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Fremdheit verbindet

Der französische Philosoph Maurice Blanchot hat sich Zeit seines Lebens mit Literatur beschäftigt. Jetzt ist ein Band mit Essays erschienen, in denen er sich mit Zeitgenossen wie Albert Camus, Lévi-Strauss und Martin Buber auseinander setzt, mit denen er zum Teil befreundet war.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 31.03.2011
    Der Mensch muss über sich hinaus wachsen, sich selbst hinter sich lassen. Ob Nietzsche, Heidegger oder der französische Neomarxist Henri Lefebvre, an einer solchen Überschreitung und dem damit verbundenen Abschied arbeiten sich erklärtermaßen viele moderne Philosophien ab. Doch diese Perspektive bezweifelt Maurice Blanchot:

    "In Wahrheit wollen wir nichts verlieren. Wir wollen überwinden, über etwas hinausgehen und trotzdem dableiben. Wir wollen etwas verabschieden und bewahren, verwerfen und zurückgewinnen, ablehnen und bei dieser Ablehnung alles für uns behalten."

    Was hat das mit der Freundschaft zu tun? Die Freundschaft ist eine antike Tugend, für Aristoteles die Voraussetzung der Polis, des Staates. Denn die Bürger müssen in einer Demokratie miteinander befreundet sein. Sie müssen sich gegenseitig dienen, nicht nur der eigenen Familie. Wenn sich die Politik auf Familien stützt, dann entwickelt sie mafiöse Strukturen. Zwar spielt die Freundschaft in modernen Großgesellschaften nur noch eine hintergründig politische Rolle. Dafür ist sie im zwischenmenschlichen Bereich immer wichtiger geworden - und zwar sicherlich auch jenseits schwächer werdender Familienbande.

    Die Freundschaft gilt es zu pflegen, will man sie bewahren. Doch damit bewahrt man vor allem das Trennende. Denn Freundschaft, so Blanchot, stützt sich zwar auf Gemeinsamkeiten. Doch das kann nicht heißen, dass ich den Freund durchschaue, ihn bis in die letzten Winkel seines Denkens kennen würde. In der Freundschaft verbindet sich vielmehr das Bekannte mit dem Unbekannten, das Trennende und das Vereinende, das Bewahrende und das Übersichhinausgehen. Blanchot schreibt:

    Die Freundschaft entsteht durch "die Anerkennung der gemeinsamen Fremdheit, die es uns nicht erlaubt, von unseren Freunden zu sprechen, sondern nur zu ihnen zu sprechen, nicht sie zu einem Konversations- (oder Aufsatz-)Thema, sondern zu einer Geste des Einverständnisses zu machen, in der sie uns noch in der größten Vertrautheit, wenn sie zu uns sprechen, die unendliche Distanz bewahren."

    Aus dieser Distanz, die Freunde immer voneinander trennt, daraus, so Blanchot, entsteht die Beziehung, die Freundschaft. Der Band "Die Freundschaft" ist Georges Bataille gewidmet, mit dem Blanchot eng befreundet war. Der zehn Jahre ältere Bataille, der allerdings bereits 1962 starb und der sich jenseits von Surrealismus und Existenzialismus aufhält, entwickelte eine auch stilistisch fremdartige und verstörende Lebensphilosophie. Denn sie verbindet Erotik, Ökonomie und Religion. Es versteht sich beinahe von selbst, dass es Freundschaft zwischen solchen Intellektuellen ob der unterschiedlichen Werke nur vermittels des Trennenden gibt.

    Das Trennende endet auch nicht, wenn der Freund stirbt, wie man landläufig gerne meint: Der Tod hebe das Trennende auf, überbrücke die Gegensätze über dem offenen Grab. Leider oder ironischerweise hebt der Tod jedoch damit auch das Verbindende auf. Denn die Nähe ist jetzt genauso vergangen wie die zuvor noch verbindende Fremdheit oder Andersheit des Freundes, bemerkt doch Blanchot:

    "Weshalb jetzt, das, was uns nahe war, nicht nur aufgehört hat sich zu nähern, sondern sogar seine Wahrheit der größten Ferne verloren hat. So besitzt der Tod die falsche Tugend, so zu tun, als gäbe er denjenigen die Nähe zurück, die schwere Differenzen getrennt haben."

    Ein kleiner Essay über 'Die Freundschaft' schließt zwar den Band ab. Doch auch in den anderen 23 Essays setzt sich Blanchot mit vielen Zeitgenossen auseinander, mit denen er befreundet war oder mit denen er sich auch nur literarisch befasste, darunter Albert Camus, Lévi-Strauss und Martin Buber.

    Die Freundschaft, die sich dem Trennenden verdankt, reicht auch über die Zeiten hinweg, beispielsweise zu Franz Kafka, der 1924 starb. Blanchot geht dessen verzweifelten Bemühungen nach, Liebe zu finden, ein ähnlicher Ort wie die Freundschaft, wo man Menschen begegnet und wo die Differenz, nicht die Gleichheit, verbindet - ein Gedanke, den ein guter Freund von Blanchot, nämlich Emmanuel Lévinas entwickelt, der bedeutendste Ethiker des 20. Jahrhunderts: "Dass ich die Andere in ihrer Andersheit - selbst wenn es sich um die langjährige Lebensgefährtin handelt - doch nie völlig durchschauen und verstehen werde." Auch Blanchot kommt nicht umhin,

    "(. ..) Kafka zu zeigen, wie er um die Einsamkeit des Schreibens kämpft, und Kafka, wie er um den Anspruch des Lebens kämpft, der über die notwendigen Beziehungen zu den Menschen führt, folglich über die Ehe und das Heil in der Welt."

    So trennt und verbindet Literaten oder Künstler ihr Werk zugleich, sei es durch den Akt des Arbeitens, ihre Haltungen oder durch ihre Aussagen. Blanchot stimmt Sartre zu, als dieser den Nobelpreis ablehnt. Denn der Literaturbetrieb wollte damit nur ein enfant terrible bändigen. Genauso domestiziert man den bösen Revolutionär Trotzki, als man in ihm den Schriftsteller entdeckte. Einerseits amüsiert sich Blanchot über die optimistischen Worte, die er von Trotzki zitiert:

    Der Mensch wird (. . .) die Natur überhaupt ernstlich verändern. Schließlich wird er die Erde (. . .) nach seinem Geschmack umbauen. Wir haben keinen Grund zu der Befürchtung, dass dieser Geschmack ein schlechter sein wird. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe oder Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen."

    Andererseits gesteht Blanchot auch Trotzki freundschaftlich über die Differenzen hinweg zu, vom philosophischen Geist stärker beseelt zu sein als manch ein fleißiger Philosophiewissenschaftler an der Universität. Der philosophische Geist kann einen Menschen so beflügeln, dass sein Denken jedes Augenmaß verliert. Denn Maurice Blanchot bemerkt:

    "Möglicherweise kann sich niemand auf Philosophie - den Wahnsinn der Weisheit - einlassen ohne maßlose Hoffnungen in sie zu setzen. (.. .) Maßlosigkeit ist das Maß jeder philosophischen Weisheit."

    Maurice Blanchot: "Die Freundschaft". Matthes & Seitz, Berlin, 320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 29,90 Euro.