Planung. Bis der erscheint, haben wir "Naming the Bones" – "Das Alphabet der Knochen" von Louise Welsh.

    Am ehesten ist es doch wohl ein gemütlicher Schauerroman aus dem literarischen Leben - unter besonderer Berücksichtigung sämtlicher Witterungserscheinungen, Pegelstände und Bodenbeschaffenheiten in Nordwestschottland. Allein dieses Setting spricht dafür, Welshs Buch eines der grauen Wochenenden zu opfern, die unmittelbar bevorstehen.

    Buchinfos:
    Louise Welsh: Das Alphabet der Knochen; Kunstmann Verlag
    Roman, 432 Seiten, 22 Euro