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"In gesicherten Quellen recherchiert"

Auch Beate Varnhorn, Verlagsleiterin Brockhaus-Redaktion, nutzt häufig Wikipedia im Internet. Sie sieht die klassische Enzyklopädie auch nicht im Widerspruch dazu: Das Ziel sei ein anderes, im Brockhaus etwa würden "nur gesicherte Informationen zusammenfasst". Die klassische Enzyklopädie müsse sich aber auch weiterentwickeln.

Beate Varnhorn im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.09.2010
    Christoph Heinemann: In Leipzig findet gegenwärtig eine Konferenz über das Internet-Lexikon "Wikipedia" statt. "Wikipedia" ist eine 2001 gegründete freie Online-Enzyklopädie in zahlreichen Sprachen. Der Name "Wikipedia" ist ein Kofferwort, das sich aus Wiki, hawaiisch für schnell, und Enzyklopedia zusammensetzt, dem englischen Wort für Enzyklopädie. Wie bei Wiki-Projekten üblich werden die Artikel bei "Wikipedia" gemeinschaftlich erstellt und geändert. In den meisten Sprachversionen ist dazu keine Registrierung erforderlich. Diese Erklärung habe ich jetzt zitiert nach – raten Sie mal? – "Wikipedia".

    Ein Unternehmen mit Chancen und Risiken, wie unser Kollege Felix Hügel gleich berichtet. Vor allen Dingen, als der sogenannte "Wiki"-Scanner eingeführt wurde, waren die Experten doch einigermaßen überrascht.

    Wer etwas auf sich hält, der freut sich über oder er sorgt für einen Eintrag in "Wikipedia". Das versuchen wir jetzt mal. Wir machen jetzt einen kleinen Selbstversuch. Ich versuche, jetzt mal meinen Namen einzugeben, schicke das Mal los - und nichts. Ich erkenne: Ich bin und bleibe unwichtig, und das beruhigt ja auch irgendwo.

    Aus der Bedeutungslosigkeit heraus setzen wir jetzt diese Sendung fort im Gespräch mit Dr. Beate Varnhorn. Sie ist die Verlagsleiterin der Brockhaus-Redaktion. Guten Tag!

    Beate Varnhorn: Ja, guten Tag!

    Heinemann: Frau Varnhorn, nutzen Sie "Wikipedia"?

    Varnhorn: Ja. Wenn ich bei Google nach Stichwörtern suche, lande ich durchaus gelegentlich in der "Wikipedia". Zum Beispiel hatte ich am letzten Wochenende ein Läuseproblem in meiner Familie, meine Tochter hatte Läuse. Und ich habe natürlich ganz schnell bei Google nachgeschaut, um zu gucken, ist das überhaupt wirklich eine Laus, was ich da sehe, und was mache ich dagegen und bin bei der "Wikipedia" gelandet. Da hat die "Wikipedia" für mich quasi Ratgebercharakter gehabt. Vorsichtshalber habe ich trotzdem noch mal beim Robert-Koch-Institut nachgeguckt und geschaut, ob die angeratenen Medikamente dann auch wirklich vom Robert-Koch-Institut befürwortet werden.

    Heinemann: Und waren sie es?

    Varnhorn: Ja, sie waren es.

    Heinemann: Beneiden Sie die Kollegen vom Nachbarmedium?

    Varnhorn: Ich finde, dass die "Wikipedia" ein faszinierendes Unternehmen ist. Und denke auch, die Arbeit der Kollegen dort ist eine sehr spannende, wobei es ja eigentlich eher eine freiberufliche Tätigkeit ist, bei den meisten zumindest. Aber ich mache ja nun Lexika und die Arbeit von Lexikografen in einer Verlagsredaktion ist sicherlich mindestens ebenso spannend.

    Heinemann: Von den Wikis jetzt mal zu den Brockhäusern. Wie entstehen die Einträge eigentlich eines herkömmlichen Lexikons?

