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Das heikle Geschenk

Medizin. - Jahr für Jahr werden in Deutschland immer mehr Organe transplantiert. Die Transplantierten sind für dieses Geschenk eines neuen Lebens außerordentlich dankbar. Trotzdem haben nicht wenige von ihnen heftige Schuldgefühle gegenüber den verstorbenen Spendern ihrer Organe. Andere haben Angst davor, ihre eigene Identität durch das fremde Organ zu verlieren. Oder sie leiden darunter, dass ihnen das neue Organ nicht die beschwerdefreie Existenz verschafft hat, die sie sich erhofften.

Von Martin Hubert | 14.12.2008
    "Wenn Sie weiterleben wollen, dann brauchen sie eine neue Leber, dann müssen sie sich transplantieren lassen, da gibt’s keine andere Chance."

    Mit dieser schockierenden Diagnose wurde Hans-Rudolf Müller-Nienstedt vor 15 Jahren konfrontiert. Eine jahrelang unerkannte Hepatitis hatte die Leber des 48jährigen Schweizers unrettbar geschädigt. Was danach geschah, hat deutliche Spuren in seinem Körper und seine Psyche hinterlassen.

    "Wenn ich sitze - wenn ich liege, nicht - aber wenn ich sitze, wenn ich stehe, wenn ich laufe, dann spüre ich immer diese Linie quer über meinen Bauch, wo die große Narbe verläuft, die spüre ich dauernd und die gibt mir wirklich dauern das Gefühl oder die Erinnerung, das ist immer präsent: ich bin nicht mehr der Ursprüngliche quasi, oder ich bin wirklich zusammengesetzt. Es ist nicht – quasi - das alte Leben weitergeführt."

    Seit dem Jahr 1963 wurden in Deutschland mehr als 83.000 Organe transplantiert. Im Jahr 2006 allein waren es über 4000 Nieren, Lebern, Herzen, Bauchspeicheldrüsen oder Lungen. Die Zahlen steigen, die medizinische Technik wird optimiert und die Patienten sind überwiegend froh und dankbar. Aber es gibt auch eine andere, weniger bekannte Seite der Organtransplantation – die Seite der psychischen Probleme.

    "Wir sehen viele Studien, die sagen: Den Leuten geht es besser. Und man muss sagen, das stimmt","

    
sagt Oliver Decker vom Institut für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Leipzig. Er betreut seit mehreren Jahren Transplantationspatienten und erforscht ihre Probleme,

    ""aber es gibt auch etwas anderes, was sich zum Beispiel mit Fragebogenuntersuchungen nicht gut abbilden lässt - bei Fragebogenuntersuchungen bekommt man Antworten auf Fragen, die man gestellt hat - und was sich besser abbilden lässt mit offenen Verfahren. Da bekommt man auch Antworten auf Fragen, die man nicht gestellt hat, und wo auch ein Prozess dabei ist, wo im Gespräch sich etwas entwickelt. Und da stellen wir fest, dass, wenn man den Menschen die Möglichkeit lässt, über den Punkt, ‚ja, mir geht es gut‘ hinaus etwas zu erzählen, dass dann sehr wohl auch etwas kommt."

    Ähnliche Erfahrungen machte auch die Medizinanthropologin Vera Kalitzkus von der Privatuniversität Witten-Herdecke. Bereits in den 90er Jahren hat sie ausführliche Gespräche mit zwanzig Organempfängern geführt. Dabei stieß sie auf ein immer wieder kehrendes Problem.

    "Natürlich hängt damit auch die Frage der eigenen Identität zusammen: Bin ich noch derselbe wie vor der Transplantation oder nicht und wie finde ich da auch meinen Weg?"

    Das neue Organ rettet Leben und ist daher ein großes Geschenk. Trotzdem kommen einige Betroffene nur schwer mit der Vorstellung zurecht, das Organ eines fremden Menschen in sich zu tragen. Manche beginnen vom fremden Organ oder seinem Spender zu träumen und fühlen ihre körperliche Integrität bedroht. Andere meinen sogar, das fremde Organ verändere ihre Persönlichkeit. Wieder andere haben Probleme, die Todesangst und die jahrelangen Nebenwirkungen zu verkraften, die mit einer Organverpflanzung einhergehen. Und einigen macht schon die Frage zu schaffen, die am Anfang jeder Transplantation steht:"Will und kann ich mir die Verpflanzung eines fremden Organs überhaupt zumuten?" Bei Hans-Rudolf Müller-Nienststedt führt das zu einer radikalen Antwort. Der praktizierende Kinder- und Jugendpsychiater sagt zunächst "Nein, das will ich nicht!"

