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Totengräber Napoleon

Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II. die Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nieder. Damit endete eine fast tausendjährige Geschichte, die von vielen glanzvollen Höhepunkten, am Ende aber nur noch von demütigenden Niederlagen gekennzeichnet war. Es war Napoleon Bonaparte, der dem alten Reich nach einer Kette militärischer Siege den Todesstoß versetzte.

Von Volker Ullrich | 06.08.2006
    Im Jahre 1781 brach der Berliner Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai zu einer Deutschlandreise auf. Seine Kutsche ließ er mit einem Wegemesser versehen. Denn dem wissbegierigen Mann missfiel, dass er immer wieder auf ungenaue Entfernungsangaben stieß, und so wollte er sie bei dieser Gelegenheit selbst prüfen. Doch was Nicolai erkunden wollte, das gab es als Nationalstaat noch gar nicht.

    "Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf."

    So dichteten Goethe und Schiller einige Jahre später. Was es gab, war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – ein mittlerweile fast tausendjähriges Gebilde, das sich auf der Landkarte höchst vielgliedrig und buntscheckig ausnahm. 314 selbstständige Territorien und über 1400 Reichsritterschaften zählte es, manche so klein, dass sie kaum lebensfähig waren. Über diese "Quadratmeilen-Monarchen" und "Miniaturhöfe" bemerkte der Aufklärungsschriftsteller Johann Pezzl 1784:

    "Es sitzt dort manches Fürstlein auf dem Thron, das kaum zwölf Hühner zu regieren imstande wäre: indessen will es glänzen, will gleichen Schrittes mit den Großen einherschreiten; muß seine Köche, seine Pferde, seine Hunde, seine Wesire und seine Truppen haben, sollte auch die ganze Armee nur aus vier Grenadieren, sechs Musketieren und zwei Husaren bestehen."

    Diese Kritik wurde von vielen Zeitgenossen geteilt. Das Alte Reich mit seiner Kleinstaaterei erschien ihnen als merkwürdiges Fossil, das den Anforderungen einer neuen Zeit, wie sie die Französische Revolution von 1789 ankündigte, nicht mehr genügen könne. Tatsächlich bot der in Regensburg tagende Reichstag, die Versammlung der Reichsstände, wegen seiner barock anmutenden Verfahrensregeln und der Schwerfälligkeit seiner Entscheidungen viel Stoff für Satiriker. Auch das Reichskammergericht in Wetzlar, wo Goethe 1772 als Praktikant tätig gewesen war, hatte sich im 18. Jahrhundert längst zum allgemeinen Gespött gemacht, weil die Prozesse sich hier Jahre, oft Jahrzehnte hinzogen. In noch desolaterem Zustand befand sich das Reichsheer, das seit seinem völligen Versagen im Siebenjährigen Krieg den Schimpfnamen "Reiß-aus-Armee" trug.

    Doch es gab auch Verteidiger der alten Ordnung. Der Dichter Christoph Martin Wieland, der sich zunächst für die Französische Revolution begeistert, nach dem Terror der Jakobiner aber enttäuscht abgewandt hatte, schrieb 1795:

    "Die dermalige deutsche Reichsverfassung ist, ungeachtet ihrer unleugbaren Mängel und Gebrechen, für die innere Ruhe und den Wohlstand der Nation im ganzen unendlich zuträglicher und ihrem Charakter und der Stufe der Kultur, worauf sie steht, angemessener als die französische Demokratie."

    Freilich – vor dem Ansturm der französischen Revolutionsheere und bald auch der Armeen Napoleons ließ sich die ebenso monströse wie liebenswerte Struktur des Heiligen Römischen Reiches nicht mehr konservieren. In einer Serie von Verträgen - vom Sonderfrieden von Basel mit Preußen 1795 bis hin zum Frieden von Lunéville mit Österreich 1801 - konnte Frankreich seinen Anspruch auf die linksrheinischen Gebiete durchsetzen. Für die Verluste sollten die deutschen Fürsten rechts des Rheins entschädigt werden. Das gab den Anstoß für eine territoriale Flurbereinigung, welche die Landkarte des Alten Reiches grundlegend veränderte. Durch den Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 wurden die geistlichen Fürstentümer (bis auf Mainz) säkularisiert, und auch die meisten Reichsstädte der Entschädigungsmasse zugeschlagen. Nutznießer waren neben Preußen vor allem die süddeutschen Staaten Bayern, Baden und Württemberg, die weit mehr gewannen, als sie verloren hatten.

    "Das liebe Heil’ge Röm’sche Reich,/ Wie hält’s nur noch zusammen?"

    So fragt der Zechbruder Frosch in Goethes "Faust" zu Beginn der Szene "Auerbachs Keller in Leipzig". Die Antwort gaben die 16 Staaten, unter ihnen Bayern, Württemberg und Baden, die am 16. Juli 1806 ihren Austritt aus dem Reichsverband erklärten und sich zum neuen Rheinbund unter dem Protektorat Napoleons zusammenschlossen. Am 1. August ließ der französische Kaiser in Regensburg verlautbaren, dass er die Reichsverfassung nicht länger anerkennen wolle. Ultimativ forderte er den österreichischen Monarchen Franz II. auf, die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches niederzulegen. Der Habsburger kam dem Verlangen am 6. August 1806 nach.

    "Wir erklären..., daß wir das Band, welches Uns bis jetzt an den Staatskörper des deutschen Reiches gebunden hat, als gelöst ansehen."

    Vom sang- und klanglosen Ende des altehrwürdigen Reiches wurde in der Öffentlichkeit kaum Notiz genommen. Goethe, so heißt es, habe sich mehr für den Streit seines Kutschers interessiert. Doch seine Mutter war da anderer Ansicht. Am 19. August schrieb sie dem berühmten Sohn aus Frankfurt am Main:

    "Mir ist übrigens zumute, als wenn ein alter Freund sehr krank ist, die Ärzte geben ihn auf, man ist versichert, daß er sterben wird, und mit all der Gewißheit wird man doch erschüttert, wenn die Post kommt: er ist tot."