Dienstag, 30. April 2024

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Fussball-WM Brasilien
Traum oder Albtraum?

Fußball ist Brasiliens Nationalsport. Brasilien ist die erfolgreichste Fußballnation der Welt und kaum ein Land bietet der Welt so viele Spieler - etwa 5.000 brasilianische Fußballprofis spielen in den internationalen Ligen. Doch das Großereignis der Fußball-WM in Brasilien hat für die betroffenen Städte weitreichende Folgen.

Der Brasilienexperte Dawid D. Bartelt im Gespräch mit Peter B. Schumann | 15.06.2014
    Armenviertel in Lateinamerika
    Die großen Armenviertel sind ein Problem Lateinamerikas. In Brasilien mussten viele dieser Gegenden den WM-Neubauten weichen. (dpa / Peter Kneffel)
    Peter B. Schumann: Die Welt wird ein modernes und innovatives Land erleben - versprach 2011 Orlando Silva, damals noch Sportminister, wir werden die besten Weltmeisterschaften der Geschichte ausrichten und ein Vermächtnis hinterlassen, auf das die Brasilianer stolz sein werden! Daran zweifelt inzwischen die Mehrheit der Brasilianer. Die Auswirkungen für die Stadtentwicklung und die betroffene Stadtbevölkerung sind bereits jetzt erkennbar. Darüber möchte ich mit Dr. Dawid Danilo Bartelt sprechen. Er leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro und hat im letzten Jahr mit dem "Band Copacabana. Biografie eines Sehnsuchtsortes" die Sachliteratur über Brasilien bereichert. Herr Bartelt, der Schauplatz mit seinen legendären Fußballern und der grenzenlos begeisterungsfähigen Bevölkerung ist doch eigentlich ideal für eine solche Weltmeisterschaft! Deshalb hofft ja die Regierung auch, dass das Land als der große Gewinner in jeder Beziehung daraus hervorgehen wird! Dennoch soll es bereits jetzt Verlierer geben, wer ist das?
    Dawid Danilo Bartelt: Die Verlierer sind die, für die so eine Weltmeisterschaft eigentlich in erster Linie gedacht sein sollte, nämlich die allgemeine Bevölkerung. Die allgemeine Bevölkerung in Brasilien, trotz der unbestreitbaren Verbesserungen, Einkommenszuwächse des letzten Jahrzehnts, ist immer noch eine mehrheitlich arme Bevölkerung oder einkommensschwache Bevölkerung und die können sich die Eintrittspreise in die Stadien gar nicht leisten. Denn die Stadien sind alle nach FIFA-Standard umgebaut worden und die Kosten werden zum Teil über die Eintrittspreise auch reingeholt, das ist sehr teuer. Aber da gibt es ja dann Fernsehen und es wird auch Public Viewing geben und es wird auch sicherlich ein großes Fest geben, aber wir haben ja vor einem Jahr bei den Protesten, die uns alle überrascht haben, gesehen, dass es doch eine ganze Menge Leute gibt, die zu dieser WM, auf die sie sich sicherlich auch freuen, eine Menge Kritisches anzumerken haben.
    Und es gibt eine Gruppe, die sicherlich ganz besonders zu den Verlierern zählt, das sind die Menschen, die im Zuge der Baumaßnahmen zur Vorbereitung auf die WM weichen müssen, die zwangsgeräumt werden, die umgesiedelt werden. Das sind gar nicht so wenig. Es gibt keine offiziellen Zahlen, es gibt zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich in den zwölf WM-Austragungsorten gegründet haben und auch zu einem Dachverband zusammengeschlossen haben, und die schätzen, haben das gerade noch mal nach oben korrigiert, mittlerweile 250.000 Menschen, die in irgendeiner Weise von Zwangsräumung und Umsiedlung schon betroffen sind oder noch betroffen sein werden in den verbleibenden Monaten.
    "Menschen müssen einbezogen werden"
    Schumann: Aber ich denke doch, dass es da eine rechtliche Grundlage gibt für solche Räumungen, dass die Leute entschädigt werden, dass sie entsprechend anderen Wohnraum zugewiesen bekommen?
    Bartelt: Nicht jede Zwangsräumung ist illegal, das stimmt, da muss man auch differenzieren. Der Staat hat das Recht, unter bestimmten Bedingungen Menschen umzusiedeln, wenn sie in gefährdeten Gebieten leben oder auch, wenn das Land, auf dem sie leben, öffentliches Land ist und es ein öffentliches Interesse gibt, dort etwas zu bauen. Aber sie müssen rechtzeitig informiert werden, sie müssen einbezogen werden und es muss ihnen adäquater Ersatz bereitgestellt werden. Adäquat heißt: Mindestens genauso gut wie vorher. Und das ist in Brasilien, gerade in Rio besonders wichtig, wo liegt sie. Favelas, wir reden ganz oft von diesen Favelas, von diesen Armengebieten ...