    Varnhorn: Bei uns sitzt natürlich hinter jedem Eintrag eine Fachredaktion. Wir haben hier Fachwissenschaftler vor Ort, die wiederum mit einem verzweigten Netz von Fachwissenschaftlern außerhalb des Verlages zusammenarbeiten. Zunächst ist ja immer die Frage, wie kommt überhaupt ein Stichwort in ein Lexikon, und da hat das Lexikon natürlich einen ganz anderen Anspruch, als die "Wikipedia" es hat. Weil das Lexikon eben immer eine begrenzte Menge an relevanten Stichwörtern zusammenfasst und eben auch dort nur gesicherte Informationen zusammenfasst. Das passiert, indem man Fachliteratur studiert und schaut, gibt es da neuere Erkenntnisse, gibt es neue Wörter, die dort entstehen, neue Fachtermini. Es werden auch externe Fachwissenschaftler befragt. Wir haben auch einen Textkorpus zur Verfügung, in dem wir immer wieder Neologismen beziehungsweise neue Wörter herausentwickeln und diese dann weiterhin recherchieren. Dann wird vom Fachwissenschaftler, dem externen wie internen, in gesicherten Quellen recherchiert. Und das Ziel ist es, erstens nur gesicherte Informationen aufzunehmen, und zweitens auch bei widersprechenden Lehrmeinungen manchmal den Prozess noch abzuwarten, wenn er noch nicht ein befriedigendes Ergebnis hervorgebracht hat. Oder auch die sich widerstreitenden Meinungen in dem Artikel widerzuspiegeln. Es ist ein großes Interesse da, eine gewichtete Meinung und eine gesicherte Meinung im Lexikon wiederzufinden.

    Heinemann: Gesicherte Meinung. – Wie schützen Sie sich vor Ungenauigkeiten. Oder auch vor dem Versuch der Einflussnahme durch Lobbyisten oder wen auch immer?

    Varnhorn: Wir verwenden und gehen wie gesagt auf der einen Seite in die fachwissenschaftliche Diskussion, wo die Lobbyisten eigentlich nicht zu Hause sind. Und wir verwenden immer seriöses Material. Wenn wir Zahlen bringen, dann verwenden wir Zahlen zum Beispiel des Statistischen Bundesamtes und so weiter, also immer Zahlen, die absolut abgesichert sind. Das heißt nicht, dass nicht auch einmal in einem Lexikon ein Fehler auftauchen kann. Es hat ja immer mal wieder Beispiele gegeben, wo es zum Beispiel Flüchtigkeitsfehler gegeben hat, Zahlendreher zum Beispiel, die sich dann im Lexikon verselbstständigt haben. Aber wie gesagt, das Grundprinzip ist, dass ein neutraler Fachwissenschaftler seriöse Quellen interpretiert und abwägt.

    Heinemann: Hat das gedruckte Lexikon noch eine Zukunft. Oder bekommt es eines Tages vielleicht wieder eine?

    Varnhorn: Ja. Ich denke, das Lexikon hat natürlich ganz allgemein, ich würde nicht mal sagen, durch die "Wikipedia" eine besondere, sondern durch das Internet Konkurrenz bekommen. Ich habe eben den Fall Laus genannt. Das Internet bietet ja einfach die Möglichkeit, eine unendliche Menge an Stichwörtern zu präsentieren...

    Heinemann: Ich probiere es mal eben gerade.

    Varnhorn: ... und den Inhalt auch unendlich auszudehnen, sodass ich dort im Netz aktuell eigentlich jede Information finden kann. Mein Problem im Netz ist es eigentlich, immer nur herauszufinden: Erstens ist die Information, die ich dort bekomme, gesichert. Und zweitens, in dem Wust an Informationen auch die für mich relevante herauszufinden.

    Heinemann: Richtig, denn unter dem Eintrag "Laus" steht jetzt bei "Wikipedia": Pflanzenläuse, Blattläuse, Schildläuse, Mottenschildläuse, Tierläuse, Menschenläuse, Kopfläuse, Kleiderlaus, Filzlaus, Staubläuse und so weiter. Wir müssen das nicht vertiefen. – Vielleicht ein kleiner Parforceritt durch die Kulturgeschichte. Die Lexika sind entstanden aus der Bewegung der Enzyklopädisten, die Wissen gesammelt haben, als Beitrag eben auch zur Aufklärung im 18. Jahrhundert. Diderot und andere. Jetzt haben wir ein offenes Lexikon. Das heißt, Bürger eignen sich diese Wissenssammlung auch wieder an, wollen selber daran mitwirken, nach einer langen Phase der Professionalisierung, für die unter anderem ja auch Brockhaus steht. Ist das eine gute Entwicklung, oder eine bedenkliche?

    Varnhorn: Ich finde beide Entwicklungen berechtigt. Das hat ja beides Sinn. Die "Wikipedia" wird genutzt. Das zeigt, dass "Wikipedia" einen hohen Nutzwert für alle Menschen hat. Wie gesagt, ich habe ja eben ein gutes Beispiel genannt, wo ich das selber als Lexikografin auch genutzt habe. Es gibt Bereiche, in denen die "Wikipedia" aus meiner Sicht nicht so viel, nicht wirklich weiterhilft. Nehmen wir andere Stichwörter: Hitler, Angela Merkel, Firmen, bestimmte Produkte, politische Gruppierungen und so weiter, politische Begriffe, die einfach brisant sind. Immer da, wo es also um Terminologien geht, bei denen absolute Genauigkeit und Unparteilichkeit in der Information wichtig ist, etwa in schulischen Kontexten, in wissenschaftlichen Kontexten, in Kontexten, Fragen der Gesundheit und so weiter. Da kann man sich, glaube ich, nur auf eine Quelle verlassen, die absolut seriös ist und die wissenschaftlich abgesicherte Informationen aufbereitet. Und ich denke, da ergänzen sich beide Instrumente. Die "Wikipedia" ist eine Art, stichwörterhaft Informationen zusammenzusammeln. Der Brockhaus ist ein anderes Instrument mit ganz anderen Zielsetzungen, eben dem, wirklich gesichertes Wissen für ein allgemeines Publikum in relevanter Form aufzubereiten. Wobei auch wir natürlich durch die Entwicklung im Internet uns weiterhin weiterentwickeln und sehr genau die Frage stellen, wie weit oder welche Kriterien muss eigentlich ein Printlexikon Brockhaus erfüllen, damit es seine Existenzberechtigung und Nutzerfreundlichkeit für seine Nutzer findet. Dort sehen wir eben, dass das Printlexikon durchaus durch Bildmaterial, durch Schwerpunktsetzungen, durch interessante Fragestellungen, durch interessante Aufbereitung von Inhalten in Form von neuartigen Grafiken vielleicht seine Vorteile noch viel deutlicher spielen kann. Und wir haben deshalb für uns natürlich auch an neuen, moderneren lexikografischen Konzepten gearbeitet. Im Herbst, im Oktober wird ein erster Brockhaus-Einbänder erscheinen, der genau diese Informationen in sehr viel inspirierenderer, überraschenderer Form aufbereitet.

    Auf der anderen Seite muss auch Brockhaus sich fragen, welche Online-Angebote kann eine Brockhaus-Enzyklopädie bieten. Wir sind gerade in diesem Jahr mit einer Apps herausgekommen. Ich denke, auch da muss sich eben ein klassisches Lexikon weiterentwickeln. Aber Brockhaus wird seine Kriterien, eben Relevanz und wissenschaftliche Abgesichertheit, auch in Zukunft aufrecht erhalten und wir sind uns sicher, dass die Existenzberechtigung dafür in jedem Falle weiterhin gegeben ist.

    Heinemann: Und das war zum Schluss eine fast enzyklopädische Antwort von Beate Varnhorn. Sie ist die Verlagsleiterin der Brockhaus-Redaktion. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Varnhorn: Ich danke Ihnen!