Schriftsteller Martinowitsch über Proteste in Belarus

"Das ist ein Gefühl, als würde die Berliner Mauer fallen"

06:10 Minuten
Eine Luftaufnahme zeigt unzählige Demonstranten am 16. August 2020 in Minsk, Belarus. In der belarussischen Hauptstadt und anderswo im Land gab es täglich Demonstrationen, nachdem Präsident Alexander Lukaschenko den von Kritikern als betrügerisch bezeichneten Wahlsieg vom 9. August verkündet hatte.
Selbst 10.000 Demonstranten seien früher eine große Zahl gewesen. "Jetzt reden wir von 200.000 Leuten", freut sich der in Minsk lebende Schrifsteller Viktor Martinowitsch. © Getty Images
Viktor Martinowitsch im Gespräch mit Joachim Scholl · 17.08.2020
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Ungewöhnlich, berührend und hoffnungsvoll: So beschreibt der belarusische Schriftsteller Viktor Martinowitsch die Demonstrationen in seinem Land. Die Angst vor dem Regime, die noch auf die Zeit des Stalinismus zurückgehe, verliere an Kraft.
Am Wochenende gab es in Belarus die größten Demonstrationen, die das Land je gesehen hat, sagt der in Minsk lebende Schriftsteller Viktor Martinowitsch.
"Das ist ein Gefühl, als würde die Berliner Mauer fallen. Das ist ein enorm schönes Gefühl", so der Schriftsteller. Vor zehn oder 20 Jahren sei der Druck des Regimes noch sehr groß gewesen. Selbst 10.000 Demonstranten seien früher eine große Zahl gewesen. "Jetzt reden wir von 200.000 Leuten."

Eine Angst, die weit zurückreicht

Dem Regime sei sowohl wirtschaftlich als auch politisch wenig gelungen, so Martinowitsch. Es regiere mit Angst und Schrecken, und diese Angst rühre noch tief aus dem Stalinismus. Überall in Belarus seien beispielsweise noch Lenin-Statuen aufgestellt, die jetzt aber mit Slogans wie ‚Lukaschenko, hau ab!‘ versehen würden.
Während früher Oppositionspolitiker einfach ins Gefängnis gesperrt wurden - "und dann war’s das mit dem Protest" - seien auch dieses Mal zwei der drei Kandidaten für die Wahlen im Gefängnis gelandet, dann hätten aber die Frauen eingegriffen.
"Und dann hat die Ehefrau des einen im Gefängnis einsitzenden Präsidentschaftskandidaten die Kandidatur übernommen. Die Frauen haben übernommen. Das war völlig ungewöhnlich und eine ganz einmalige Reaktion", erklärt Viktor Martinowitsch.

Die Schriftsteller werden vom Volk gehört

Selbst die Kirche spiele in der aktuellen Lage eine zweifelhafte Rolle. Daher komme den Stimmen der Intellektuellen viel Gewicht zu, meint Martinowitsch. Sie würden vom Volk gehört, man bringe ihnen Vertrauen entgegen. Er selbst versuche daher, sich so lautstark wie möglich zu äußern.
(huc)

Literaturtipp
Viktor Martinowitsch: "Paranoia"

btb-Verlag, München 2017
400 Seiten, 12 Euro

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