    Schumann: Das sind also keine Elendsgebiete wie in Indien zum Beispiel, sondern es sind Armengebiete ...
    Bartelt: Das sind Armengebiete, da wohnen auch Menschen mit Hochschulabschluss, die sind sozial durchaus differenziert, sie haben aber lange Zeit daran gekrankt und tun es noch, dass sie nicht an die normale Stadt und auch an die Rechte, die eine Stadt ihrer Bevölkerung eigentlich geben soll, angeschlossen sind, sprich, dass sie zum Beispiel keine vernünftige Kanalisation haben, dass die Elektrizitätsversorgung miserabel ist, oft einfach angezapft und so weiter. Aber diese Favelas sind ja historisch dadurch entstanden, dass die Leute nah an ihrem Arbeitsplatz wohnen wollten. Das kann man in Rio de Janeiro besonders gut sehen, sie sind sozusagen auf den Hügeln oberhalb der Mittelschichtstadtteile, wo sie arbeiten, als Hausangestellte, als Chauffeure, als Köchinnen et cetera. Wenn sie dort - und auch viele sind ja auch kleine Straßenhändler -, wenn Sie die Menschen dort wegnehmen und - was in Rio jetzt oft passiert - 50, 60 Kilometer weit nach draußen umsiedeln in neue Sozialbausiedlungen, dann nehmen Sie die Menschen nicht nur aus ihrem sozialen Umfeld raus, sondern Sie benehmen sie auch ihrer Arbeitsgrundlage. Denn sie arbeiten, dort gibt es nichts, dort gibt es im wahrsten Sinne nichts. Es gibt grüne Wiese, es gibt auch kaum Schulen für die Kinder, vor allen Dingen gibt es keine Arbeit. Und dann aber 50 Kilometer zu fahren jeden Tag unter den Verkehrsbedingungen in Rio und bei dem, was das kostet - denn es gibt keine Monatskarten oder so was, was wir hier kennen -, das macht es im Grunde unmöglich für die Menschen, ihrem alten Beruf nachzugehen. Das heißt, es zerstört ihre ökonomische Lebensgrundlage.
    "Eine Wunscherzählung"
    Schumann: Aber nun hat ja gerade die Fußballweltmeisterschaft versprochen, dass die Infrastruktur verbessert werden soll, also neue Straßen, die Metro ist erweitert worden, es hat neue Buslinien gegeben und so weiter. Und sind diese neuen Wohngebiete nicht an dieses Netz angeschlossen worden?
    Bartelt: Die Versprechungen, die die Regierung und auch die FIFA machen nach den großen Gewinnen für die allgemeine Volkswirtschaft, das entpuppt sich relativ schnell als eine Wunscherzählung. Ich habe gerade noch mal gesehen eine Studie der renommierten Unternehmensberatung Ernst & Young, die hat 2010 davon gesprochen, dass in jedem Jahr bis zur WM 3,6 Millionen Arbeitsplätze geschaffen würden. Das ist völlig illusorisch. Die Stadienbauten haben 24.000 Arbeitern Arbeit gegeben, aber nur solange die Stadien gebaut werden, das sind keine strukturellen Arbeitsplätze, die sich halten. Selbst bei der Tourismusindustrie war das bei vielen Weltmeisterschaften so, dass am Schluss weniger Touristen kamen als in normalen Jahren, weil alle die normalen weggeblieben sind und gesagt haben, ich fahre lieber im nächsten Jahr und nicht, wenn da Fußballweltmeisterschaft ist, da ist alles teuer und ich kriege eh nichts!
    Schumann: Und was ist mit dem Imagegewinn, von dem so viel die Rede ist?
    Bartelt: Da ist es nun so, Sie müssen der Welt nicht erzählen, dass die Brasilianer ein freundliches Volk sind und zu feiern verstehen, so wie wir Deutsche uns erst der Welt erklären mussten. Das muss man nicht. Und jetzt befürchtet aber die Regierung ganz umgekehrte Bilder, nämlich Bilder von Demonstrationen, von Tränengasschwaden, von prügelnder Polizei.
    Schumann: Noch mal zurück zur Verbesserung der Infrastruktur: Was hat sich denn da nun konkret getan?
    Bartelt: Da kann man zum Beispiel in Rio, aber auch in anderen Städten sehr gut sehen, da wird was gemacht und da wird ein Teil der Bevölkerung auch was von haben. Sie folgt aber vor allen Dingen der Logik dieses Events, nach der die ganze Stadt sozusagen ausgerichtet wird. Das heißt, das sind Verbindungen vom Flughafen in die Tourismuszentren und zu den Sportzentren. Menschen, die da dann wohnen in der Nähe, werden auch was davon haben, aber es wird nicht auf ihre Bedürfnisse ausgebaut.
