Folgenreiche Begegnung

23.04.2010
"Just Kids" heißt die Autobiografie, die Patti Smith nun über ihre Jugendjahre im New York der späten 60er und frühen 70er geschrieben hat. Sie beschreibt ihren Weg zur Rockmusik, der durch ihre Freundschaft zu Bob Mapplethorpe möglich war.
Lieber hätte sie in der Lyrikabteilung gearbeitet. Doch nachdem Patricia wochenlang ohne einen Cent leben musste und die Nächte bei Freunden, in Hausfluren oder unter freiem Himmel verbracht hatte, war ihr jeder Job recht, den die große Buchhandlung im Norden Manhattans ihr anbot. Also stand sie fortan an der Kasse für Grußkarten und für Folkloreschmuck. Welch ein Glück! Denn hier macht sie bald die folgenreichste Bekanntschaft in ihrem jungen Leben: Ein süßer schmaler Junge in weißem Hemd mit Krawatte kauft ihr eine persische Halskette ab. Bob sieht aus wie ein katholischer Messdiener. Wie Patrica schlägt er sich mit kleinen Jobs durch und hofft auf eine Karriere als Künstler. Wie Patricia ist er vor der Enge seines kleinbürgerlichen Elternhauses geflohen – nach New York, in die glamouröse, inspirierte Boheme im Manhattan der späten 60er-Jahre. Aus Patricia und Bob wird ein Liebespaar, sie ziehen erst in ein altes Haus in Brooklyn und dann in ein winziges Zimmer im berühmten Chelsea Hotel. Patricia beginnt, Gedichte zu schreiben, Bob widmet sich bald der Fotografie.

Da schreiben wir das Jahr 1970. Am Ende der Dekade wird aus Patricia "Patti" Smith, eine der bedeutendsten Rockmusikerinnen geworden sein und aus Robert "Bob" Mapplethorpe, einer der bedeutendsten Fotografen. Aber hier und jetzt sind sie nur zwei Kinder auf der Suche nach verwandten Seelen, auf der Suche nach dem Glück und der Kunst: "just kids".

"Just Kids" heißt die wunderbare Autobiografie, die Patti Smith nun über ihre Jugendjahre im New York der späten 60er und frühen 70er geschrieben hat. Sie reicht bis zur Veröffentlichung ihrer ersten Platte "Horses" im Jahr 1975. Es ist eine Umbruchszeit. Der "Summer of Love" ist vorbei, die musikalischen Helden des vergangenen Jahrzehnts sind tot: John Coltrane, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison. Am Horizont zeichnet sich schon die Revolution des Punk und des New Wave ab, zu deren neuen Heldinnen Patti Smith einmal gehören wird. Doch ihr Weg dahin – das wird in dieser Autobiografie mehr als deutlich – führt nicht in erster Linie über die Musik. Ihre Inspirationen bezieht Patti Smith aus der Malerei und der Literatur, vor allem aus den Gedichten Arthur Rimbauds. Das 19. Jahrhundert ist ihr stets wichtiger als das 20. gewesen – die wahrhaft neue Kunst, die sie einmal erschaffen wird, speist sich ganz aus der Aneignung der Überlieferung.

Das verbindet sie mit Robert Mapplethorpe und mit vielen anderen Bohemiens, die in ihren Erinnerungen wieder zum Leben erwachen: jenen Künstlern und Freaks, aus denen die damals noch so lebendige Szene Manhattans besteht. Smith schildert, wie die beiden allmählich Zugang zu den geheiligten Kreisen Andy Warhols gewinnen; wie Mapplethorpe seine ersten Ausstellungen organisiert und sie ihre Gedichte zu musikalischer Begleitung vorzutragen beginnt. Die ersten, entscheidenden Schritte auf dem Weg zu ihrer jeweils eigenen Kunst gehen beide durchweg gemeinsam. Sie inspirieren und korrigieren und vertrauen einander wie sonst keinem Menschen. In den zartesten und schönsten Passagen ihres Buchs erzählt Patti Smith so auch davon, wie Kunst aus der Liebe und dem Vertrauen entsteht. Die Geschichte ihrer Jugend ist die Geschichte einer kostbaren und unwiederbringlichen Freundschaft: Robert Mapplethorpe starb im Jahr 1989 an Aids.

Besprochen von Jens Balzer

Patti Smith: Die Geschichte einer Freundschaft
Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
304 Seiten, 19,95 Euro