    "Ich war ja in meiner Studienzeit und eigentlich auch während der ganzen Fachausbildung war ich immer sehr - nicht nur interessiert, sondern auch sehr engagiert in alternativen Möglichkeiten der Medizin. Und da waren meine Überzeugungen derart, dass ich sehr skeptisch war gegen alles, was sich zu sehr oder sogar ausschließlich auf die technische Entwicklung und die Apparatemedizin stützte. Und da war für mich dieser Vorschlag, dass ich mich jetzt selbst in einer Situation sehe, wo mir eigentlich alles sagt: Dein Leben, das ist halt jetzt an einem Punkt, wo es darum geht, zur Kenntnis zu nehmen, dass das so nicht mehr möglich ist, dass ich mich halt dem zu stellen habe. Und dass ich da nicht sofort Ausschau halte nach technischen Möglichkeiten."

    Warum verkraften manche Menschen eine Organtransplantation recht gut, warum stürzt sie einige in Identitätsprobleme? Warum sagen manche Menschen wie Hans-Rudolf Müller-Nienstedt zunächst sogar "Nein, dass will ich nicht, ich will lieber sterben!" Das sind schwierig zu beantwortende Fragen, weil sie viel mit der individuellen Psychologie des Einzelnen zu tun haben. Trotzdem berühren sie ein generelles Problem: Wie kann ein körperlich-medizinischer Vorgang - die Ersetzung eines Organs durch ein anderes - derart nachhaltige Auswirkungen auf die seelische Verfassung haben? Georg Northoff von der Psychiatrischen Universitäts-klinik Magdeburg gehört zu den wenigen Forschern, die sich mit diesem Problem beschäftigen. Er meint, dass eine Organtransplantation unmittelbar an die Fundamente des psychischen Selbstgefühls rührt.

    "Das ist dieses Gefühl ‚oh, heute bin ich ganz ich selber, ich fühle mich ganz ich selber‘. Und wir vermuten, dass ganz basale Funktionen auch im Hirnstamm unterhalb der Hirnrinde da involviert sind. Das ist, glaube ich, ganz ganz eng mit dem Körper - sowohl mit dem äußeren Körper als auch mit dem inneren Körper wie zum Beispiel meinem Herz oder meinem Magen - verknüpft."

    Normalerweise bringt man das Ich- oder Selbstgefühl eher mit geistigen Fähigkeiten in Zusammenhang, etwa mit dem Vermögen, über sich selbst nachzudenken. Diese sind in den höheren Regionen der Hirnrinde angesiedelt. Es gibt aber auch einen ganz elementaren, körperlichen Aspekt dieses Selbstgefühls. Dieser hat mit evolutionär älteren Hirnarealen und dem so genannten autonomen Nervensystem zu tun, das Herzschlag, Pulsfrequenz, die Verdauung oder den Flüssigkeitshaushalt des Körpers regelt. Geleistet wird diese Arbeit von den inneren Organen. Für Georg Northoff ist nun folgendes entscheidend: die inneren Organe existieren im Organismus nicht nur rein körperlich, sondern auch kognitiv. Sie sind im Gehirn in Gestalt so genannter Körperkarten oder Körperschemata repräsentiert. Das sind Modelle vom Aufbau und aktuellen Zustands des Körpers, die es dem Gehirn erleichtern, den Körper zu steuern. Sie registrieren zum Beispiel, wo sich die Beine und Hände gerade befinden und was sie tun. Je häufiger und intensiver Beine und Arme bewegt werden, desto größer und detaillierter werden sie dann im Körperschema repräsentiert. In ähnlicher Weise existieren zum Beispiel auch Körperkarten für das schlagende Herz. Ins Bewusstsein gelangt der aktuelle Zustand der inneren Organe dabei nur indirekt - über Emotionen. Northoff:

    "Wenn wir unser Herz schlagen hören, dann haben wir eine bestimmte Emotion, zum Beispiel die Emotion Angst, oder wenn wir unseren Magen knurren hören, dann haben wir ein wohliges Gefühl. Also bestimmte emotionale Gefühle sind immer unmittelbar damit verknüpft und das ist möglicherweise neuroanatomisch dadurch bedingt, dass sich die Areale für Emotionen für diese Körperschemata und für das Selbst, dass das eigentlich identische Areale oder stark überlappende Areale sind."