    Schumann: Aber gerade deshalb sollte doch eine neue U-Bahn-Linie gebaut werden.
    Bartelt: Es gehörte zu der Planung, zwischen Rio und der großen Stadt Niterói, die auf der anderen Seite der Bucht liegt, wo drei Millionen Pendler wohnen, die jeden Tag nach Rio hineinpendeln, zwischen diesen beiden Städten eine U-Bahn-Linie zu bauen. Stattdessen baut man jetzt diese Schnellbuslinien und, wie gesagt, das ist sinnvoll, und eine von denen führt in den großen Westen der Stadt, das ist das ganze Gebiet, wo sehr, sehr viele Menschen wohnen, den wir nie sehen, weil er auch auf den meisten Karten von Rio gar nicht drauf ist.
    "Viel zu wenig passiert"
    Schumann: Und wo es ja auch Neubaugebiete also gerade für die Umgesiedelten und enteigneten Leute geben soll.
    Bartelt: Genau, dort sind diese Neubaugebiete. Und da gibt es jetzt also neben der altehrwürdigen Avenida Brasil, die da hinführt - das war bisher die einzige Verbindung, eine ständig verstopfte, große Straße -, gibt es jetzt eine zweite Trasse, die dort hinführt und die, sagen wir mal, für die vier Millionen Menschen, die da leben, dann jetzt tatsächlich für sie eine Verbesserung darstellt. Was wir aber bräuchten, wäre eine U-Bahn-Verbindung dahin, es wären Züge. Die Stadt Rio de Janeiro hat eine unglaubliche Ausdehnung eben teilweise von 70, 80 Kilometern. Und da ist viel zu wenig passiert, gemessen an dem Anspruch und gemessen an dem vielen Geld, was hier eingesetzt wird.
    Schumann: Reden wir mal von den Stadien, die sind ja sehr wichtig für eine Fußballweltmeisterschaft, und vieles ist umgebaut worden, sogar das berühmteste brasilianische Fußballstadion Maracanã in Rio. Aber gibt es Stadien, die vielleicht auch - weil Sie von dem Eventcharakter und bestimmten Dingen, die nur darauf zugeschnitten worden sind, gesprochen haben -, gibt es Stadien, die man vielleicht überhaupt nicht mehr braucht später?
    Bartelt: Mindestens vier, vielleicht sogar mehr. Also, Manaus ist das Stadion, was man gleich am Anfang nennen muss, aus zwei traurigen Gründen. Nämlich erstens sind die Hälfte der mittlerweile … Knapp jetzt die Hälfte, ich glaube, neun Arbeiter sind mittlerweile ums Leben gekommen bei Stadienbauten, vier davon in Manaus. Der beste Fußballverein spielt in der vierten oder fünften Liga und hat so einen Zuschauerdurchschnitt von 1.000, 1.200 Zuschauern am Wochenende. Dieses Stadium wird jetzt 42.000 Menschen fassen, ganz modern, nach FIFA-Standard eben. Da werden sich dann diese 1.200 zukünftig es sehr bequem machen können. Das Problem ist nur, gerade unter diesen klimatischen Bedingungen sind die Unterhaltskosten für solche Bauten, die also nicht regenwald-angepasst sind, unheimlich hoch. Und das wird die öffentliche Hand, die im Bundesstaat Amazonas, dessen Hauptstadt Manaus ja ist, auch nicht so furchtbar reichlich ausgestattet ist, das wird die viel Geld kosten, und das eben für ein leeres Stadion, das niemand braucht.
    "Es hat Gentrifizierung gegeben"
    Schumann: Kann man eigentlich von einer Gentrifizierung bestimmter Stadtteile in Rio zum Beispiel infolge des Stadienbaus sprechen?
    Bartelt: Die hat es gegeben, diese Gentrifizierung, und da kehren wir noch mal zurück in die Favelas. Wir hatten schon gesagt, es sind keine reinen Elendsgebiete und das gilt vor allen Dingen für die historischen Favelas, die in der Südzone von Rio liegen, also in den Stadtteilen, die am Strand oder strandnah liegen und wo eine bessergestellte, ökonomisch bessergestellte Bevölkerung lebt, unten in den Hochhäusern. In Brasilien wohnen die Besserverdienenden in den Hochhäusern und oben auf dem Hügel wohnen die Ärmeren. Gerade weil sie auf dem Hügel leben, sind das sehr begehrte Wohnlagen und das wird sich jetzt ändern. Und da muss man dann auch gar nicht räumen, das passiert sozusagen, die Räumung passiert durch das Prinzip des freien Marktes. Die Mieten steigen monatlich und die Leute werden rausgekauft, es fehlt ihnen oft Beratung, auch das Wissen darum, was sie eigentlich sozusagen an Wert haben. Es fehlt ihnen aber auch - und das ist ja das große Problem von Favelas - an einem dokumentierbaren Besitztitel. Das heißt, sie sind in einer juristisch schwachen Position, ihren Besitz auch als Eigentum deklarieren und dokumentieren zu können.
    Schumann: Das heißt, die Leute, die einen Eigentumstitel besaßen, die wurden auch vermutlich entsprechend entschädigt und die anderen wurden einfach weggeräumt?
    Bartelt: Ja. Na ja, es gibt Gesetze, die auch diese Menschen schützen, nach fünf Jahren, wenn man das nachweisen kann, etwa dadurch, dass man zeigen kann, dass die Kinder seit fünf Jahren da in der Nähe zur Schule gehen, hat man auch einen gewissen Rechtsschutz. Wer da dann tatsächlich was besitzt, wird es irgendwann verkaufen, weil die Angebote kommen, und die, die zur Miete wohnen, werden einfach durch die Erhöhung der Mieten - da gibt es auch wenig Schutz in Brasilien, nicht so wie bei uns, die Mieten können relativ frei festgesetzt werden -, werden einfach durch diese Mieterhöhung rausgesetzt.
    "Pazifizierte" Favelas
    Schumann: Aber wie muss man sich das vorstellen? Eine Favela ist ja immerhin doch ein Armengebiet, wo zwar auch die untere Mittelschicht wohnt, aber die Verhältnisse manchmal doch auch ziemlich prekär sein können. Und in einer solchen Gegend wird dann mittendrin ein richtiges Fünf-Sterne-Hotel gebaut? Ist das nicht irgendwo ein bisschen problematisch?
    Bartelt: Es sind bestimmte Favelas, für die eine erst mal wichtige Bedingung gilt, die haben wir jetzt noch nicht erwähnt, das ist nämlich, dass sie - in Anführungszeichen - pazifiziert worden sind. Das ist ein neues Konzept, oder nicht mehr ganz so neu, und es stößt auch gerade mächtig an seine Grenzen, aber ein Konzept seit 2009, Favelas in Rio de Janeiro, die in der Regel von einer der drei großen Drogenhandelsfraktionen, die wir in Rio haben, kontrolliert werden, diese durch Polizei dauerhaft zu besetzen und den Drogenhandel zu vertreiben. Das hat ganz gut funktioniert und in diesen Favelas finden dann - und das ist der große Gewinn dieser zweiten Besetzung, es ist auch eine Besetzung durch die Polizei -, aber es ist eine, die dafür sorgt, dass diese Schießereien aufhören. Das heißt, diese Gebiete werden im Vergleich zu vorher relativ sicher. Und so können eben auch andere Menschen dann überhaupt erst dort reingehen. Das war ja lange Zeit gar nicht möglich. Und das hat auch viele Vorteile, weil sich die Mittelklasse, zum Beispiel brasilianische Mittelklasse, auch mal angucken kann, wie so eine Favela aussieht, und das feststellen, was wir ja schon besprochen haben, dass es differenzierte Gebilde sind und nicht die Horte des Bösen, als die sie immer gelten.
    Schumann: Und in diesen Favelas ist ja auch etwas Interessantes geschehen, erst mal hat der Staat sozusagen seine Verantwortung wieder sichtbar übernommen durch die Polizei, und andererseits ist aber auch manchmal die Müllabfuhr jetzt endlich wieder - ich weiß es von der Favela Santa Marta -, das da nun eine existierende Müllabfuhr geschieht, dass die Stromanschlüsse geregelt worden sind, dass die Abwässer auch richtig fließen und so weiter. Das kostet allerdings auch wieder für die Leute Geld neuerdings. Und insofern, ist die Lebensqualität dort zwar verbessert worden, aber die Lebensbedingungen sind auch teurer geworden.
    Bartelt: So ist es. Das ist positiv, die staatlichen Leistungen, das ist nicht überall schon so weit gediehen wie Santa Marta, Santa Marta ist eine Vorzeigefavela. Gerade das Thema Kanalisation ist ein ganz schwieriges, in dem Favelakomplex Alemão, ist eine sehr, sehr teure Seilbahn gebaut worden, die von der Mehrheit der Bevölkerung gar nicht gebraucht wird, und dafür laufen die Abwasser immer noch offen und stinkend und rattenbegleitend da den Hügel hinunter. Da gibt es immer wieder dieselben Klagen. Aber die staatlichen Dienste haben sich verbessert und, was Sie gerade angesprochen haben, Stromversorgung, Gasversorgung ist jetzt regulär. Regulär heißt aber auch, die Leute müssen die regulären Preise dafür bezahlen. Und damit sind wir wieder an dem Punkt, es wird sozusagen darüber, dass diese Gebiete vor allen Dingen ökonomisch angeschlossen werden an den Rest der Stadt, was viele Vorteile hat, zum Beispiel bekommen die Menschen jetzt eine ordentliche Adresse und viele können auch zum ersten Mal ein Bankkonto eröffnen, beides sind Voraussetzungen für viele Jobs. Also, das hat viele Vorteile, aber es hat eben ganz unbestreitbar vor allen Dingen in diesen Favelas, in der attraktiven Lage in Strandnähe dazu geführt, dass da ein Bevölkerungsaustausch schon stattfindet und sicherlich weiter stattfinden wird und wir dann in Rio de Janeiro irgendwann doch wieder die Situation haben, die wir in den meisten anderen großen Metropolen haben, dass die Armen eben an der Peripherie, am Rand wohnen und die Reichen im Zentrum.
    "Die Nerven liegen blank"
    Schumann: Nun bleiben wir noch einen Moment bei diesen Favelas. Anfang April sind dort mehrere Tausend Militärpolizisten in einzelnen Bereichen eingezogen. Das war problemlos möglich, aber sie werden auch dort nur bleiben bis zum Ende der Fußballweltmeisterschaft oder bis Ende Juli. Warum war es notwendig, dort nun neben der Polizei nun auch noch Militär zu stationieren?
    Bartelt: Der Favelakomplex Maré ist ein ziemlich großer, 16 Favelas, glaube ich, waren das mal, die da zusammengewachsen sind. Und der wird jetzt wieder durch das Militär, also das reguläre Militär besetzt, also Soldaten. Das ist möglich, wenn sich die entsprechenden staatlichen Stellen da einigen. Das haben sie getan. Der Grund ist, dass dieses Pazifizierungskonzept, also die Besetzung der Favelas durch die Polizei, durch die Militärpolizei, dauerhaft, dass das in diesem Komplex nicht funktioniert. Der Drogenhandel und auch teilweise Privatmilizen, die diesen Komplex kontrollieren und sich untereinander auch bekämpfen, die sind diesem Konzept nicht gefolgt, sind also nicht gegangen, sodass also jetzt der Staat sich gezwungen sieht, wieder auf dieses ganz unmittelbar repressive Instrument der militärischen Besetzung zurückzugreifen. Warum jetzt? Nun, das liegt auf der Hand, die Nerven liegen blank, die Weltmeisterschaft steht vor der Tür und es ist wirklich an der Route vom Flughafen in die Innenstadt zu den Hotels, zum Stadion, und das kann nicht sein, dass dort sich dieses offensichtliche Sicherheitsvakuum breitmacht. Insofern wird da jetzt ganz massiv operiert, es ist überhaupt keine Lösung für das Problem, es ist reine, sagen wir mal, panikgetriebene Makulatur.
    Schumann: Also keine nachhaltige Friedenspolitik, sondern schlicht die Sicherung von Großereignissen?
    Bartelt: Dieses Pazifizierungskonzept, was man sehr differenziert betrachten muss, ist von seiner Grundlogik her ganz klar auf die beiden großen Sportereignisse abgestellt. Wir haben ja in Rio dann 2016, also in zwei Jahren, dann die Olympischen Spiele noch, nicht zu vergessen. Und vieles von dem, was wir jetzt besprechen, geschieht auch schon in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele. Und wenn man sich anguckt, wo diese UPPs - so heißen diese Pazifizierungseinheiten, Befriedungseinheiten der Polizei -, wenn man sich anguckt, wo diese UPPs installiert wurden, dann ist das genau dort, wo die Sportstätten sind und wo die Hotels stehen. Da gibt es eine klare Beziehung, die auch kaum noch geleugnet wird, auch von Offiziellen, das ist einfach zu offensichtlich. Und das Problem ist, dass die staatlichen Stellen immer versprochen haben, wir machen das, als Voraussetzung dafür, aus diesen Favelas ordentliche Stadtteile zu machen und aus ihren Bewohnern ordentliche Staatsbürger. Denn es sind bisher immer Menschen, wenn man so will, zweiter Klasse gewesen, die zwar nominell Brasilianer sind, brasilianische Staatsbürger wie andere auch, die aber de facto keinen Zugang haben, keinen effektiven Zugang zu ganz wichtigen Rechten, staatliche Leistungen wie Müllabfuhr, Elektrizität, Wasserversorgung, aber auch die von der Polizei anders behandelt werden als andere Menschen. Die Zahl der von der Polizei Getöteten in Favelas ist unglaublich hoch, sie war 2007, das war der Höchststand, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen, 1.300 Menschen in einem Jahr, nur in Rio de Janeiro von der Polizei getötet. Oft, wie das die Menschenrechtler sagen, außergerichtlich hingerichtet. Die Zahl ist deutlich gesunken auf unter 500 Menschen und davon ist ein Großteil eben arm, jung und schwarz und wohnt in den Favelas. Diese Menschen sollten Berufsausbildung bekommen, sie sollten qualifiziert werden. Und dieses Programm kommt überhaupt nicht aus den Schuhen. Das heißt, die Konzentration liegt auf dem Sicherheitsaspekt, und der der sozialen Rechte hinkt deutlich hinterher.
