Journalist zur Görlitzer OB-Stichwahl

"Erschrocken, wie gespalten diese Gesellschaft ist"

06:31 Minuten
Wahlplakate mit den Fotos der beiden Oberbürgermeisterkandidaten für Görlitz: Sebastian Wippel (AfD, oben) und Octavian Ursu (CDU).
Am 16. Juni 2019 findet in Görlitz der zweiten Wahlgang der Oberbürgermeisterwahl statt. In der Stichwahl: Ein AfD- und ein CDU-Kandidat © dpa / picture-alliance / Sebastian Kahnert
Sebastian Beutler im Gespräch mit Ute Welty · 15.06.2019
Audio herunterladen
Wird erstmals ein AfD-Politiker Oberbürgermeister? In Görlitz tritt am Sonntag AfD-Kandidat Sebastian Wippel in einer Stichwahl gegen den CDU-Bewerber Octavian Ursu an. Der Journalist Sebastian Beutler meint dazu: Die Spannung in der Stadt sei heftig.
Ute Welty: Wie groß ist die Spannung in der Stadt vor dieser Wahl?
Sebastian Beutler: Ach, die ist schon ziemlich heftig. Es gibt großen Meinungsstreit. Und jetzt hat sich auch alles auf diese Wahl zugespitzt. Und es ist gut, wenn es morgen dann auch vorbei ist.
Welty: Worüber ist denn gestritten worden?
Beutler: Gar nicht so sehr über Görlitzer Themen, die spielten auch eine Rolle, die Grenzlage, die etwas abgelegene Lage von Görlitz, aber aus meiner Sicht ist es vor allem ein Stellvertreterkrieg. Es geht nur noch um die Frage, ob es die AfD hier schafft, erstmals einen Oberbürgermeister bei einer Wahl zu stellen oder nicht.

Zukunftsängste in der Vorzeigestadt

Welty: Grundsätzlich gilt Görlitz ja als Vorzeigestadt der Wende. Eine Milliarde Euro sind in die Restaurierung geflossen, neue Firmen haben sich angesiedelt. Warum sind die Menschen offenbar dennoch nicht zufrieden?
Beutler: Sie sind schon sehr stolz darauf, dass die Stadt so schön ist wie wahrscheinlich nie zuvor in ihren über 900 Jahren. Aber es ist natürlich auch andererseits so, dass sie sich Sorgen machen, wovon sie künftig leben werden. Die großen Arbeitgeber bauen Arbeitsplätze ab: Bombardier, Siemens. Neue kommen nur wenig dazu. Und da kommt so eine Gemengelage heraus, dass man sich abgehängt fühlt von den Entwicklungen, die es im ganzen Land gibt.
Und jetzt kommt auch noch der Strukturwandel mit der nahen Braunkohle, wo der Ausstieg beschlossen ist. Und diese Ungewissheiten vermengen sich zu dieser Stimmungslage.

"Es geht gar nicht so sehr um diese Kandidaten"

Welty: Und wenn man sich dann die Ergebnisse des ersten Wahlgangs anschaut, ruhen die Hoffnungen der Menschen dann tatsächlich auf diesen beiden Kandidaten?
Beutler: Ich glaube, wie gesagt, es geht gar nicht so sehr um diese Kandidaten. Es geht jetzt darum, ob man protestwählt, ob man ein Signal setzt, dass es so nicht weitergehen soll. Oder ob man sagt: Nein, wir wollen diesen rabiaten Wechsel nicht, diesen Systembruch, sondern denken, dass das auch mit den seit Jahren sozusagen vertrauten Gremien und Politikern auch in der Zukunft funktioniert.

