Dienstag, 30. April 2024

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Europäische Asylrichtlinien
Völkerrechtler: Griechenland muss Asylanträge annehmen

Wenn Griechenland für länger als eine Woche alle Grenzübergangsstellen sperre, dann verstoße das explizit gegen die europäischen Asylrichtlinien, sagte der Europa- und Völkerrechtler Daniel Thym im Dlf. Die EU habe es nicht geschafft, zuverlässige Asylverfahren aufzubauen.

Daniel Thym im Gespräch mit Sandra Schulz | 06.03.2020
Zwei junge Männer stehen an einem Stacheldraht-Zaun und blicken hindurch.
"Es muss die Gelegenheit geben, in einer realistischen zeitlichen Perspektive einen Antrag zu stellen", so Völkerrechtler Daniel Thym (AFP/Bulent Kilic)
Griechenland hat angekündigt, einen Monat lang keine Asylanträge mehr anzunehmen. Zuvor hatten zahlreiche Migranten versucht, in das EU-Land zu gelangen, nachdem die benachbarte Türkei die Öffnung der Grenze angekündigt hatte. Daniel Thym ist Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht und auch Fachmann für europäisches Asylrecht. Seiner Auffassung nach muss Griechenland die Möglichkeit geben, an der Grenze Asyl zu beantragen.
Sandra Schulz: Es sitzen jetzt Tausende Menschen unter anderem deswegen in diesem türkisch-griechischen Grenzgebiet fest, weil Griechenland Anfang der Woche angekündigt hat, bis auf Weiteres für einen Monat keine neuen Asylanträge mehr anzunehmen. Geht das?
Daniel Thym: So einfach geht das nicht, denn in Griechenland gilt ein anderes Recht als in der Türkei, was wir eben im Beitrag gehört haben. In Griechenland gelten die europäischen Asylrichtlinien und die enthalten ganz genauso wie das deutsche Grundgesetz ein großzügiges Individualrecht auf Asyl. Das heißt, dort steht schwarz auf weiß, dass man an der Grenze Asyl beantragen kann, und man muss dann auch ins Land gelassen werden. Wenn Griechenland systematisch für länger als eine Woche alle Grenzübergangsstellen sperrt und überhaupt niemanden mehr ins Land lässt, dann verstößt das höchst wahrscheinlich gegen den Geist und sicher auch gegen den Wortlaut der europäischen Asylrichtlinien.
Migranten und Flüchtlinge versammeln sich hinter einem Drahtzaun an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei in der Nähe des geschlossenen Grenzübergangs Kastanies.
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Schulz: Jetzt verweisen in der Politik aber viele Stimmen auf einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der ja gesagt hat - da ging es um die Migranten, die die spanische Exklave Melilla erreicht haben -, dass die sehr wohl zurückgeschickt werden können, ohne Asylverfahren zu durchlaufen. Warum beurteilen Sie das dort anders?
Thym: Die Politiker, die darauf verweisen, haben natürlich recht. Der EGMR, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, hat dieses Urteil gesprochen und man kann es vermutlich sogar auf die griechisch-türkische Grenze übertragen. Allerdings betrifft dieses Urteil nur die Menschenrechte, das heißt die internationalen Standards, die alle Staaten einhalten müssen. Das was ich davor gesagt habe, betrifft aber die europäischen Richtlinien, die europäische Gesetzgebung. Die kann strenger sein als die Menschenrechte, und die verletzt momentan Griechenland.
"Großes Problem der europäischen Asylpolitik"
Schulz: Das heißt, dass jetzt in diesem Moment Griechenland eigentlich diese Verriegelung aufheben müsste, die Menschen einreisen lassen müsste und die dann Asylverfahren durchlaufen können müssten?
Thym: Griechenland muss die Möglichkeit geben, an der Grenze Asyl zu beantragen. Das heißt sicher nicht, dass man die Grenze voll öffnen und alle Grenzzäune niederreißen muss. Allerdings muss es die Gelegenheit geben, in einer realistischen zeitlichen Perspektive einen Antrag zu stellen, und das heißt dann ganz konkret auch, dass man ins Land gelassen wird und dass dort dann ein Asylverfahren stattfindet. Das kann theoretisch schnell gehen und da kann auch als Ergebnis herauskommen, dass die Personen zurück in die Türkei müssen, weil die Türkei ein sicherer Drittstaat ist, aber all das wird nach den europäischen Regeln in einem Verfahren festgestellt.
Schulz: Wenn diese Ansprüche jetzt an der Realität abprallen - gerade im Falle Griechenlands ist es ja so, dass das Land, dass die Behörden dort mit den Asylanträgen überhaupt nicht hinterher kommen.
Daniel Thym (Lehrstuhl für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Universität Konstanz) nimmt teil an der Konferenz "Zuwanderung nach Deutschland - Einwanderungsland Bundesrepublik?"
Europa- und Völkerrechtler Daniel Thym (dpa / Jörg Carstensen)
Thym: Das ist richtig und das ist ein ganz großes Problem der europäischen Asylpolitik, dass man Gesetze schreibt, die sehr schöne und gute Inhalte enthalten, dass man die aber dann in der Praxis nicht umgesetzt bekommt, und zwar insbesondere an den europäischen Außengrenzen. Dort hat man es nicht geschafft, in den vergangenen fünf Jahren Asylverfahren aufzubauen, die schnell funktionieren, die zuverlässig und auch qualitätsvoll sind und die auch mit guten Unterbringungsstandards verbunden sind, und das ist auch ein Scheitern der europäischen Asylpolitik, dass sie es nicht geschafft haben, die Gesetze in der Praxis umzusetzen.
Schulz: Ich würde aber den Punkt gerne noch verstehen. Sie sagen, es müsste die Möglichkeit der Einreise geben, obwohl wir auf der anderen Seite doch das europäische Abkommen mit der Türkei haben - des Inhalts, dass gerade die Türkei diese Auswahl übernimmt und dass die Flüchtlinge dann auf anderem Wege in die EU einreisen können und nicht durch diesen Grenzübertritt.
Thym: Absolut. Und ich halte das Übereinkommen auch für sehr sinnvoll. Aber die Umsetzung des Übereinkommens findet so statt, dass in Griechenland ein kurzes Verfahren stattfindet und die Menschen dann in die Türkei zurücküberstellt werden. Das hat in den vergangenen Jahren allerdings schon sehr schlecht funktioniert und das ist wohl auch ein Grund, warum die Griechen das aktuell nicht mehr anwenden möchten, weil sie die Sorge haben, wenn sie die Menschen einmal über die Grenze gelassen haben, dass sie dann faktisch lange Jahre in Griechenland bleiben und sie dann auf dem Problem sitzen bleiben, und das wollen sie nicht.
Schulz: Wenn Sie jetzt schildern, dass die Zustände aus Ihrer Sicht wohl gegen EU-Recht verstoßen, wer könnte das dann wo vor welchem Gericht wie einklagen?
Thym: Das können Einzelpersonen versuchen einzuklagen. Dann müssten sie allerdings zuerst zu den griechischen Gerichten gehen und das dürfte derzeit tatsächlich natürlich schwierig sein. Rein theoretisch könnte auch die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ein Verfahren einleiten. Auch das dauert allerdings durchaus lange und die Kommission scheint, derzeit auch politisch nicht unbedingt gewillt zu sein, das voranzutreiben.
"An einen Tisch setzen, eine vernünftige Lösung finden"
Schulz: Es gibt ja auch Berichte über Gewalt gegenüber den Menschen, die von den griechischen Sicherheitskräften kommt. Da muss man fairer Weise und ehrlicher Weise und der Vollständigkeit halber sagen, dass das von der griechischen Seite dementiert wurde. Aber wie beurteilen Sie das? Physischer Zwang, wie Juristen sagen, in so einer Situation, rechtlich komplett ausgeschlossen?
Thym: Komplett ausgeschlossen ganz sicher nicht. Wer versucht, illegal über die Grenze zu gelangen, etwa über den Zaun zu klettern, den dürfen die Grenzpolizisten auch davon abhalten und da darf man auch Gewalt notfalls anwenden, ganz genauso wie man in deutschen Städten bei Demonstrationen, die außer Kontrolle geraten, ja auch Gewalt und notfalls auch mal Tränengas oder Wasserwerfer einsetzt. Gewalt ist nicht gänzlich ausgeschlossen. Das muss natürlich verhältnismäßig sein und vor allem, was ich am Anfang sagte, muss irgendwo die Möglichkeit bestehen, auch legal Asyl zu beantragen, und das ist in Griechenland momentan nicht gewährleistet.
Schulz: Welche Rolle spielt es jetzt für die juristische Beurteilung, ob die Menschen vorher schon länger in der Türkei waren?
Thym: Für das europäische Asylrecht, was ich anfangs nannte, spielt das eigentlich keine entscheidende Rolle, weil das gibt diesen Individualanspruch wieder, den auch das Grundgesetz kennt, dass man erst mal ins Land gelassen wird, damit dann ein Verfahren durchgeführt wird. Allerdings kann, gerade weil sie länger in der Türkei waren, das Ergebnis des Verfahrens dann sein, dass man sie in die Türkei zurückschickt, aber das wird erst in einem Verfahren festgelegt und da könnte man jetzt gut über eine Reform nachdenken, ob man das vielleicht nicht ändert, weil das in der Tat wenig Sinn zu machen scheint, erst mal jemand ins Land zu lassen, um ihn dann zurückzuschicken. Aber das geltende Recht ist es nun mal.
Schulz: Eine Reform in welche Richtung würde aus Ihrer Sicht Sinn ergeben?
Thym: Eine Reform muss immer verschiedene Aspekte beinhalten. Ganz sicher notwendig ist, dass wir in Griechenland schnelle funktionierende Verfahren aufbauen, die momentan nicht existieren. Notwendig ist auch, dass man Griechenland nicht alleine lässt, dass man die Flüchtlinge irgendwie verteilt. Aber notwendig ist ganz sicherlich auch, dass man sich mit der Türkei an einen Tisch setzt, und zwar nicht, weil man sich von der Türkei erpressen lassen will, sondern ganz einfach, weil die Türkei Nachbar ist und weil ein Land, auch die Europäische Union als Gemeinschaft alleine die Migration nie sinnvoll steuern kann, sondern da muss man mit den anderen Ländern zusammenarbeiten, und da ist im östlichen Mittelmeer nun mal die Türkei der Nachbar. Also muss man sich an einen Tisch setzen, eine vernünftige Lösung finden, die man ja vor ein paar Jahren auch gefunden hat, und das muss man jetzt erneuern und dann wird man die Lage vielleicht auch wieder in den Griff bekommen.
"Unfähigkeit, das Asylrecht intern zu reformieren"
Schulz: Das Flüchtlingsabkommen würden Sie als vernünftige Lösung bezeichnen, obwohl es der EU jetzt im Moment ja, wie es aussieht, massiv auf die Füße fällt?
Thym: Es hat aber jahrelang auch vergleichsweise gut funktioniert, und zwar nicht nur, weil es Leute von der EU fern gehalten hat, sondern weil man den Leuten in der Türkei eine Lebensperspektive eröffnet hat. Man hat dort Schulen gebaut, man hat die Kinder dabei unterstützt, dass sie in die Schule gehen, man hat so die Familien vor Ort verankert, ihnen auch eine Lebensperspektive gegeben, und das ist etwas, was man sicher auch fortführen muss. Die Programme laufen in Kürze aus und da wäre die EU sicher gut beraten, hier weiter Geld zu investieren.
Schulz: Kritiker haben immer wieder darauf hingewiesen, dass sich mit diesem Abkommen die Europäer erpressbar gemacht haben. Auch das scheint sich jetzt in diesem Moment zu verwirklichen. Wenn wir aber den Schritt noch weitergehen und sagen, was ja auch parallel in dieser Flüchtlingsdiskussion permanent gesagt wurde, nämlich dass auch das europäische Asylrecht dringend einer Reform bedarf, was ist da jetzt geschehen in diesen letzten Jahren, in denen sich die Europäische Union ja Zeit gekauft hat mit dem Abkommen?
Thym: Leider reichlich wenig. Man hat zwar verhandelt und man hat auf einer technischen Arbeitsebene auch viele Richtlinien im Detail vorangebracht in den Verhandlungen. Aber die politischen Knackpunkte, nämlich die Verteilungsfrage, die bleibt ungelöst, und solange die ungelöst ist, wird auch die Reform nicht angenommen werden. Und das führt dann in der Praxis dazu, dass die Flüchtlinge wie eine heiße Kartoffel hin- und hergereicht werden. Niemand will sie haben. Und der gemeinsame Nenner, auf den man sich dann verständigt, ist, die Grenzen dicht zu machen. Das erleben wir derzeit in Griechenland. Die Unfähigkeit, das Asylrecht intern zu reformieren, führt dazu, dass nach außen dicht gemacht wird und niemand mehr reingelassen wird. Das finde ich schade. Man müsste das kombinieren. Aber das scheint derzeit illusorisch zu sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.