    "Drogenhandel hat in Vorstädten zugenommen"
    Schumann: Und man könnte wohl auch sagen, dass die Drogenmafia und das organisierte Verbrechen, das es dort gegeben hat, sich dann in andere Favelas, die nicht kontrolliert werden in dieser Form, zurückgezogen hat?
    Bartelt: So ist es, ein Sankt-Florians-Prinzip, was dort waltet. Und es ist etwas, was völlig ausgeblendet wird aus der öffentlichen Wahrnehmung, dass in den Vorstädten der sogenannten Baixada Fluminense - das sind auch Millionenstädte mittlerweile außerhalb der Stadtgrenze -, dass dorthin der Drogenhandel gegangen ist und dass dort die Gewalt, auch die tödliche Gewalt enorm zugenommen hat. Was überhaupt nicht wahrgenommen wird, was aber genau auf diesen Verdrängungseffekt zurückzuführen ist.
    Schumann: Nun gibt es noch andere Neuigkeiten in der Stadtplanung, zum Beispiel ist das Hafenviertel, ein Teil des Hafenviertels, das völlig verödet war, in eine Art Kulturmeile verwandelt worden, es gibt neue Museen, für die Kultur ist sehr viel gemacht worden. Und das finde ich doch einen sehr positiven und doch vermutlich auch nachhaltigen Effekt.
    Bartelt: Das ist interessant, das ist für uns schön anzusehen. Daran will ich auch gar nichts kritisieren. Ich will nur kurz eine kleine Begebenheit erzählen, wir hatten mal einen Ausschuss des Deutschen Bundestages zu Besuch und da hatte das Konsulat dann eine Führung organisiert in diesem Hafengebiet, das hat offiziell den Titel "Wunderbarer Hafen", "Porto Maravilha". Und die haben einen Show Room, so einen abgedunkelten Raum mit lauter interaktiven Karten und Grafiken, die also zeigen, was sich da alles demnächst tun wird. Und bei dem Vortrag, den dieser Vertreter der Stadtverwaltung da hielt vor den deutschen Parlamentariern, kamen diese ganzen Neuerungen auch alle vor. Es kam nur eines nicht vor, und das waren Menschen. Nämlich die Menschen, die dort leben. Das ist etwas, womit sich Stadtplaner schon seit den 70er-Jahren spätestens beschäftigen, was macht man mit diesen alten Hafengebieten.
    Die alten Hafenstrukturen werden nicht mehr gebraucht, die sind oft zentrumsnah, und es taucht immer wieder das Problem auf, dass dort, weil es alte, dekadente Gebiete waren, eine einkommensschwache Bevölkerung lebt, oft nicht immer unter geklärten Besitzverhältnissen. Was macht man mit denen? Und in Rio de Janeiro passiert eben auch das, was wir vorhin schon besprochen haben, die werden dort ziemlich umstandslos entfernt. Wir reden von 40.000 Menschen in diesem kleinen Gebiet. Und das war heruntergekommen, das waren baufällige Häuser, um die sich niemand gekümmert hat, die von ihren Eignern einfach liegen blieben und auf bessere Zeiten hofften. Und jetzt sind die besseren Zeiten da, es findet eine enorme Inwertsetzung statt, der Quadratmeterpreis ist in die Höhe geschossen, und was macht man mit diesen Menschen? Und da setzt dieselbe Frage ein, da muss es zivilgesellschaftliche Prozesse geben, wo man die Rechte dieser Menschen ernst nimmt und sie einbezieht und sie nicht einfach sozusagen wie jetzt überflüssiger Schutt einfach entsorgt und wegräumt.
    "Die Fahrpreiserhöhung war ein Auslöser"
    Schumann: Das heißt also, diese Kulturmeile, oder wie immer man sie bezeichnen möchte, ist ein typisches Beispiel für diese Gentrifizierung bestimmter Stadtteile?