    Es gibt für Georg Northoff also eine innere Brücke zwischen Körper und Geist: Anhaltende Probleme und starke Veränderungen in den inneren Organen rufen Effekte in den Körperkarten und den Emotionsarealen hervor. Und das kann der Anlass für einen Menschen sein, über seinen Körper nachzudenken. Die Wissenschaftler sprechen dann nicht mehr vom Körperschema, sondern vom Körperbild: es umfasst die Vorstellungen davon, wie der eigene Körper aussieht und funktioniert. Das Körperbild schließt immer auch eine emotionale Bewertung ein: ist mein Körper gut, schlecht, schön, oder hässlich? Körperbilder entwickeln sich zuerst in der Interaktion des Kindes mit den Eltern. Dabei, so Oliver Decker von der Universität Leipzig, werden sie mit einer gehörigen Portion Eigenliebe ausgestattet.

    "Diese Prozesse der Aneignung des Körpers, dieses ‚Ich bin ein wertvoller Mensch und in der Lage, die Welt zu erobern‘, dieses Gefühl resultiert aus einer Spiegelung durch die Eltern, wenn es gut geht. Und das tut es ja dann in der Regel, dass die sich so über das kleine Kind freuen und über jede Leistung, die vollbracht wird, dass das Kind einen Spiegel bekommt: ich bin wertvoll, ich bin vollständig, das ist alles toll, was ich mache. Und das ist etwas, was wir – an der Psychoanalyse orientiert – als Narzissmus bezeichnen."

    Der Körper soll funktionieren und das Körperschema im Gehirn soll das gewährleisten. Gleichzeitig existiert ein emotional aufgeladenes Körperbild, das normalerweise einen vollständigen und attraktiven Körper voraussetzt. Das sind die Bausteine des elementaren Selbstgefühls eines jeden Menschen. Für Georg Northoff und Oliver Decker lässt sich mit ihrer Hilfe verstehen, warum eine Organtransplantation tiefgreifende psychische Folgen haben kann: der eigene Körper funktioniert nicht mehr richtig, verliert daher einen Teil seiner Attraktion und muss durch ein völlig fremdes, aber besseres Organ wieder vervollständigt werden. Es ist eine Art körperlicher Wiedergeburt. Besitzt aber jemand ein Selbstbild, das von einer naturgegeben Einheit von Ich und Körper ausgeht, dann kann es leicht passieren, dass er den technischen Eingriff zunächst verweigert. Wie Hans-Rudolf Müller-Nienstedt. Georg Northoff:

    "Wahrscheinlich hat er ein sehr sehr rigides Körperschema gehabt und Körperbild gehabt und je stärker ich meinen eigenen Körper im Körperbild zur Umwelt hin abgrenze, desto stärker empfinde in dann natürlich fremde Organe, auch andere Organe als Fremdkörper oder als Bedrohung und wenn er an diesem Körperbild festhält, wird der Mann massive Probleme haben, sein Organ zu integrieren und damit auch positive Gefühle zu entwickeln."

    Andere Betroffene reagieren sozusagen umgekehrt auf die kränkende Nachricht, der eigene Körper sei unvollständig und reparaturbedürftig. Dialysepatienten, die auf eine neue Niere warten, idealisieren das neue Organ oft schon, bevor sie es überhaupt haben. Oliver Decker, konnte das in einer Beobachtungsstudie belegen.

    "Da fängt es bereits unter der Dialyse an, dass dieses Organ sehr aufgewertet wird, das bekommt alle positiven Züge, was auch sehr nachvollziehbar ist, - was auch objektiv übrigens ist: die Lebensqualität steigt unglaublich an zwischen Dialyse und Organtransplantation, der Gewinn ist riesig. Aber das ist etwas, was dann individuell sehr aufgewertet wird, das ist halt schon ein großes Heils- und Erlösungsversprechen, was da im Hintergrund steht und was dann tatsächlich auch, wenn die Transplantation stattfindet, sehr freudig aufgenommen wird: Jetzt geht es los."

    Die häufigste Reaktion von Transplantationspatienten vor der Operation besteht aber erst einmal darin, die Problematik des fremden Organs weitgehend zu verdrängen. Vera Kalitzkus von der Universität Witten-Herdecke.

