Der Freigeist, der sich aus vielen Käfigen befreite

05.09.2012
John Cage interessierte sich für vieles: Musik, Malerei, Zen-Buddhismus und Pilze. Aber auch für Schriftstellerei. "Empty Minds" enthält informative Vorträge, visuell wirksame Texte und formal ungewöhnliche Schriften wie einminütige Lesungen.
Als junger Mensch hielt John Cage sich für einen künftigen Schriftsteller. Er schrieb erste Gedichte, die in einem College- Magazin veröffentlicht wurden, begeisterte sich für die "Leaves of Grass" von Walt Whitman - dem Urvater der modernen amerikanischen Lyrik- und schrieb Lieder zu Texten von Gertrude Stein (Zitat Cage: "Transkriptionen von einer repetitiven Sprache in eine repetitive Musik"). Doch die Grenzen einzelner Kunstdisziplinen waren zu eng. Cage beschäftigte sich mit Architektur, Musik, Malerei, Tanz, Zen-Buddhismus, Pilzen und vielem mehr - ein Freigeist, dessen künstlerisches Credo lautete: "In welchem Käfig man sich auch befindet, man muss ihn verlassen" - ein Satz, der nebenbei auch ganz ironisch mit der Semantik des eigenen Nachnamens (Cage=Käfig) spielt.

Cages Wortkunst hat vielfältige Formen und Inhalte. Sie ist experimentell, politisch, autobiographisch. Vor allem aber spiegeln seine Texte, inhaltlich wie formal, zentrale poetologische Prinzipien seiner Kompositionen: Zufall als Prinzip, Pluralität der Zentren, Koexistenz des Unähnlichen, Absichtslosigkeit, Unbestimmtheit...

Dieser exzellent zusammengestellte Band "Empty Minds" liefert wichtige Schlüsseltexte aus drei literarischen Werkkomplexen, die Cage bei der Edition seiner Schriften selbst vorgenommen hatte: erstens konventionelle und informative Vorträge, darunter als große zeitliche Klammer der erstaunliche Beitrag des 15-jährigen Cage für einen Redewettbewerb im Jahr 1927 mit dem Titel "Andere Völker denken" (über das hegemoniale Streben der USA in Lateinamerika) und sein wunderbar erzählter "Autobiographischer Abriß" aus dem Jahr 1991, der gleich am Anfang steht.

Zweitens enthält der Band visuell wirksame Texte, wie "Komposition im Rückblick" (1979-1982) unter Verwendung eines poetischen Verfahrens, bei dem, "die Großbuchstaben die Mitte hinunterlaufen, um irgendetwas zu feiern, zu unterstützen, um Bitten zu erfüllen, um mein Denken oder Nichtdenken in Gang zu setzen." Dieses von Cage bevorzugte Mesostichon ergibt senkrecht und mittig gelesen zentrale Begriffe seiner Ästhetik wie "Disziplin" oder aber Namen der befreundeten Geistesverwandten (James Joyce, Eric Satie und Marcel Duchamp).

Sprache wird auf dem Papier in ihr Phonem-Material aufgelöst - ("Stabil ist der Stamm, zerklüftet die Zeilen"), analog zum Wechsel von Klang und Stille im Raum. Ein anderes Beispiel: In seinem Tagebuch "Wie die Welt zu verbessern ist (Du machst alles nur noch schlimmer)" von 1965 legt Cage durch Zufallsoperationen fest, wie viele Mosaiksteine täglich geschrieben werden. Zwölf verschiedene Schrifttypen geben den Texten auch optisch den Charakter von Diskontinuität.

Als dritte Kategorie schließlich enthält dieser Band formal ungewöhnliche Vorträge, die für Aufführungen bestimmt sind, etwa die einminütigen Lesungen seiner neunzig anekdotenhaften Kurzgeschichten im Zyklus "Unbestimmtheit" von 1959, simultan zum Klavierspiel des Freunds und Kollegen David Tudor mit längeren Schweige-Sequenzen (im Internet zu finden).

"Ich will, dass jeder meiner Sätze klar und durchsichtig ist wie Wasser" - Diesen Satz des viel bewunderten Transzendentalisten Henry David Thoreau hat John Cage auch für sich in Anspruch genommen. Thoreaus Idee von der Natur als Sprache der göttlichen Weltseele korrespondiert mit einer Erkenntnis über Musik, die John Cage dank einer indischen Sängerin und Tabla-Spielerin gewann: "Der Zweck der Musik ist es, das Bewusstsein zu ernüchtern und zu beruhigen, um es dadurch für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen."

Am Ende dieser höchst anregenden, sowohl für Cage-Enthusiasten als auch Neu-Entdecker lesenswerten Sammlung, stehen seine 110 lehrsatzhaften Gedanken, die dem Band den Titel "Empty Mind" gegeben haben. Sie fassen "klar und durchsichtig wie Wasser" Cages Ideen zusammen.

Besprochen von Olga Hochweis

John Cage: "Empty Mind"
Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Reichert und anderen
Suhrkamp, Berlin 2012
243 Seiten, 19,95 Euro
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