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Bundestags-Sozialausschuss berät über Renten für Getto-Arbeiter

Deutschland beschäftigte im Zweiten Weltkrieg neben Zwangsarbeitern auch sogenannte Getto-Arbeiter, für die teils Rentenbeiträge gezahlt wurden. Bis heute haben nur Wenige Rentenleistungen erhalten. Der Historiker Stephan Lehnstaedt sieht darin geschichtliche Unkenntnis und finanzielle Gründe.

Das Gespräch führte Doris Simon | 10.12.2012
    Doris Simon: Die deutsche Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg war in vielfacher Hinsicht Kriegswirtschaft. Sie produzierte für den Krieg, sie produzierte in den Gebieten, die die Wehrmacht besetzt hatte, und sie setzte, um diese Produktion in Gang zu halten, Menschen aus allen von Deutschland besetzten Gebieten ein: KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Menschen, die in den von den Deutschen oder ihren Vasallen eingerichteten Gettos lebten. Die Arbeiter im Getto bekamen in aller Regel keinen Lohn für ihre Arbeit in Fabriken und Werkstätten, meistens aber etwas mehr zu essen - für viele der vom Tod bedrohten Menschen ein guter Grund, sich zur Arbeit zu melden. Das alles hatte auch seine perverse Ordnung, denn es gab Gesetze und Vorschriften und oft Sozialabgaben, die in die deutsche Rentenversicherung flossen. Aber es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis Deutschland den Menschen, die im Getto gearbeitet hatten, auch einen Rentenanspruch einräumte. Allerdings - auch zehn Jahre später erhalten - die allermeisten dieser Anspruchsberechtigten keine Rente für ihre Arbeit im Getto. Mit diesem Problem befasst sich heute der Sozialausschuss des Bundestages.
    Vor dieser Sendung habe ich mit Dr. Stephan Lehnstaedt vom Deutschen Historischen Institut in Warschau gesprochen. Er ist Gutachter bei der heutigen Anhörung des Sozialausschusses des Deutschen Bundestages und befasst sich seit vielen Jahren mit der Frage der Getto-Renten. Ihn habe ich gefragt: Warum, wenn es seit zehn Jahren ein deutsches Gesetz gibt, das die Auszahlung von Renten für Menschen vorsieht, die in Gettos gearbeitet haben für deutsche Unternehmen, warum bekommen bis heute so wenige Betroffene tatsächlich das Geld?

    Stephan Lehnstaedt: Die Schwierigkeiten sind nicht unbedingt in einem Satz zusammenzufassen. Grundsätzlich liegt es daran, dass die damaligen Bedingungen in den Gettos von den Rentenversicherern und auch von den Sozialgerichten, ja, man kann fast sagen, in weiten Teilen ignoriert wurden. Und das führte einfach dazu, dass die Antragsteller oft für unglaubwürdig erachtet wurden und man gesagt hat, man kann ihnen keine Rente zahlen.

    Simon: Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, die wurden nicht beachtet, die damaligen Zustände?

    Lehnstaedt: Ich meine damit, dass die Rentenversicherung sich nicht hat von Historikern beraten lassen, keine Historiker gefragt hat, wie denn damals die Verhältnisse in den Gettos waren. Das heißt zum Beispiel, die Rentenversicherung hat 2002, na ja, insgesamt acht Bücher gelesen und sie hat gedacht, dass sie damit wüsste, wie Holocaust, wie Leben, Arbeit in Gettos funktioniert. Und das führt dann zum Beispiel zu so absurden Schlussfolgerungen, dass die Rentenversicherung lange Jahre von 400 Gettos in Osteuropa ausgegangen ist, obwohl wir Historiker etwa 1150 kennen.

    Simon: Um was für Summen geht es da eigentlich, dass wir uns das klar machen? Um wie viele Menschen, die potenziell infrage kommen, weil sie im Getto gearbeitet haben – wie gesagt: nicht Zwangsarbeit, sondern freiwillig im Getto zur Arbeit gegangen sind: Sei es, weil es da eben ein bisschen mehr zu essen gab, oder weil es vielleicht da auch besser geheizt war als daheim -, wie viele sind das?

    Lehnstaedt: Wir hatten bis etwa 2005 – das war die erste Runde mit Anträgen – etwa 70.000 Anträge. Und es sind dann in den letzten Jahren noch mal etwa zehn bis 15.000 dazugekommen. Und diese Menschen, für die geht es um eine Rente, die etwa 150, vielleicht 200 Euro im Monat beträgt, für die Zeit, die sie im Getto gearbeitet haben.

    Simon: Das heißt, da kommen aber doch einige Summen zusammen, wenn man die Anträge positiv bescheiden würde?

    Lehnstaedt: Ja, natürlich. Wenn man alle Anträge positiv bescheidet – und es kommt hier die Besonderheit hinzu, dass die Renten rückwirkend ab 1997 gezahlt würden -, reden wir über Summen von etwa 1,5 bis zwei Milliarden Euro, die von der Deutschen Rentenversicherung zu zahlen wären.