    "Ich denke, eine gesunde Portion Verdrängung oder Verdrängungsmechanismen, die wirklich auch ein Schutz sind, um diese psychische Belastung überhaupt durchzustehen, das denke ich sicherlich, dass das da ist. Mir hatte eine Frau gesagt: ‚So was, das ist gar keine Frage - ich wollte überleben.‘"

    Auch Hans-Rudolf Müller-Nienstedt will schließlich überleben und entschließt sich nach ausgiebigen Diskussionen mit seiner Frau für eine Transplantation. Aufgrund seines starken Körper- und Selbstbildes ist er jedoch permanent dafür sensibilisiert, sich mit dem neuen Organ und seinem Spender auseinanderzusetzen. Die existentiellen Aspekte des medizinischen Eingriffs graben sich in sein Bewusstsein ein. Müller-Nienstedt:

    "Es kam mir so vor, wie wenn ich mit einem Zwilling oder mit jemand zusammen – man kennt das ja von Kindern, dass sie so imaginierte Begleiter haben - dass ich so einen imaginierten Begleiter hatte. Und das Lustige ist, das war wirklich ein Mann - also so in der Vorstellung - der mit mir zusammen auf einen Punkt hingeht, auf einen Todespunkt. Und wo eigentlich gar nicht klar war, was das denn eigentlich wirklich bedeutet, ob das Tod bedeutet für uns beide, ob das Tod bedeutet für ihn, ob das Tod bedeutet für mich?"

    Dann, nach einem halben Jahr Wartezeit, kommt für ihn der lang ersehnte Anruf. Ein passendes Organ ist gefunden, er hat sich schnellstens zur Transplantationsklinik zu begeben. Seine Operation ist schwierig und dauert länger als 18 Stunden. Als er endlich aufwacht und sich zu orientieren sucht, gelingt das nicht. Müller-Nienstedt:

    "Wie ich das jetzt erinnere, war da am Anfang vor allem: Körpergefühl und komische Bilder. Wirklich fraktionierte, kaputte Bilder eigentlich, Striche, die sich dann irgendwie manchmal zu Strichmännchen zusammentaten, Geräusche, die ich hörte und die so zu ganz komischen verschwommenen Bildern führten, wo ich oft auch gar nicht richtig irgendetwas zusammenbringen konnte, also wo ich weder innere noch äußere Bilder noch Geräusche in einer sinnvollen Art und Weise zusammenbringen konnte. Das war ein großes Durcheinander."

    Hans-Rudolf Müller-Nienstedt versucht nach der Operation sich seiner selbst, seines Körpers und seiner Umgebung bewusst zu werden. Aber sein Selbstgefühl gewinnt keine Konturen.

    "Das war so das Gefühl von Aufgeschwemmtsein, so eine Schwierigkeit, zu wissen, wo ich überhaupt situiert bin, wo ich bin und wo ich aufhöre. So eine Art von Aufgeschwemmtsein, die auch die eigenen Grenzen total verwischt, wo dann mit der Zeit erst überhaupt auch lokalisierbare Schmerzen zu spüren waren: Mich so als Bündel zu empfinden, das ganz undifferenziert eben und auch bewegungsunfähig ist! Und daraus für mich etwas zu machen, das vielleicht eben mit mir auch zu tun hat und das mir sagen konnte ‚Wo bin ich, was mach ich?‘ - das war alles völlig unklar! Und dann dieser Gedanke natürlich: Was war jetzt mit dieser Operation, was habe ich jetzt da gekriegt, was ist da neues dazugekommen bei mir?"

    Unmittelbar nach der schweren Operation sind die Organempfänger völlig geschwächt, ihr Körper ist kraftlos und mit Medikamenten voll gepumpt. Daher sind sie zunächst einmal kaum fähig, mit klarem Bewusstsein in die Welt zu blicken. So kennt das auch Oliver Decker aus seinen Beobachtungen in Leipzig. Viele Operierte leiden sogar vorübergehend unter Syndromen, die an psychische Krankheiten erinnern: etwa an Halluzinationen oder an der paranoiden Angst, das eigene Selbst verloren zu haben und es nicht mehr wieder finden zu können.

    "Die Umgebung beim Aufwachen ist ja intensivmedizinisch geprägt, also man muss sich das tatsächlich so vorstellen, dass der Körper nicht nur durch das Organ, sondern durch die Maschinen assistiert lebt und versorgt wird und durch Schwestern auch jederzeit zugänglich ist. Das ist eine Reizüberflutung, die extrem als bedrohlich wahrgenommen wird. Das kann auch vom Organ ausgehen, das dann als etwas erlebt wird, was im Körper ist und diesen bedroht. Das ist auch etwas, das Anknüpfungspunkte durchaus hat an die Zeit vor der Transplantation. Man muss sich diese Dynamik wahrscheinlich so vor Augen führen, dass in der Regel ein Organ von einem verstorbenen Spender kommt und der Empfänger im Grunde genommen bewusst oder unbewusst auf den Tod eines Anderen wartet. Und was da passieren kann, ist zum Beispiel auch die Angst, dass dieses Organ Rache nehmen kann für die Verletzung, für den möglicherweise unbewussten Todeswunsch gegenüber einer unbekannten Person. Und von dieser Person ist jetzt etwas in meinem eigenen Körper und wie viel Raum kann das einnehmen, wie viel Macht hat das eigentlich?"

