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Sexuelle Übergriffe im Judentum
Rabbiner mit Doppelleben

Vor fast 20 Jahren beschuldigten Frauen in Israel zum ersten Mal öffentlich einen orthodoxen Rabbiner: Er habe sie sexuell bedrängt, sagten sie. Ein Rabbinergericht hielt die Vorwürfe für "Fantasie". Der Verein Takana geht Beschuldigungen nach und unterstützt betroffene Frauen und Männer.

Von Igal Avidan | 15.07.2019
Meetoo Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und sexistische Übergriffe am 28.10.2017 in Berlin Neukölln.
Jahrelang behandelte das "Forum Takana" über 50 Beschwerden (imago images / Bildgehege)
Im Jahr 2002 berichtete eine israelische Zeitung über einen der ersten Fälle sexueller Belästigung in der orthodoxen Welt. Zwei religiöse Frauen warfen einem Gemeinderabbiner sexuelle Übergriffe vor. Hunderte von Rabbinern stellten sich jedoch hinter ihren Kollegen und der Oberstaatsanwalt stellte die Ermittlungen als unbegründet ein. Eine der Frauen, die das Ziel einer Diffamierungskampagne wurde, suchte Schutz bei einem rabbinischen Gericht. Aber dieses wies ihre Klage als ‚Fantasie‘ ab.
Dieser Vorfall veranlasste die national-religiöse Pädagogin Yehudit Sheilat dazu, sexuelle Belästigungen durch Rabbiner und Religionslehrer zu bekämpfen:
"Dieser Vorfall von sexueller Belästigung wühlte mich so sehr auf, vor allem weil die orthodoxe Gemeinde nicht wusste, wie sie damit umgehen soll. Diese gläubigen Menschen waren überzeugt, dass Rabbiner sich so nicht verhalten! Sie mussten allmählich lernen, dass auch manch ein charismatischer Rabbi und Denker, der das Einhalten der Gebote predigt, ein Doppelleben führt."
Aus der Gemeinschaft verstoßen
Als Reaktion darauf, hat Yehudit Sheilat 2003 das Takana Forum mitbegründet. Der Verein sollte sexuelle Übergriffe durch Amtsträger in der national-religiösen Gemeinschaft behandeln. Für Sheilat war es klar, dass sie das neue Gremium leiten würde und daran namhafte Rabbiner mitwirken müssen.
"An der Spitze eines solchen Forums muss eine Frau stehen, denn die meisten Opfer sind Frauen und sie brauchen als Ansprechpartnerin eine Frau. Die meisten Beschwerden landen bei mir und ich leite die 37 Ehrenamtlichen im Forum. Weil die meisten religiösen Funktionsträger Rabbiner sind, war es für uns sehr wichtig, dass sie sich diesem Projekt anschließen, aber auch prominente Frauen."
Die Opfer sexueller Übergriffe melden sich über die Webseite; einige rufen das Büro oder die Mitglieder des Forums an. Weil das Forum nur begrenzte Kapazitäten hat, nimmt es zum Beispiel keine Beschwerden über Übergriffe gegen Ultraorthodoxe oder Minderjährige an. Bei letzteren Fällen darf nur die Polizei ermitteln.
Wer hat dem Forum die Befugnis erteilt, die Arbeit der Polizei zu übernehmen?
Yehudit Sheilat: "Niemand hat uns diese Autorität verliehen. Wir haben sie selbst übernommen und es ist an den Menschen zu entscheiden, ob sie unsere Autorität akzeptieren. Nur 15 Prozent der Opfer sexueller Übergriffe wenden sich an die Polizei, bei nur fünf Prozent der Fälle führen die Ermittlungen zu einem Prozess und nur in zwei Prozent der Fälle werden die Täter verurteilt. Das sind die Zahlen des Hilfsvereins für Opfer sexueller Gewalt.
Wenn ein Täter mangels Beweisen freigesprochen wird, der Fall wegen mangelnden öffentlichen Interesses eingestellt wird, wirft man den Frauen häufig Verleumdung vor. Unverheiratete Frauen befürchten, dass die Gemeinschaft sie verstoßen würde, wenn der Fall bekannt wird. Verheiratete Frauen wiederum schämen sich vor der eigenen Familie. Manchen fällt es schwer, den Täter anzuzeigen und ins Gefängnis zu bringen, weil sie seine Ehefrau oder Töchter kennen. Sie wollen nur, dass er keine weiteren Frauen belästigt."
"Schwächen" überwunden
Jahrelang behandelte das "Forum Takana" über 50 Beschwerden. Um jeden Fall kümmern sich vier Mitglieder, zwei Frauen und zwei Männer: ein Religionsgelehrter, ein Jurist oder eine Juristin, ein Psychologe oder Sozialarbeiter und eine Person des öffentlichen Lebens oder aus dem Bildungsbereich. Sie hören sich beide Seiten an und empfehlen dem Täter – ganz selten ist es eine Täterin – seine Machtposition für ein Jahr zu verlassen, sich einer Therapie zu unterziehen und das Opfer zu entschädigen. Wenn diese Bedingungen erfüllt werden, bleibt der Fall diskret.
Publik wurde erst der Fall des Rabbiners Moti Elon. Der Rabbi galt als die prägendste Figur in den national-religiösen Kreisen. Schon als junger Mann leitete der brillante Rhetoriker die wichtige Talmudschule an der Klagemauer in Jerusalem. Er stand seinen Schülern menschlich nah.