    Simon: Sie haben ja eingangs beschrieben, dass die Versicherungen in den Fragebögen, die sie den Antragstellern zukommen ließen, eben nicht auf die Umstände der Zeit eingegangen sind, dass zum Beispiel man eigentlich in diesen Fragebögen auch falsche Angaben hätte machen müssen, um überhaupt berechtigt zu sein. Will sagen: Wenn man ehrlicherweise zugab, ja, es gab Bewachung, und nein, ich habe kein Geld bekommen, sondern nur ein bisschen mehr zu essen oder nur Brot, dann war man nach den ersten Kriterien schon durchgefallen bei der Rentenversicherung. Nach Ihrer Erfahrung als Historiker und Gutachter: War das eine Methode, um vielleicht die Zahl der Antragsteller zu reduzieren, oder ist die Rentenversicherung da nur naiv vorgegangen?

    Lehnstaedt: Also ich möchte hier nicht mit Unterstellungen arbeiten. Ich glaube, dass das absichtlich war. Das weiß ich nicht. Ich glaube, man hat – wie soll ich sagen? – ignorant gehandelt, einfach deswegen, weil man sich nicht darüber klar war, wie denn so Fragebögen ausgefüllt werden. Jemand, der im Getto gearbeitet hat, na ja, selbstverständlich wurde er bewacht. Wir reden hier über ein Getto, und in einem Getto geht es natürlich darum: Dort werden Juden eingesperrt, damit sie nicht weglaufen. Natürlich gibt es Bewachung! Wenn wir über Bezahlung, Entlohnung reden, dann reden wir natürlich nicht, was irgendwie angemessen wäre, aber wir reden davon, dass zum Beispiel ein Stück Brot haben einfach den Unterschied macht zwischen überleben und verhungern, und dass natürlich deswegen der Wert von Ernährung für Arbeit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

    Simon: Viele von diesen ehemaligen Getto-Arbeitern sind ja längst gestorben und darunter inzwischen leider auch viele der Antragsteller. Gibt es eigentlich, Herr Lehnstaedt, aus Ihrer Sicht irgendeine Lösung, die sich jetzt rasch umsetzen lässt, damit nicht noch mehr sterben, ohne je eine Rentenzahlung erhalten zu haben?

    Lehnstaedt: Grundsätzlich gibt es natürlich die Möglichkeit zu pauschalen Entschädigungsleistungen, wo man einfach sagt, jeder, der einen Antrag gestellt hat, kriegt Geld. Das geht schnell, ist unbürokratisch, ist aber auch eben sehr pauschal und schon alleine deswegen ungerecht, weil den Leuten ja ihr Anspruch auf eine Arbeitsrente, für die sie tatsächlich gearbeitet haben, damit verwehrt wird. Und deswegen scheint mir, dass eine Lösung im Rentenrecht gesucht wird, wesentlich sinnvoller. Das ist ein bisschen komplizierter, aber es hat letztlich zur Folge, dass jüdische Arbeiter auch wie deutsche Arbeiter behandelt werden. Das heißt, im Grunde reden wir hier über eine Aufhebung der Nürnberger Gesetze, also der Rassendiskriminierung. Wenn wir weiter Entschädigungszahlungen leisten, natürlich: Das hilft den Menschen schon auch. Aber wir behandeln sie wieder nur als Opfer, die eine Entschädigungszahlung bekommen, weil sie im Getto waren, weil sie Juden waren, und nicht, weil sie gearbeitet haben.

    Simon: Sehen Sie dafür eine Bereitschaft im Bundestag, diesen Weg mit Ihnen zu gehen?

    Lehnstaedt: Ich möchte vorher tatsächlich abwarten, wie sich die Anhörung entwickelt. Aber wenn man aus dem bisherigen Vorgehen Rückschlüsse zieht, dann ist das vielleicht nicht zu erwarten, denn seit diesem Gesetz 2002, diesem Gettorenten-Gesetz, das der Bundestag ja auch einstimmig beschlossen hat, ist sehr viel schief gelaufen und tatsächlich hat der Bundestag wenig nachkontrolliert, vor allem aber die Bundesregierung – und zwar egal, ob SPD oder CDU regiert haben – auch immer sehr stark gemauert und wollte einfach nicht zahlen, weil es eben teuer ist, weil man immer fürchtet, dass andere Opfergruppen auch Ansprüche anmelden könnten. Und insofern vermute ich, dass eher eine billige Lösung gewählt wird. Vielleicht verzichtet man sogar ganz auf Zahlungen, das weiß ich nicht.

    Simon: Das war Dr. Stephan Lehnstaedt vom Deutschen Historischen Institut in Warschau. Er ist Gutachter bei der heutigen Anhörung des Sozialausschusses des Deutschen Bundestages zur Frage der Gettorenten. Herr Dr. Lehnstaedt, vielen Dank für das Gespräch.

    Lehnstaedt: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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