    Diese Ängste und Rachevorstellungen sind vor allem emotionale Reaktionen auf den desolaten Zustand des eigenen Körperselbst. Das alte Körperschema soll wiederhergestellt werden, indem ein fremdes Organ eines verstorbenen Menschen integriert wird. Und im Zusammenhang damit das Körperbild revidiert werden. Kurz nach der Operation ist aber noch völlig unklar, ob der Körper das neue Organ überhaupt annimmt und dauerhaft ins Körperschema integriert. Außerdem kann der Patient weder körperlich aktiv sein noch klare Grenzen zwischen sich und der Umgebung ziehen.

    Auch Hans-Rudolf Müller-Nienstedt ist zunächst unfähig, produktiv an seinem Körperbild zu arbeiten. Die Aufgabe nimmt daher eine riesige Dimensionen an.

    "Meine Erinnerung, die bewegt sich schon vor allem darum, dass ich meine Welt neu schaffen musste, dass aus etwas Zerbrochenem wieder etwas neues zu entstehen hat und dass ich in einer Art Universum drin mich bewege, wo ich wieder neu irgendwo Halt zu suchen habe, ja, so ist meine Erinnerung."

    Nach jeder schweren Operation ist eine Art Wiedergeburt des Körper- und Selbstgefühls nötig - nach einer Transplantation kommt eben die sensible Aufgabe dazu, das fremde Organ zu akzeptieren. Oliver Decker:

    "Hier kommt es darauf an, dass diese Fragmentierung des Körpers als bedrohlich erlebt wird und dass es den Wunsch gibt auch, dass die Vollständigkeit gespiegelt wird, also, dass es wieder eine Rückmeldung gibt, ‘ja, du bist vollständig, du existierst im Ganzen‘, dass das zurückgespiegelt wird. Und was auch nicht zu unterschätzen ist, Ängste müssen gebunden werden, Ängste vor dem fremden Organ."

    Der Transplantationspatient braucht jetzt Kontakt mit Personen, die ihm ein positives Körperfeedback geben. Und er muss über eigene Aktivitäten die Leistungsfähigkeit seines erneuerten Körpers kennenlernen. Wenn das neue Organ nach der Operation nicht abgestoßen wird, sind die Voraussetzungen dafür gegeben. Daher treten die Patienten dann oft in eine kurze Euphoriephase ein. Georg Northoff:

    "Es ist zuerst mal die Freude, dass das kaputte Organ weg ist und da ist wahrscheinlich noch nicht ein neues Körperbild komplett entwickelt, es ist erst einmal die Freude, dass das Organ wieder funktionieren könnte, das verschafft natürlich positive Gefühle und Euphorie, gerade wenn man eine lange Wartezeit der Ungewissheit hinter sich hatte: jetzt ist es einfach auch ein Ende der Ungewissheit."

    Die Patienten werden von der Intensivstation in ein normales Klinikzimmer verlegt. Dort bekommen sie den normalen Klinikalltag mit und erhalten Besuch vom Verwandten und Freunden. Auch Hans-Rudolf Müller-Nienstedt gibt das einen großen Schub. Gemeinsam mit den Pflegern unternimmt er erste Ausflüge durch die Klinikflure. Und er verbessert sein Körpergefühl durch systematische Atemübungen.

    "Da konnte ich den Körper ja auch zunehmend wieder erfahren als etwas, in dem ich wohnen konnte, in dem ich mich wohl fühlen konnte, in dem ich Wohlbefinden auch herstellen konnte, in dem ich aktiv etwas unternehmen konnte, um den Schmerzen und dem Unwohlsein - das natürlich immer noch lange dazu gehörte - aber ich bekam da etwas auch in die Hand, ich wurde etwas gelehrt, das mir half, dem zu begegnen."

    Wie bei den meisten anderen Patienten hält aber auch bei ihm diese Zeit der ersten Euphorie nicht lange an. Er gerät in Situationen, die ihm die Grenzen seiner künftigen Existenz vor Augen führen.

    "Das war dieser Moment, als ich zu dem Erholungsurlaub in die Berge gefahren bin, als ich merkte, dass ich die Tablette am Morgen nicht geschluckt hatte - und das Panikgefühl, das da aufkam, dass ich da jetzt Gefahr laufe, wirklich etwas Böses getan zu haben. Und dazu auch natürlich dieser Schreckensmoment, als ich bei einer der ersten Kontrollen da in den Bergen die Nachricht bekam, dass die Blutwerte anzeigen, eine Abstoßungsreaktion sei im Gang und ich dann nach Genf reisen musste um da die nötigen Untersuchungen und auch Anpassungen in der medikamentösen Behandlung dann einzuleiten. Das sind zwei Momente, die da schon ganz deutlich gemacht haben – das Leben wird anders sein."