"Man fühlt sich nicht wahrgenommen"

Welty: Inwieweit ist die Stimmung in Görlitz typisch für Sachsen und überhaupt für Ostdeutschland?
Beutler: Sie ist insofern typisch, als dass man sich ein wenig nicht wahrgenommen fühlt. Görlitz galt ja hier so als Tal der Ahnungslosen, weil es zu DDR-Zeiten kein Westfernsehen gab und man auch sonst ziemlich abgelegen lag. Und ich glaube, dieses Gefühl ist nach wie vor hier, weil die, die aktiv sind, häufig ja auch weggegangen sind.
Görlitz alleine hat seit der friedlichen Revolution über 20.000 Menschen verloren. Und schon davor war die Abwanderung groß. Wir haben jetzt diese Statistiken, die zu 30 Jahre friedliche Revolution erscheinen, wie groß der Aderlass war. Die, die weggegangen sind, das waren Aktive, das waren Leute, die sich etwas zugetraut haben, und nur langsam kehrt sich dieser Trend wieder um.

Die Geduld ist nicht mehr groß

Welty: Was muss denn passieren, damit sich dieser Trend stärker umdreht, dass wieder mehr Menschen nach Görlitz ziehen?
Beutler: Die Politik reagiert langsam aber sicher doch darauf. Wir haben gerade jetzt bei dem Kohleausstieg auch Dinge vereinbart, auf die wir 20 Jahre warten, zum Beispiel die Elektrifizierung der Eisenbahnstrecken von Görlitz nach Dresden und von Görlitz nach Berlin.
Das würde dann eine Situation beenden, dass wir heute mit der Bahn länger unterwegs sind nach Berlin als in den 1930er-Jahren. Es sollen Forschungsinstitute kommen. Erst gestern gab es die Nachricht, dass es ein großes Forschungsinstitut mit 100 Wissenschaftlern in Görlitz geben soll, das sich dem Klimawandel und auch dem autonomen Fahren widmen wird.
Es gibt vieles, was angestoßen, angeschoben wird. Aber es ist noch nicht da. Und diese Lücke, die jetzt auch noch einige Jahre dauern wird und die sich natürlich auch bei der ganzen Lage in der Sicherheit, mehr Polizei, mehr Lehrer, das ist ja ein großes Thema in Sachsen, auftut, – diese Lücke muss jetzt geduldig abgewartet werden. Aber diese Geduld ist nicht mehr groß da.

Brief von prominenten Schauspielern

Welty: Schauspieler wie Daniel Brühl und Achim Rohde haben sich klar gegen die AfD positioniert, weil Görlitz eben auch eine Filmstadt ist, Schauplatz für Produktionen wie "Der Vorleser" oder "Grand Budapest Hotel". Hilft das? Oder verhärtet ein solcher offener Brief dann eher die Fronten?
Beutler: Also dieser Brief ist sehr kontrovers diskutiert worden, ob er wirklich etwas bezweckt hat. Ich glaube, er hat die Lager bestätigt in ihren Ansichten. Dass die einen sagen, dass man vorgeschrieben bekommt, was man zu wählen hat. Die anderen sagen: Seht ihr? Das passiert, wenn ein AfD-OB hier in Görlitz regiert.

"Kuriose Stimmungslage"

Welty: Wie gehen die Görlitzer damit um, dass diese Wahl, diese Stichwahl morgen so überfrachtet wird?
Beutler: Ich glaube, sie sind zusehend genervt und hoffen, dass das jetzt mal ein Ende hat. Es ist so eine kuriose Stimmungslage. An der Oberfläche ist das gar nicht so sehr zu spüren, da geht der Alltag weiter, da ist eben normales Leben. So im normalen Umgang, im Gespräch mit Görlitzern ist das immer wieder ein Thema. Und, ja, sie sind ein bisschen, glaube ich, auch erschrocken, wie gespalten diese Gesellschaft ist.
Welty: Was glauben Sie, wie geht die Wahl morgen aus?
Beutler: Also ich gebe da, ehrlich gesagt, keinen Tipp ab. Es wird sehr, sehr knapp und alles kommt sicherlich auch ein Stück weit auf die Wahlbeteiligung drauf an.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema