Dienstag, 30. April 2024

Archiv

Konferenz
Umgang mit den NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit

Auf der fünften internationalen Konferenz zur Holocaustforschung in Berlin wurde kritisch zurückgeschaut - auf den Umgang mit den NS-Verbrechen in der Zeit zwischen 1945 und 1949. Oft gilt die Aufarbeitung in den Nachkriegsjahren als gescheitert. Aber ist das so?

Von Bettina Mittelstraß | 29.01.2015
    "Wir sind heute mit bestimmten Narrativen des Holocaust groß geworden. Es ist uns selbstverständlich, dass der Nationalsozialismus mit dem zentralen Massenverbrechen, dem Mord an den europäischen Juden verbunden wird."
    Doch am Anfang war Chaos. Deutschland war besiegt, die Alliierten hatten die Besatzungsherrschaft übernommen. Millionen von den Nazis verschleppte Menschen - jüdische Überlebende, Zwangsarbeiter, sowjetische Kriegsgefangene - waren zunächst einmal befreit. Das Aufräumen mit den Verbrechen konnte beginnen - nur wie?
    "Damals hat viele Leute erst mal - eben Millionen - interessiert, erst mal nach Hause zu kommen. Während aber in den jüdischen Camps der sogenannten "Displaced Persons" schon begonnen worden ist, diese Geschichte aufzuschreiben. Also wo sich eine historische Kommission gebildet hat, die angefangen hat, Geschichten, Erinnerungsberichte, Dokumente zu sammeln, Fotografien zu sammeln. Und da hat die Forschung, muss man sagen, lange, lange Jahre gebraucht, um diese frühen Zeugnisse nun zu sehen, wahrzunehmen und in die Forschung auch einzubeziehen." Professor Michael Wildt, Historiker an der Humboldt-Universität zu Berlin.
    Sie beginnt gerade erst: nicht die Aufarbeitung des Holocaust, sondern die Geschichte der Aufarbeitung des Holocaust. Man schaut historisch kritisch auf ihre Anfänge und beginnt zu reflektieren, was die Aufarbeitung der Verbrechen unmittelbar nach Kriegsende denn nun geleistet hat oder nicht. Oft gilt die Aufarbeitung als gescheitert. Aber ist das so? Vor rund 500 angemeldeten Besuchern schauten die Teilnehmer der fünften internationalen Konferenz zur Holocaustforschung in Berlin kritisch zurück: in die unmittelbare Erfahrungswelt von Millionen Menschen zwischen 1945 und 1949, die nach dem Krieg mit dem Holocaust konfrontiert waren. Die Historikerin Ulrike Weckel, Professorin an der Universität in Giessen:
    "Wir haben viel Scham darüber, dass die Vergangenheitsbewältigung nicht schneller in Gang gekommen ist, nicht umfassender war, nicht so, wie wir es uns gewünscht hätten."
    Filmmaterial der Alliierten
    Mittel zur Aufklärung waren damals nicht die ersten Schilderungen der Überlebenden, sondern zum Beispiel die grauenhaften Filmaufnahmen der alliierten Befreier in den Konzentrationslagern - aus denen Filme entstanden wie "Todesmühlen" oder später "bei Nacht und Nebel". Fast jeder kennt heute die Bilder von den Leichenbergen. Angeblich hat die Schockpädagogik aber damals versagt.
    "Darüber ist viel naseweises Räsonieren über das, was damals alles falsch gemacht wurde, entstanden - sei es die alliierten Kameramänner, die das Falsche und unmenschlich und hartherzig gefilmt haben, sei es diejenigen, die die Kommentare geschrieben haben, die es falsch gemacht haben. Seien es die Deutschen, die es nicht ordentlich rezipiert haben."
    Ulrike Weckel rekonstruierte die damalige Erfahrungswelt genauer und zeigt zum Beispiel, dass es keinen Zwang gab, in diese Filme zu gehen. Trotzdem waren die Kinos voll. Was bedeutet das?
    "Wir machen ja immer noch die Erfahrung, dass - also im Falle der Atrocity Filme - einen die schlicht überwältigen. Also danach einen intelligenten Satz zu sagen, das soll mir mal einer vormachen. Das würde uns heute nicht so ganz anders gehen. Die Zeitgenossen werden aber an dem Maßstab gemessen, wie sie doch bitteschön sofort spontan sich hätten bekehren sollen und nun wackere Antifaschisten oder Antinazis werden."
    Der Blick in die unmittelbaren sozialen Erfahrungswelten soll keineswegs Verhalten entschuldigen, im Gegenteil. Vielleicht hat viel besser gewirkt, was alles an Aufklärung unmittelbar nach dem Krieg in Gang gesetzt wurde, als wir meinen. So liest man zum Beispiel auch oft in der Forschung zu den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen, der Judenmord habe da nur eine marginale Rolle gespielt. Eindrucksvoll widerlegte die Historikerin Alexa Stiller von der Universität Bern diese viel geteilte These mit einem kritischen Blick in die Protokollbände.
