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Der härteste Mann auf dem deutschen Heftromanmarkt

Jack Slade ist ein Mensch und zugleich viele. Der Name dient als Sammelpseudonym für diejenigen Autoren, die die Geschichten um einen bekannten Westernhelden schreiben: Lassiter.

Von Hartmut Kasper | 16.11.2010
    Irgendwo weit hinter Laramie, noch hinter Tombstone und Dodge City liegt die Stadt Osnabrück. Hier lebt unter vielen meist unbescholtenen Bürgern auch Jack Slade, allerdings unter einem anderen und im Niedersächsischen eher ortsüblichen Namen.

    "Mein Name ist Martin Barkawitz. Ich bin hauptberuflicher Autor von Unterhaltungsliteratur aller Art. Das reicht von Western über Grusel bis zu Krimi und Jugendbuch. Ich bin Lassiter-Autor, seit ungefähr acht Jahren."

    Und Lassiter ist ein Westernheld. Seit beinahe 40 Jahren ist er auf dem deutschen Heftromanmarkt unterwegs und tut, was harte Männer eben tun:

    "Reverend Jacob Mills war allein in seinem Gotteshaus. Der Geistliche bereitete gerade alles für die Andacht am nächsten Morgen vor ( ... ), als die Vermummten mit ihren Winchestern und Shotguns in den Fäusten seine Kirchentür aufstießen ( ... ). Die Vermummten schleiften den Gottesmann vor die Kirchentür. ( ... ) Sie rissen ihm den Talar hinunter. ( ... ) Der Scharfrichter entrollte eine lange Bullenpeitsche. Er holte weit aus und zog das geflochtene Leder knallend über den nackten Rücken des Priesters. ( ... ) Da peitschte ein Schuss durch die Nacht. ( ... ) Es war in einzelner Mann, der sich dieser vermummten Meute entgegenstellte. ( ... ) Er kämpfte so hart wie ein Berglöwe. ( ... ) Sie wurden mit diesem Fremden nicht fertig. ( ... ) Der einsame Kämpfer schoss seinen fliehenden Gegnern nicht in den Rücken. Er eilte zu dem Reverend, zog sein Bowiemesser und schnitt die Fesseln des Geistlichen durch."Ich danke dir und natürlich dem Herrn, weil er dich zu meiner Rettung geschickt hat, mein Sohn. ( ... ) Wie heißt du?" "Lassiter", erwiderte der Kämpfer mit den sandfarbenen Haaren."

    Wer mag Lassiter, dieser von Gott geschickte Berglöwe mit dem Bowiemesser, sein?

    "Lassiter ist der härteste Mann seiner Zeit, wie es auf den Covern der Lassiter-Hefte so schön heißt. Lassiter ist ein Mann, der im Wilden Westen lebt und für die Brigade Sieben arbeitet. Das ist eine höchst geheime amerikanische Regierungsorganisation, die immer dann einschreitet, wenn ein Sheriff oder ein US-Marschall mit einer Aufgabe überfordert ist. Die Agenten der Brigade Sieben, zu denen auch Lassiter gehört, arbeiten Undercover, das heißt Lassiter begibt sich immer direkt in die Gefahr hinein und löst die Probleme mit Härte, aber niemals unfair."

    Hart, aber fair – das klingt nach einem beinahe sportlichen Motiv. Doch es war durchaus nicht immer so, dass sich Lassiter den Fair-Play-Pokal unter den West-Männern verdient hätte.

    "Heutzutage kann man Lassiter in der Tat als den James Bond des Wilden Westens sehen, was mit seiner Entwicklung zusammenhängt, dass er eben heute ein Gesetzesvertreter ist. Er arbeitet für eine Geheimorganisation, aber letztlich ist die Brigade Sieben ja eine Regierungsorganisation. Früher war Lassiter ein Outlaw, der gegen Wells Fargo gekämpft hat, weil ihm Unrecht geschehen war und er als eine Art amerikanischer Michael Kohlhaas gegen die übermächtige Organisation Wells Fargo kämpfte als Outlaw.Man hat dann irgendwann aus dem Outlaw einen Gesetzesvertreter gemacht, weil sich eben auch gezeigt hat, dass der Western-Leser kein Interesse mehr hat an Helden, die Anti-Helden sind, also an Outlaw-Helden. Das war eben im Italo-Western so, und das ist heute nicht mehr gefragt."

    Man – das meint die deutschen Autoren, die seit Jahrzehnten unter dem Sammelpseudonym "Jack Slade" Lassiter-Romane schreiben.

    "Mit Jack Slade verhält es sich dermaßen, dass diese Person eigentlich existiert oder existiert hat. Das war ein amerikanischer Westernautor. Der hat die ersten Lassiter-Romane geschrieben, die ins Deutsche übersetzt wurden. Da hat der Verlag damals die Lizenzen gekauft. Es wurde vereinbart, dass der Namen "Jack Slade" weiter verwendet werden durfte. Ab diesem Zeitpunkt diente der Name Jack Slade nur noch als Sammelpseudonym für die deutschen Autoren Da kamen keine neuen Romane von dem amerikanischen Ur-Autor mehr nach. Ob Jack Slade noch lebt, entzieht sich meiner Kenntnis."

    Er lebt, wie es aussieht, wohl leider nicht mehr. Als Ur-Autor der Lassiter-Romane, sein geistiger Vater, gilt Willis Todhunter Ballard. Todhunter Ballard wurde im Jahr 1903 in Ohio geboren. Er war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der, neben zahllosen Western und Krimis, im Jahr 1967 auch einen Ratgeber veröffentlichte:

    How to Defend Yourself, Your Family, and Your Home: A Complete Guide to Self-protection.

    Also: "Wie man sich selbst, seine Familie und sein Heim verteidigt. Ein kompletter Leitfaden zum Selbstschutz."

    Todhunter Ballard ist im Jahr 1980 verstorben. Schon in den frühen Romanen wird die bis heute gebräuchliche Erfolgsformel für einen Lassiter ins Werk gesetzt:

    "Der ideale Lassiter-Roman besteht darin, dass Lassiter eine unlösbare Aufgabe hat und eine schöne Frau trifft. Die unlösbare Aufgabe löst er und mit der schönen Frau landet er im Bett."

    Dabei darf die Bettlandung als dasjenige Merkmal betrachtet werden, das Lassiter von den anderen hierzulande marktgängigen Western unterscheidet:

    "Lassiter war ja, als es damals mit der Serie losging, der erste Serienheld, der so etwas wie ein Geschlechtsleben hatte. Das war zu der Zeit ein Novum. Wobei man heute sagen muss, dass doch die erotischen Abenteuer von Lassiter eher recht harmlos sind, wenn man das vergleicht mit einigem, was so im Fernsehen geboten wird, oder auch wenn man an bestimmte Rap-Texte denkt, dann ist das, was bei Lassiter in den Romanen abläuft, eigentlich ganz normal und nichts Skandalöses."

    "Julies Augen funkelten, als sie Lassiter splitternackt vor sich liegen sah. Das blonde Girl mit der schlanken, aber wohl proportionierten Figur arbeitete seit einem Jahr in Madam Valerys Freudenhaus. ( ... ) Julie war bei den Hombres beliebt, weil sie im Bett losging wie eine Ladung Dynamit. Mit unzähligen Männern war Julie in den vergangenen zwölf Monaten zusammen gewesen. Aber sie hatte noch keinen getroffen, der so gut bestückt war wie Lassiter. "Ist der echt?", fragte sie den großen Mann und deutete auf sein bestes Stück, welches sich unternehmungslustig vor ihr erhob."

    Natürlich ist an Lassiter alles echt, und Julie kommt bei diesem Kunden mehr als nur auf ihre Kosten:

    "Lassiter überschwemmte sie förmlich mit seinem heißen Liebessaft. Und die gewaltige Entladung des großen Mannes löste auch bei Julie noch einmal das schönste aller Gefühle aus"

    – das gute Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, wie wir vermuten dürfen.