    Bartelt: Ganz genau, dieses Gebiet ist in hohem Maße attraktiv jetzt geworden für Investoren und es läuft eben nach diesem Muster. Und deswegen hängt das, was wir vorhin über Sicherheitspolitik besprochen haben, auch mit dieser Eventlogik … Oder es gibt auch Leute, die sagen, die Städte verwandeln sich selbst in Unternehmen, die untereinander in Konkurrenz treten und eben nach ökonomischen, nach Marktprinzipien funktionieren. Und da ist die Sicherheitspolitik dann erst mal eine Voraussetzung. Denn natürlich war auch dieses Hafengebiet unsicher im Sinne von Kriminalität, die Polizei war kaum präsent. Und deswegen gab es da auch kein Interesse, da hinzugehen. Jetzt ist das Interesse da, man hat dieses Gebiet sozusagen gesichert, das ist der erste Schritt, dann "säubert" von Menschen, die dort dann jetzt die bald zu erwartenden Mieten und Kaufpreise nicht bezahlen können, und dann kann man das umgestalten.
    Schumann: Es hat nun im März des vergangenen Jahres bereits große Massenproteste gegeben, die hatten zwar zunächst nichts mit der Fußballweltmeisterschaft zu tun, sondern mit einem ganz praktischen Problem, der Erhöhung der Nahverkehrspreise. Diese Proteste haben sich aber doch sehr breit ausgeweitet, wurden zu Massenprotesten in São Paulo, in Rio, und … Kann man sagen, dass damals ein Bewusstsein entstanden ist, das dann auch ein sehr kritisches Verhältnis zu diesen ganzen Umbauten durch die Fußballweltmeisterschaft geschaffen hat?
    Bartelt: Ja, das war, glaube ich, für uns alle und auch für die Brasilianer selbst, die auch in diesem Selbstbild ja leben, dass, wenn ihre Nationalmannschaft spielt, sie feiern und alles andere vergessen, dieses Bild von den Brasilianern ist, glaube ich, nachhaltig erschüttert worden. Und das ist auch gut so, denn während des Confederations Cup, also dieser Mini-WM, die die FIFA seit einiger Zeit immer ein Jahr vor der offiziellen Weltmeisterschaft veranstaltet und die Brasilien ja überraschend souverän gewann da vor einem Jahr, während dieser Mini-WM waren Proteste, und zwar außerhalb der Stadien und auch innerhalb der Stadien. Also, es waren Leute, die Fußball mögen und Fußball wollen und trotzdem der Meinung waren, hier findet jetzt ein wichtiges Anliegen statt und das unterstützen wir. Und die Fahrpreiserhöhung war ein Auslöser. Aber diese Massivität, die auch alle wirklich überrascht hat, selbst den brasilianischen Geheimdienst, der hat das nicht vorhergesehen, diese Massivität ist ja Ausdruck dafür, dass da etwas schon unterschwellig vorhanden war, etwas gärte, wenn Sie so wollen, was dann ein Kairos, einen Moment erfuhr, um ans Licht zu treten, und zwar wirklich eruptiv.
    "Brasilien ist sehr, sehr teuer geworden"
    Schumann: Das wollte ich gerade sagen, denn es ist doch erstaunlich, dass es Massenproteste gegeben hat in einem Moment, in dem Brasilien einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat, es auch einen sozialen Aufschwung gegeben hat, dass viele Leute aus den ärmsten Bereichen durch die Bolsa Família, also ein Sozialprogramm, doch mehr konsumieren konnten, sie sich besser versorgen konnten. Trotz dieser Verbesserungen der sozialen und ökonomischen Lage solche Massenproteste, das ist doch eigentlich ein Widerspruch?
    Bartelt: Auf den ersten Blick ja, auf den zweiten Blick, glaube ich, nein. Denn zum einen gehen mit diesen Einkommensverbesserungen auch deutliche Preiserhöhungen einher, Rio, Brasilien überhaupt ist sehr, sehr teuer geworden, und es ist auch so, dass natürlich dann damit auch, wenn Sie so wollen, die Ansprüche steigen. Und letztlich ist die Tatsache, dass Sie mehr verdienen und sich vielleicht auch jetzt einen Flachbildfernseher kaufen können und vielleicht auch eine etwas größere Wohnung mieten können, ist positiv; wenn aber gleichzeitig die Fahrpreise erhöht werden, die Busse immer voller sind und immer länger brauchen, um mich von meiner Wohnung zu meinem Arbeitsplatz zu bringen und zurück, das ist für viele Brasilianer in den Städten - mehr als 80 Prozent der Brasilianer leben heute in großen Städten -, sind das Fahrzeiten von zwei Stunden und mehr, die die zu bewältigen haben, eine Fahrt! Und dann am Abend wieder zurück.