    Spätestens einige Wochen nach der Operation wird den Patienten klar, dass sie lebenslang auf Medikamente angewiesen sind, die die Immunabstoßung des neuen Organs unterdrücken - und dass dennoch jederzeit eine Abstoßung eintreten kann. Sie müssen sich auch damit abfinden, dass das neue Organ nicht ewig halten wird, die Mediziner sprechen heute von Zeiten zwischen 15 und 20 Jahren. Außerdem haben die Patienten von Anfang an mit den Nebenwirkungen der Medikamente zu kämpfen. Und sie realisieren, dass ihr Körper in manchen Dingen nicht so belastbar ist wie in der Zeit, als sie völlig gesund waren. Georg Northoff zufolge beginnt nun die letzte, womöglich lebenslange Phase der Integration des neuen Organs. Sie besteht darin, ein positives Selbstgefühl zu entwickeln, indem Körperschema und Körperbild neu aufeinander abgestimmt werden.

    "Mit einem mal merke ich ‚Hoppla, das neue Körperbild, was ich gerne hätte, ist vielleicht doch noch nicht so realistisch angesichts des vorhandenen Körperschemas mit dem neuen Organ‘, sodass da wieder eine gewisse Dissoziation auftritt, und ich denke,die mögliche Divergenz zwischen Körperschema und Körperbild hängt ja ganz stark davon ab, welche initiale Bedeutung ich dem beimesse. Wenn ich einfach dem eine funktionale Bedeutung beimesse, dann muss ich auch gar nicht viel Integrationsarbeit leisten."

    Nicht wenige Patienten sagen: Herz, Niere oder Leber, das ist für mich nichts anderes als ein medizinisches Instrument, ein Hilfsmittel für mein Leben, das jetzt einfach technisch erneuert worden ist. Warum also soll ich mir ein Problem daraus machen? Wenn sie dann auch noch annähernd so leistungsfähig wie vor ihrer Krankheit werden, sagen diese Menschen oft: Ich fühle mich tatsächlich wie neu geboren. Andere hingegen haben ihren Wunschkörper nicht ganz wiederbekommen, oder sie leiden übermäßig an den Medikamenten und dem lebenslangen Abstoßungsrisiko. Bei ihnen sieht die Reaktion anders aus. Oliver Decker:

    "Das reicht von der Annahme, dass Menschen sagen, ‚Mann, das habe ich mir anders vorgestellt, schade‘, es geht aber auch dahin, dass Patienten, weil es eine Kränkung ist, weiter diese Medikamente nehmen zu müssen, das einfach nicht hinnehmen. Das kann ja auch bis zu einem halben Jahr gut gehen, zumindest äußerlich, das Organ wird natürlich schon angegriffen und dann kommt es zur Abstoßungskrise, die dann äußerlich auch ansehbar ist, ableitbar für die ärztlichen Kollegen und dann wird realisiert: ‚Mann, die haben ein halbes Jahr die Medikamente nicht genommen, was ist hier los?‘ Und im Hintergrund ist halt diese Enttäuschung: ‚Ja, ich bin immer noch nicht total vollständig, leidensfrei, und ich verleugne es.‘ Da ist dann häufig im Hintergrund die Enttäuschung darüber, dass da so ein wahnsinniges Regime an Medikamenteneinnahme und weiterer ärztlicher Betreuung ist."

    Wobei körperliche Abstoßungsreaktionen sogar direkt durch die psychischen Probleme mit verursacht werden können. Denn bei Stress werden vom Immunsystem vermehrt Antikörper erzeugt, die sich auch gegen das fremde Organ richten können. Vera Kalitzkus stellte bei ihren ausführlichen Befragungen manchmal auch bei solchen Patienten unterschwelligen Stress fest, denen es eigentlich gut ging.

    "Und das zeigt sich eben in solchen Dingen wie ‚Das Herz ist nur ein Pumpe, es ist alles in Ordnung, aber ich möchte es lieber nicht sehen, denn wenn ich es nicht sehe, mache ich mir kein Bild davon und dann muss ich nicht auch Angst davor haben, dass dieses Bild mir vielleicht fremd ist.‘ So wie eine andere Nierentransplantierte mir gegenüber das erzählte, dass sie eben Scheu hat, das Organ abzutasten. Also bei der Niere, die ja auf die Bauchdecke gepflanzt wird, kann man sozusagen ja erspüren, wie ist die Form des Organs, es wird zum Teil auch empfohlen, um Veränderungen festzustellen, die dann also darauf hindeuten, dass vielleicht was nicht in Ordnung ist, und dass sie da gesagt hatte: sie hat sich davor gescheut, denn da kam ihr das Fremde sozusagen spürbar von außen dann auch entgegen."