    "Ich kann mir vorstellen, dass das in den 70er-Jahren, als die Serie losging, noch mehr Aufsehen erregt hat als heute. Ich war ja in der Pubertät, als ich angefangen hab, Lassiter zu lesen, und da fanden wir das als Jungens natürlich äußerst aufregend, so etwas lesen zu dürfen. ( ... )
    Ich kann mich noch an so manche Klassenreise erinnern, wo die Lassiters unter den Jungens wild getauscht wurden."

    Der Tauschwert für klassenreisende Jungen wird durch das Cover der Lassiter-Romane noch gesteigert: Man sieht in fast surrealer Montage eine typische Genreszene – Männer, Pferde und Gewehre – plus mindestens eine barbusiger Frau, die sich viel versprechend dem Leser entgegen rekelt. So etwas hätte es früher im deutschen Wilden Westen bei Winnetous sicher nicht gegeben. Ist vielleicht Lassiter etwas wie ein erwachsen gewordener Old Shatterhand?

    "Ob Lassiter der erwachsen gewordene Old Shatterhand ist, ist eine gute Frage. Das könnte man in gewisser Weise wirklich so sehen. Er ist auf jeden Fall eine ähnliche Figur. Man darf ja nicht vergessen, dass der heutige Lassiter ausschließlich von deutschen Autoren am Leben erhalten wird. Wir als deutsche Autoren − für uns ist letztlich der Wilde Westen immer nur eine fremde Projektionsfläche. Letztlich ist der Wilde Westen im deutschen Western letztlich eine Art Projektionsfläche für die deutsche Sehnsucht nach Abenteuern und aufregendem Leben."

    Freilich hat Lassiters herbe Männlichkeit und seine Popularität unter den Pubertierenden aller Altersstufen ihm gewisse Differenzen mit einem Gegner eingetragen, der mächtiger war als Wells Fargo: In den späten 1970er-Jahren entschied die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, einige seiner Abenteuer auf die Liste des indizierten Schrifttums zu setzen:

    So heißt es in den "Entscheidungen" aus der 251. Sitzung der Bundesprüfstelle im Jahr 1979 über den Roman "Lassiters Nacht mit Maribel":

    "Der Inhalt des Heftes 303 ist jugendgefährdend ( ... ). Lassiter hilft Maribel auch dann noch, als er von ihr weiß, dass sie Anführerin einer marodierenden und plündernden Bande ist ( ... ) Die Tatsache, dass Maribel Lassiter sexuell zu befriedigen ( ... ) weiß, stell(t) keinen Rechtfertigungsgrund für Lassiters gesetzwidriges Verhalten dar."

    Heftroman Nummer 57, "Lassiter in der weißen Hölle", wird indiziert, nachdem Lassiter, der gegen "über drei Dutzend bewaffnete Männer" ankämpft, sich mit einer Stange Dynamit zur Wehr gesetzt hat;
    Begründung:

    "Das Heft 57 musste allein schon wegen diesen Schilderungen indiziert werden. Sie sind nicht typisch für den wilden Westen."

    Die Bundesprüfstelle, die sich damals offenbar als das Fachorgan für den Wilden Westen verstand, hat die Indizierung der Lassiter-Romane inzwischen aufgehoben. Die frühen, noch vom ursprünglichen Jack Slade geschriebenen Abenteuer waren knapper formuliert, die Szenen härter geschnitten. Seitdem ist Lassiter von den deutschen Autoren abgemildert, dem hiesigen Geschmack angepasst, um nicht zu sagen eingedeutscht worden. Er ist nicht nur als braver Brigadist der höchstgeheimen Brigade Sieben sozusagen Regierungsangestellter, sondern auch sonst ziemlich zivilisiert: Außen Raubein, innen ein wohltätiger, geradezu gottesfürchtiger Mitbürger:

    "Lassiter glaubt an Gott, er ist also ein ganz normaler Christ, wenn man das so nennen will, wie wohl viele weiße Amerikaner zu der Zeit. Die haben an Gott geglaubt. Er hat auch dieses Wertesystem. Er tritt immer ganz klar für das Gute ein. Er hilft den Schwachen, und das ist auch wichtig. Lassiter ist kein zynischer Held, er hat gewisse moralische Anforderungen an sich selbst, wenngleich man das vielleicht bei der Wahl seiner Sex-Partnerinnen nicht unbedingt meinen sollte."

    Daran aber, dass er wirklich böse Bösewichte bekämpft, dulden die Romane keinerlei Zweifel:

    "Harvey Woodland war ein reicher Mann. Ihm gehörte die größte Ranch in Adams County, Colorado. ( ... ) Seine Herden konnten sich sehen lassen. ( ... ) Aber durch die Herden war Woodland nicht reich geworden. ( ... ) Nein, der mächtige Rancher verkaufte noch eine ganz andere Ware. Ein Stoff, der teuer war und absolut tödlich wirken konnte."Opium! ( ... ) Der Rancher ließ die Gold- und Silberdollars ( ... ) durch seine beringten Wurstfinger gleiten. ( ... ) Er schob die Unterlippe vor, was seinem speckigen Gesicht einen schmollenden Ausdruck verlieh."

    Immerhin hat der Lump eine bildschöne Tochter mit lockeren Sitten:

    "Woodland riss die Tür auf. Seine Tochter, dieses Früchtchen, saß auf der Platte seines Schreibtisches. Ihr Rock war weit hochgeschlagen. Sie streckte ein Bein in die Luft und fuhr mit beiden Händen über ihren wohlgeformten Oberschenkel."

    Ein feister Drogendealer und seine mannstolle Tochter – hier kommt, man ahnt es, viel Arbeit zu auf Lassiter. Vom Geld fette Opiumhändler, Mörder, Räuber, Waffenschieber, Skalpjäger, korrupte Richter, Falschspieler und Fanatiker vom Ku-Klux-Klan sind die Gegenspieler des Agenten der geheimen Brigade. Alles derart political korrekt, dass selbst die Bundesprüfstelle ihre helle Freunde haben dürfte.

    "Meine persönliche These lautet ja, dass man aus jeder Geschichte einen Western machen kann, aber auch wirklich aus jeder. Man muss dann nur entsprechend die Akzente anders setzen. Ich versuche natürlich, dass das historische Umfeld einigermaßen stimmt. Wichtig ist meiner Ansicht nach, dass die Atmosphäre stimmt. Irgendwer hat mal gesagt, der Western sei der Liebesroman des Mannes. Und da ist wirklich was dran.
    Der Westernleser erwartet eine bestimmte Atmosphäre. Das kann man auch nicht unbedingt in Worte fassen, das ist so ein Bauchgefühl, das dann vorhanden sein muss und dann einen guten Western ausmacht."

    "Mein Lieblingswestern ist eigentlich "Spiel mir das Lied vom Tod", weil ich finde, dass er die Western-Atmosphäre, von der ich gerade sprach, sehr gut eingefangen hat."

    Seit Lassiters erstem Ausritt in den Wilden Westen hat er viel Pulver verschossen und Liebessaft vergossen. Die Nummer 2000 der Serie trägt den Titel "Lassiters Sohn". Wie?, fragt sich der Leser erstaunt – nach 40 Jahren Liebesmüh und -Plage, nach all den willigen Mädchen und Wolfsbräuten, den trostbedürftigen Witwen und Waisen, Liebesengeln, Satansbraten und den Lohnarbeiterinnen in Madam Valerys Freudenhaus – nur ein Sohn?

    Wir hegen unsere Zweifel. Und erwarten noch allerlei Abenteuer und Enthüllungen aus dem Leben des härtesten Mannes seiner Zeit: Lassiter.