Die Rabbinerin Yehudit Sheilat
Die Rabbinerin Yehudit Sheilat hat den Verein Takana mitbegründet (Deutschlandradio / Igal Avidan)
Nach vier Jahren unterbrach er 2006 überraschend seine Bildungsarbeit. Yehudit Sheilat wusste damals als eine von ganz wenigen Israelis warum:
"Im Juli 2015 kam zu uns ein verheirateter Mann, der behauptete, er wurde als Jugendlicher von Elon sexuell belästigt. Weil dies ein Einzelfall war, der Jahre zurück lag, bevor Elon Rabbiner wurde, verboten wir ihm, sich allein mit einem jungen Mann in einem geschlossenen Raum aufzuhalten. Er akzeptierte diese Einschränkungen schriftlich".
Rabbiner Elon bestätigte den Fall und beteuerte, seine damaligen – so wörtlich –"Schwächen" überwunden zu haben. Ein Jahr später erhielt dennoch das Forum eine schwerwiegende Beschwerde gegen Elon: Ein ehemaliger Religionsschüler beschuldigte ihn des Missbrauchs. Der Rabbi bestätigte, dass es zu sexuellen Handlungen gekommen war, stellte sich jedoch als Opfer des jungen Mannes dar.
Diesmal fiel das Urteil des Forum-Ausschusses viel härter aus, erzählt Forum-Mitglied Rabbiner Avi Giser:
"Er musste sofort aufhören, die Religionsschule zu leiten, sich allein mit Menschen zur Beratung zu treffen. Elon darf keine der Menschen treffen, die sich über ihn beschwerten. Er muss die Thora allein studieren, schreiben und Sendungen aufnehmen, aber nicht mehr direkt unterrichten. Die Lösung wäre, übers Internet Predigten zu halten. Wir haben diese Einschränkungen für die Dauer von acht Jahren verhängt, weil dies genug Zeit ist, um zu prüfen, ob er es verdient, das Vertrauen zurück zu bekommen."
Keine Reue vor der Kamera
Rabbi Elon zog daraufhin in ein Dorf am See Genezareth und hörte auf zu predigen. Aber bald begann er erneut zu unterrichten und viele junge Männer scharten sich um den charismatischen Lehrer. Knapp zwei Jahre lang debattierte das Forum immer wieder über diesen Fall - diskret, um die Opfer und die Familie Elon zu schützen; man hoffte, dass der Rabbi einen neuen Weg einschlagen würde.
Rabbiner Avi Giser: "Das Forum verbot ihm zu unterrichten und überprüfte dies. Aber seine erneuten persönlichen Treffen und seine Fan-Gemeinde besorgten uns sehr. Weil er unsere Warnungen ignorierte, mussten wir die Menschen schützen, die ihm ahnungslos vertrauen würden und die er missbrauchen könnte. Wir sind keine Moralpolizei, aber wir müssen diejenigen schützen, die Rabbinern folgen und von ihnen die Thora lernen wollen."
Die darauf folgende Veröffentlichung des Falls führte zu Ermittlungen gegen Rabbiner Elon und löste eine erste Debatte über sexuellen Missbrauch in der orthodoxen Lebenswelt aus. Ein Tag nachdem das Gericht ihn schuldig gesprochen hatte, platzte ein junger religiöser Jude in dessen Unterrichtsstunde hinein. Nachum Patchenik sagte Elon vor den Fernsehkameras, dass er selbst als junger Mann sexuell missbraucht wurde – nicht von diesem Rabbi.
"Sie sind ein sehr großer Mann. Aber anders als König David haben Sie nicht den Mut zu sagen, sie hätten gesündigt. Seien Sie mutig genug, um mir zuzuhören."
Der Titel "Rabbiner" ist nicht geschützt
Aber Elons Religionsschüler übertönten ihn mit lautem Gesang und drängten ihn hinaus. Der große Rhetoriker Elon verpasste die Gelegenheit, vor der Kamera Reue zu zeigen:
"Ich verzeihe ihm wirklich, obwohl ich ihn nicht kenne. Vielleicht hat ihn jemand gesandt, um einen Skandal auszulösen. Also verzeihe ich auch dem Sender."
Rabbi Elon wurde wegen gewaltsamer sexueller Übergriff auf einen männlichen Minderjährigen zu sozialer Arbeit, einer Haftstrafe auf Bewährung und Entschädigung verurteilt.
Kann das Oberrabbinat, die höchste staatlich-religiöse Instanz in Israel, Elons Karriere als Rabbiner bremsen?
Der Titel "Rabbiner" ist in Israel nicht geschützt. Wenn orthodoxe Juden einen Menschen als ihren Rabbiner anerkennen und ihn um Rat bitten, kann das Oberrabbinat dies nicht verbieten. Es kann Rabbinern die Erlaubnis erteilen, für eine öffentliche Stelle als Stadtrabbiner zu kandidieren, und diese Erlaubnis auch zurückzunehmen. Um einen langjährigen Prozess mit Moti Elon zu vermeiden, einigte man sich Mitte April mit ihm darauf, dass er bis 2023 nicht als Stadtrabbiner kandidiert. Dies ist dem Takana-Forum zu verdanken.