    Hans-Rudolf Müller-Nienstedt wird quasi von selbst auf die Andersartigkeit seiner neuen Leber gestoßen.

    "Ich habe ja seither so eine Tendenz, wenn irgendetwas Stressiges ist - es war am Anfang in den ersten Jahren noch deutlicher – dann wurde ich leicht gelb - und das ist neue Organ, meine eigene Leber hat sowas nicht gemacht."
    Die neu eingesetzte Leber reagiert auf Stress, indem sie vermehrt einen bestimmten Blutfarbstoff aussondert. Ein weiterer Zufall bringt Hans-Rudolf Müller-Nienstedt noch stärker dazu, sich Gedanken über den Spender seines Organs zu machen.

    "Durch irgendwas habe ich erfahren, dass dort in der Gegend - also in der Zeit eben Mitte Mai - ein junger Mann mit einem Motorradunfall umgekommen ist. Und da habe ich dann versucht, mich so darauf einzustellen: Das ist sein Schicksal, er hat so aus diesem Leben gehen müssen, er hat so umkommen müssen, und ich habe davon dann eine große neue Chance bekommen. In Träumen ist er sicher auch aufgetaucht. Im Moment kann ich mich nicht an einen bestimmten Traum erinnern, aber irgendetwas ist da noch als verschwommene Bilder."

    Seit langem ist bekannt: Sobald es den Patienten körperlich wieder besser geht, beginnen die meisten von ihnen intensiv an das fremde Organ und seinen Spender zu denken. Was natürlich erneut die Frage nach der eigenen Identität ins Spiel bringt. Oliver Decker:

    "Indem sie sagen ‚Ist mir doch egal, wenn das von einem jungen Mädchen ist‘ - muss man sich überlegen, warum sagt er nicht ‚von einem jungen Mann‘? Also welche Bedeutung hätte es und da kann man dann als Psychologe nachfragen: was wäre, wenn es ein Mädchen ist? Was ist möglicherweise das, was verleugnet werden muss an Ängsten, dass es auch ‚egal ist‘, wenn es von einem Mädchen ist: Geschlechtsidentität zum Beispiel, für einen Mann ein weibliches Organ zu bekommen. Die Fantasien sind da sehr weitreichend und es wurde auch beschrieben, dass die so weit gehen, dass sogar die Idee da ist, die Küche so einzurichten, wie die von der Person, von der das Organ kommt und ähnliche Geschmackssachen."

    Ein Patient, der nach der Transplantation plötzlich Heißhunger auf Oliven spürte, fantasierte zum Beispiel, dass sein Organ von einem Fischer aus dem Mittelmeerraum käme. Ein anderer meinte, dass er schwedisch lernen müsse, weil sein Transplantat aus Schweden stammte. Berichtet wird auch von einem Mann, der plötzlich glaubte, sein Körper fühle sich sehr weiblich an. Der Mediziner Paul Pearsall von der Universität Hawai, behauptet, solche Identitätsvorstellungen könnten darauf zurückgehen, dass der Organempfänger Persönlichkeitsanteile des Spenders über die Zellen des neuen Organs empfängt. Da es dafür keine physiologischen Belege gibt, betrachtet die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler das als bloße Spekulation. Keiner kann jedoch bestreiten, dass Transplantationspatienten solche Fantasien haben. Die Wiener Psychologin Brigitta Bunzel fand sie zum Beispiel bei sechs Prozent der Herztransplantierten. Oliver Decker meint, dass solche Fantasien sogar hilfreich sein können.

    "Ich glaube, dass es sich dabei eher um eine Art psychische Verarbeitung handelt, mit der das Organ wirklich integriert wird. Es ist ein Teil des Integrationsprozesses. Das heißt noch nicht, dass er gelingt, aber es ist ein Teil des Integrationsprozesses, dass dieses absolut Fremde so etwas angeglichen wird zu etwas, was vertraut ist, sodass man auch Einfluss nehmen kann: ‚Wenn das eine konkrete Person ist, der das und das wichtig war, dann werde ich da auch dafür sorgen, dass das und das auch passiert und damit befriedige ich, ja befriede dieses fremde Organ.‘ Dann wäre das so zu verstehen, dass jemand, der sagt, ich habe mein Essverhalten total verändert -: das ist ein Ritual, denjenigen, der da verstorben ist, von dem jetzt aber etwas in mir drin ist, was Eigenständigkeit hat, zu befriedigen."

