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Ägypten
Opferzahlen in Gefängnissen dramatisch hoch

In ägyptischen Polizeistationen und Gefängnissen sitzen laut Schätzungen von Human Rights Watch derzeit über 40.000 politische Häftlinge - darunter auch einfache Bürger, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Selten zuvor in der Geschichte Ägyptens wurden Häftlinge so schlecht behandelt, wie unter der aktuellen Regierung von Präsident Abdel Fattah Al Sisi.

Von Elisabeth Lehmann | 06.02.2016
    "Sie hatten Spaß daran, die Leute zu schlagen, zu beschimpfen. Sie haben es genossen, das hat man ganz deutlich gesehen. Und sie haben jeden Anlass genutzt: Du wolltest aufs Klo? Du wurdest geschlagen. Du kamst zurück? Du wurdest geschlagen."
    20 Stunden musste Khaled, das über sich ergehen lassen. Auf einer Polizeistation, in einer völlig überfüllten Zelle. Warum er eingesperrt war, weiß er bis heute nicht. Eines Tages habe die Polizei das Haus seiner Familie gestürmt. Eigentlich sei sie auf der Suche nach seinem Cousin gewesen. Doch Khaled war der Einzige, den sie angetroffen haben. Also, haben sie ihn mitgenommen. Gängige Praxis im Ägypten unter Präsident Abdel Fattah Al Sisi, sagt Haitham Tareq, Jurist und Initiator einer Ausstellung über Folter in ägyptischen Polizeistationen und Gefängnissen.
    "Der Großteil der Menschen wird offiziell aus politischen Gründen verhaftet, obwohl sie keine Aktivisten sind und nichts mit Politik zu tun haben."
    Interviews mit Folteropfern für Ausstellung
    Tareq hat für seine Ausstellung Folteropfer interviewt. Er hat sie ihre Geschichten erzählen lassen, über die Geräusche im Gefängnis reden lassen, die Schreie der Mithäftlinge, über die katastrophalen hygienischen Zustände in den Zellen und darüber, wie unmenschlich Polizisten mit ihnen umgegangen sind. Mustafa zum Beispiel war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung gerade einmal 16 Jahre alt.
    "Wir waren 30 Menschen in einer Zelle. Und die Regeln waren klar. Sich unterhalten, verboten. Lachen, verboten. Zur Seite schauen, verboten. Ja, so eben."
    Mustafa erzählt seine Geschichte mit einem zynischen Lachen. Er wurde an einem Tag verhaftet, als in Alexandria eine Demo der Muslimbrüder stattfand. Eigentlich wollte er nur zum Unterricht, sagt Mustafa. Mit der Demo habe er gar nichts zu tun gehabt.
    Mustafa hat sich danach Hilfe geholt im El-Nadeem-Center, einer Kairoer Nichtregierungsorganisation. Hier helfen Psychologen Folteropfern, das Erlebte zu verarbeiten. Geschichten wie die von Mustafa hört Daj Rahmy täglich. Das Schlimme sei: Die Bevölkerung nehme sie einfach hin.
    "Die Leute sind leider nicht sehr mitfühlend, wenn die Folter vermeintliche Islamisten betrifft. Aber sie verstehen noch nicht, dass es im Moment jeden treffen kann. Wenn sich ein Polizist abreagieren will, dann kann es wirklich jeden treffen, egal ob Islamist oder nicht. Dann sind wir alle Oppositionelle für den Staat."
    42 Fälle von Folter, 75 Fälle von medizinischer Unterversorgung, 40 Fälle von Verschwindenlassen, 13 Todesfälle in Haft. Das ist die Statistik für ganz Ägypten - allein für den vergangenen November.
    "Die Regierung behauptet, es sind Einzelfälle. Aber das stimmt nicht. Wir beobachten, dass sie systematisch foltern. Wir erheben eine Art Statistik, die auf Medienberichten basiert. Erst haben wir die immer jährlich veröffentlicht. Aber seit Januar 2015 sind die Zahlen so stark angestiegen, dass wir beschlossen haben, einen Bericht pro Monat herauszugeben."
    Warum sich die Fälle so häufen, kann sich Rahmy nicht erklären. Doch selbst Staatsvertreter räumen die hohe Zahl von Todesfällen etwa in Polizeistationen ein. Die Zeitung "El Watan" zitiert den Sprecher der Gerichtsmedizin in Kairo, Hisham Abdel Hamid, der Grund sei die Welle an Verhaftungen in den vergangenen Jahren. Vor allem im Sommer seien die Temperaturen in den engen und überfüllten Zellen hoch und das überlebten einige nicht.
    "Gewalt ist normal in der ägyptischen Gesellschaft"
    Ernsthafte Konsequenzen hatte das bisher in keinem öffentlich bekannten Fall. Und die Ägypter hätten sich irgendwie daran gewöhnt, sagt Haitham Tareq.
    "Folter gab es schon immer, schon bei den Königen und unter Mohammed Ali. Es gab in Ägypten immer Menschen, die Macht ausüben und Oppositionelle festnehmen und Menschen, die gefoltert wurden. Gewalt ist normal in der ägyptischen Gesellschaft. Das hat viel damit zu tun, was der Staat vorlebt. Ob er sagt: Gewalt ist falsch oder nicht."
    Die aktuelle Regierung habe Gewalt jedoch als legitimes Mittel gewählt, sagt Tareq. Seine Ausstellung wurde wenige Tage nach der Eröffnung von der Polizei gestürmt. Die Tondokumente der Opfer wurden beschlagnahmt, gegen Tareq läuft jetzt ein Prozess.
    (Anmerkung der Redaktion: Die Namen in diesem Beitrag wurden geändert, um die Protagonisten vor möglichen Konsequenzen durch den ägyptischen Staat zu schützen.)