    Wenn Sie sehen, dass das öffentliche Gesundheitswesen überhaupt nicht leistungsfähig ist, dass die Leute in den Fluren auf dem Fußboden liegen in den öffentlichen Krankenhäusern, und wenn Sie sich das öffentliche Bildungssystem ansehen, was im Grunde Kinder, die nicht auf Privatschulen gehen können, dazu verdammt, ihr Leben als minderqualifizierte oder nicht qualifizierte Hilfsarbeiter zu verbringen, das ist ein bisschen überspitzt, aber auch wirklich nur ein bisschen, was ich jetzt sage, und das sind Sachen, die stehen in dem Widerspruch zu dieser Erfolgserzählung und werden dann auch durch den Einkommenszuwachs, der mehr über den Mindestlohn übrigens gegangen ist als über Bolsa Família … Bolsa Família betrifft die Allerallerärmsten, das ist ein Anti‑Elendsprogramm, aber dieser Konsumzuwachs, diese neue Mittelklasse, die da entstanden ist, das ist über die Mindestlohnzuwächse gegangen. Und das ist übrigens was … Und das merken die Menschen genau auch, denn die Proteste passierten auch nicht ungefähr in dem Jahr, in dem das brasilianische Wirtschaftswachstum nur noch 0,9 Prozent betrug.
    "Die Gewalt nimmt wieder zu"
    Schumann: Sie haben davon gesprochen, dass während des Confederations Cup es bereits Demonstrationen in den Stadien gegeben hat. Kann man erwarten, dass während der Fußballweltmeisterschaft es ähnliche Proteste geben wird?
    Bartelt: Ich glaube, nicht in der Größenordnung, wie wir das im Juni, vor allen Dingen am 20. Juni letzten Jahres erlebt haben, als überall in Brasilien, selbst in kleineren Städten insgesamt an die zwei Millionen Menschen auf die Straße gingen. Man muss aber auch sagen, die Proteste haben seitdem nicht aufgehört. Sie haben sich radikalisiert, es gibt einen neuen Akteur auf der Szene in Brasilien, auf der Protestszene, das sind die schwarzen Blocks. Das schreckt auch viele ab, weil es da jetzt regelmäßig zu sehr heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt. Aber die strukturellen Ursachen, diese strukturelle Misere, die wir besprochen haben, daran hat sich nicht viel getan, und auch das Versprechen einer politischen Reform, das war dann das, was die Lösung der Regierung war, zu sagen, wir müssen über politische Reformen nachdenken, es sollte ursprünglich ein Plebiszit geben, das wurde dann nicht mehr weiter verfolgt, aber auch diese politischen Reformen, davon redet keiner mehr. Die Stimmung im Land ist nicht gut, die Proteste haben nicht aufgehört, sie sind kleiner, sie sind vereinzelter, aber sie sind nach wie vor da. Die Gewalt nimmt wieder zu, deutlich spürbar, sodass ich schon davon ausgehe, dass wir während der Weltmeisterschaft da einiges erleben werden. Diejenigen, die auf zivilgesellschaftlicher Seite so etwas organisieren, wissen natürlich auch, dass es günstig ist, so etwas zu organisieren, wenn die internationale Presse so massiv anwesend sein wird, wie sie es sein wird während der Fußballweltmeisterschaft.
    Schumann: Letzte Frage, Herr Bartelt: Es wird im Oktober Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geben. Ist der Fußball in Brasilien so einflussreich, dass diese Weltmeisterschaft das Ergebnis beeinflussen kann?
    Bartelt: Fußballweltmeisterschaften sind immer wichtig für die Politik, sie sind nach meiner Einschätzung aber nicht wahlentscheidend. Also, die Popularität der Präsidentin Dilma Rousseff oszilliert, sie schwankt, aber sie schwankt auf hohem Niveau. Und ich erwarte einen Wahlsieg von Dilma Rousseff, im zweiten Wahlgang vermutlich, und wenn Brasilien nicht Weltmeister wird, dann wird das im Juli wahrscheinlich auch zu einem Popularitätsrückgang führen, aber bis Oktober ist dann auch Zeit. Und deswegen glaube ich, das wird nicht wahlentscheidend sein. Es ist eher die Frage wieder der Proteste. Die Präsidentin ist so in der öffentlichen Meinung so wenig mit Fußball verbunden, die Regierung insgesamt schon, aber bis Oktober ist noch Zeit. Also, nicht wahlentscheidend, wahlbeeinflussend möglicherweise.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Dawid D. Bartelt ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro und Autor des Buches "Copacabana - Biogrfhie eines Sehnsuchtsortes".