    Solche Befriedungsrituale sind auch deshalb hilfreich, weil bei vielen Transplantierten nach einer gewissen Zeit Schuldgefühle gegenüber dem Spender aufkommen. Hans-Rudolf Müller-Nienstedt weiß zwar, dass der Spender nicht durch seine Schuld ums Leben gekommen ist. Als er einen Psychologen besucht, werden ihm dennoch seine unterschwelligen Dankesbedürfnisse bewusst.

    "Er hat mir gesagt: du musst sehen, der ist dir vorausgegangen und davor musst du dich ganz demütig beugen. Zuerst war das Gefühl, ich muss das gegen großen Widerstand in mir selbst machen, aber das Tun, das hat mir Erleichterung verschafft. Ich denke, das ist etwas sehr gutes, wenn das auch eine Form finden kann, diese Dankbarkeit, das denke ich schon. Ich habe das für mich persönlich dann ja auch noch zu einer für mich denke ich sehr schönen Form bringen können. Ich habe die Möglichkeit gehabt, bei einem Chor mitzusingen und habe diese Möglichkeit auch wirklich gepackt, um das Requiem von Mozart einzuüben mit dem Chor und mit ihm zu singen, und das war wirklich der Gedanke an den Spender, hab für ihn gesungen, ja."

    Für Vera Kalitzkus gehen solche Dankbarkeitsrituale auf ein uraltes anthropologisches Bedürfnis des Menschen zurück.

    "In der Ethnologie oder den Kulturwissenschaften kennt man das Phänomen des Gabentausches, das ein Grundprinzip eigentlich aller menschlichen Gesellschaften ist. Also wir kennen es in Form von Geschenken, was wiederum eine besondere Gabe ist. Die werden gegeben und genommen, um Beziehungen zwischen Menschen zu schaffen und damit auch einen Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten. Ganz zentral ist dabei, dass eine Gabe immer erwidert werden muss, also eine Gabe erfordert immer eine Gegengabe, wenn man die nicht gibt, ist man sozusagen auf der Schuldigenseite."

    Transplantierte können dem Spender, der ihnen das Organ und damit das Leben geschenkt hat, allerdings nicht direkt etwas zurückgeben. Das verstärkt noch das Gefühl "etwas schuldig zu sein". Also versuchen sie ihr Schuldgefühl durch symbolische Gaben zu entlasten. Inzwischen bieten manche Transplantationskliniken in Deutschland dafür regelrechte Dankgottesdienste an. Oder sie organisieren Treffen zwischen Hinterbliebenen von Spendern und von Transplantierten, die zwar nicht das Organ dieser Spender tragen, aber bei dieser Gelegenheit dennoch ihre generelle Dankbarkeit ausdrücken können. Kalitzkus:

    "Es ist sozusagen etwas zum Abschluss gekommen dadurch, ein Stück weit."

    Gibt es eine Grundregel, die die psychische Auseinandersetzung mit einem fremden Organ positiv beeinflusst? Oliver Decker meint, dass die Betroffenen in gewissem Sinne Trauerarbeit leisten müssen: Trauerarbeit über den Tod dessen, der ihnen zum Überleben verholfen hat. Und Trauerarbeit sich selbst gegenüber.

    "Trauerarbeit würde hier ‚Bestandsaufnahme‘ bedeuten: was habe ich gewonnen, was habe ich aber auch verloren, was schmerzt mich. Das ist Trauerarbeit und Anerkenntnis, dass man etwas verloren hat."

    Es muss also gelingen, sich gleichermaßen mit der Fremdheit des Organs, mit den positiven Folgen der Transplantation und mit den Veränderungen des eigenen Körper- und Selbstbildes auseinanderzusetzen. Hans-Rudolf Müller-Nienstedt ist es gelungen. Er meint heute teilweise sogar ein bewussteres Leben als früher zu führen. Denn er hat erfahren, wie stark seine eigene Existenz mit der Existenz eines Anderen verbunden ist.

    "Also ich habe das so empfunden wie eine gute Zusammenarbeit, die wir da entwickelt haben. Es ist nicht etwas Selbstverständliches, es ist nicht einfach etwas, was mir gehört, es ist für mich auch eine Verpflichtung, dass ich in dem Leben, das ich dadurch jetzt auch weiterführen kann, das ich dann auch wirklich etwas daraus mache, das gut ist."