    Der Persilschein und die Entnazifizierung
    Auch die Historikerin Hanne Leßau, die ihre Doktorarbeit an der Universität Bochum über die Entnazifizierung schreibt, kommt nicht auf das übliche Urteil der historischen Forschung. Die besagt oft, die Entnazifizierung sei ein gescheitertes Experiment, weil sich die Verbrecher zum Beispiel gegenseitig eine weiße Weste bescheinigt hätten - mit dem sogenannten "Persilschein". Stimmt so nicht, sagt Hanne Leßau.
    "Mich hat zum Beispiel bei dem Persilschein vor allen Dingen interessiert mal wirklich - das hat noch niemand gemacht - zu fragen: Wie ist das abgelaufen? Wie sind Leute zu anderen hingegangen und haben gefragt, wie macht man das? Wie fragt man um sein Zeugnis? Und das ist insgesamt sehr interessant, weil eigentlich sehr viele gängige Vorurteile - und ich nenne das auch nicht Persilschein - sich nicht bestätigen einfach. Es ist komplizierter für die Leute. Es ist nicht angenehm, Leute darum zu bitten. Und es gibt sehr viele Grenzen des Bezeugbaren, nenne ich das. Also es gibt absolute Grenzen dessen, was man bereit ist auch auszusagen für den anderen. Und das entspricht halt diesem 'Es wurde getauscht, gekauft und gelogen'. Das entspricht dem Bild einfach nicht. Und ich glaube, das müssen wir differenzieren."
    Hanne Leßau analysiert den Umgang mit dem Fragebogen, den Millionen Deutsche ausfüllen sollten. Sie schaut sich die freiwillig hinzugefügten Anmerkungen an - Begründungen, warum man getan hat, was man getan hatte - ohne dass diese Auskünfte gefordert gewesen waren. Sie sichtet erstmals Selbstzeugnisse, Tagebücher, Briefe, um beurteilen zu können, was denn die Entnazifizierung tatsächlich mit den Menschen langfristig gemacht hat.
    "Das werde ich oft gefragt, ob ich immer noch von einer gescheiterten Entnazifizierung spreche. Ich habe mich noch nicht getraut, es zum Erfolg umzuwerten. Aber ich finde schon, wenn man die nicht intendierten Folgen sich anschaut, die sie hatte, dann ist es auf einer individuellen Ebene schon sehr interessant. Also ich glaube, dass Leute da Erzählungen ausprägen, die sich dann auch längerfristig mittragen. Also wenn man sich später Autobiografien anguckt oder die Wichtigkeit der Dokumente, die in dem Verfahren entstehen, das ist für viele Menschen etwas, das sie in ihren Nachlässen ordnen und mit, also mit aufbewahren. Das ist nicht so ein 'geschafft' und möglichst schnell weglegen. Das finde ich sehr interessant."
    Für Ulrike Weckel stellt sich damit eine grundlegende Frage.
    "Also was heißt das auch schon - 'aufarbeiten'? Was kann angemessen sein? Und da ist viel Frust abgeladen worden auf die Zeitgenossen. Und natürlich hat es viel inadäquate, gleichgültige Reaktionen gegeben, aber man muss sich überlegen, was nach diesen zwölf Jahren wie dann doch in Gang gekommen ist. Und letztendlich werden wir heute - wir in Deutschland - um diese Aufarbeitungs-Geschichte international weitgehend beneidet, um das auch mal zu sagen. Also es ist ja eine Geschichte lang einer ... mit all den Schwierigkeiten dann doch gefestigten Demokratie. Das hätte 45, 46 auch niemand unbedingt vorhergesagt, dass das so ausläuft."
    Lager für Displaced Persons
    Ums so wichtiger, noch einmal hinzusehen, was man denn eigentlich da genau gemacht hat und wie es wirkte. Die Nachkriegsjahre sind aber nicht nur deutsche Aufarbeitungsgeschichte - auch das wurde auf der Holocaustkonferenz sehr deutlich in den Blick gerückt. Der Historiker Professor Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität zu Berlin legte den Finger in eine andere Wunde. Was wurde denn nun aus den Millionen befreiten Menschen, von denen unzählige ursprünglich aus Osteuropa und der Sowjetunion kamen? Versorgt in den Camps der Alliierten hatten sie eine bessere Welt gesehen. Viele wollten daher nicht zurück in die zerstörten Gebiete, wo alle Ordnungen zusammengebrochen waren.
    "In den Lagern für Displaced Persons traten dann sehr schnell russische Repatriierungsoffiziere auf. Die kamen meist aus dem Geheimdienst und sie versuchten die Insassen dieser Lager dazuzubringen, in die Sowjetunion zurückzukehren. Und diejenigen, die das nicht wollten, denen drohte man, dass man ihren Familien in der Heimat Gewalt antun würde."
    Diffamiert als Kollaborateure und Feiglinge wurden sie über Jahrzehnte dort dann ein zweites Mal zum Opfer.