Dienstag, 30. April 2024

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Deutsche Finanzpolitik
"Eine dogmatische Starrheit"

Keine Konjunktur durch Schulden: Die von Wolfgang Schäuble auch bei der Herbsttagung von IWF und Weltbank verteidigte deutsche Finanzpolitik sei "Wahnsinn", sagte der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach im DLF. Die Bundesregierung ziehe aus der "Kleinfamilie heraus makroökonomische Schlüsse".

Friedhelm Hengsbach im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 11.10.2014
    Sozialethiker Friedhelm Hengsbach
    Der Jesuit Friedhelm Hengsbach ist einer der renommiertesten Sozialethiker Deutschlands. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Die Bundesregierung habe sich in eine "Falle locken lassen", sagte der deutsche Jesuit und Sozialethiker Hengsbach im Deutschlandfunk. Sie folge mit ihrer Politik der "schwarzen Null" der "schwäbischen Hausfrau, die nur so viele Maultaschen auf den Tisch bringt, wie sie durch laufende Einnahmen finanzieren kann".
    Bundesfinanzminister Schäuble war bei der IWF-Tagung in Washington erneut aufgefordert worden, mehr Geld für wirtschaftliches Wachstum zu investieren. Berlin könne "ein bisschen mehr tun" bei öffentlichen und privaten Investitionen in die Infrastruktur, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde.
    Hengsbach kritisierte eine wachsende soziale Ungleichheit und eine "strukturelle Schieflage der Verteilung" in Deutschland. So finde eine "Verwahrlosung der öffentlichen Einrichtungen der Daseinsfürsorge" statt, als Beispiel nannte er die "maroden Straßen".

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Bei der IWF-Tagung geht es um wichtige Dinge: die Weltkonjunktur – und wir alle wissen, sie läuft nicht so, wie sie laufen sollte – und vor allen Dingen die Mängel und die Schwierigkeiten bei der Infrastruktur. Wie kriegt man das übereinander, zumal man auf der anderen Seite die Haushalte ausgleichen möchte und die schwarze Null zum Imperativ für die Politik insgesamt wird?
    Wenn ich noch einmal zusammenfasse: Die Weltkonjunktur stockt auf der einen Seite, die Einkommensverteilung bleibt ungerecht und die öffentliche Infrastruktur verkommt. So könnte man es in der Kurzfassung sagen, worüber da geredet wird. Wir wollen mal versuchen, das Thema etwas grundsätzlicher anzugehen, und auch fragen, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum gibt! Über dieses Thema wollen wir reden mit dem Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, den ich zunächst einmal am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Hengsbach!
    Friedhelm Hengsbach: Guten Morgen, Herr Zurheide, ich grüße Sie!
    Zurheide: Herr Hengsbach, in der Tat, die Kernfrage als Anfangsfrage: Ungleichheit und mangelndes Wachstum, gibt es da aus Ihrer Sicht Zusammenhänge?
    Hengsbach: Ich denke schon, dass also die soziale Ungleichheit dermaßen zugenommen hat, dass zum Beispiel in den letzten 20 Jahren - das ist natürlich jetzt eine langfristige Betrachtungsweise - die Produktivität der deutschen Wirtschaft und mehr als ein Drittel gestiegen ist, während die Reallöhne gesunken sind. Allerdings in den letzten fünf Jahren hat sich das verändert, dass also tatsächlich die Löhne über den Anstieg der Verbraucherpreise hinausgewachsen sind. Und an dieser einfachen Zahl sieht man natürlich: Die Schieflage der Verteilung ist wirklich ein großes Problem, ob Kaufkraft genug da ist bei der breiten Bevölkerungsschicht, um Wachstumsschübe erst mal global auch in Gang zu bringen, und zum anderen, mir scheint ja viel wichtiger zu sein, diese strukturelle Schieflage der Verteilung. Industrie auf der einen Seite boomt, auf der anderen Seite der gesamte Bereich der Bildung, der Gesundheit, der sozialen Dienstleistungen mit entsprechend niedrigen Löhnen trägt ja kaum zu diesem Wachstum noch bei. Das ist das eine. Und dann die öffentliche, ich denke, Verwahrlosung der öffentlichen Einrichtung der Daseinsvorsorge. Also, Straßen ist jetzt das große Thema, aber auch das, was die Kommunen anbieten müssen oder was sie immer angeboten haben, für diejenigen, die wenig Kaufkraft haben und wenig Leistungsvermögen, öffentliche Güter anzubieten, die die Privatwirtschaft überhaupt nicht bereitstellt.
    "Eine Frage der Ungerechtigkeit"
    Zurheide: Es galt ja, Herr Hengsbach, immer der alte Grundsatz, na ja, wir müssen ein bisschen Ungleichheit zulassen, und dieses bisschen Ungleichheit, das wir zulassen, davon profitieren alle am Ende, weil es eine gewisse Dynamik auslöst. Dieser Glaubenssatz - es ist ja nicht mehr als ein Glaubenssatz - ist widerlegt?
    Hengsbach: Das ist, denke ich auch, eine große Legende. Reagen hat es damals in die Formel gebracht: Wenn die Pferde gut gefüttert werden, dann haben auch die Spatzen was zu fressen. Das funktioniert halt so nicht. Wir sehen ja gerade in Deutschland diese wachsende, und zwar wachsende soziale Ungleichheit, die ja noch etwas anderes ist, weil es polarisiert. Also, die oberen Einkommensgruppen oder auch die Vermögenseigentümer erleben oder erfahren erhebliche Zuwächse an Einkommen und an Vermögen, während das untere Viertel oder auch die untere Schicht auch sich ausweitet, sodass die Mittelschicht schrumpft. Also ist es genau das Gegenteil von dem, was also in dieser herrlichen Theorie so dargestellt ist. Der Papst hat das ja auch noch mal kritisiert, dass diese Theorie durch alle Erfahrung widerlegt ist und dass wachsende Ungleichheit am Ende - und das ist seine Befürchtung - Gewalt hervorruft. Denn irgendwann ist wachsende Ungleichheit nicht mehr nur Differenz aufgrund von Talenten und besonderen Leistungen, sondern es ist einfach auch eine Frage der Ungerechtigkeit.
    Schwarze Null - "das ist ein Phantom"
    Zurheide: Und dann kommen wir jetzt auf das, was Sie hier auch schon angesprochen haben, alles, was man unter diesem Begriff Infrastruktur zusammenfassen kann, aber da gehört dann eben auch die soziale Infrastruktur zu, da gehört Bildung zu und eben nicht nur Straßen! Da kann man dann fragen: In der Politik, zumindest in der Politik der Bundesregierung, auch der Großen Koalition scheint die schwarze Null der wichtigste Imperativ zu sein. Ich muss Sie jetzt kaum noch fragen: Das halten Sie wahrscheinlich nicht für richtig?
    Hengsbach: Das ist ein Phantom. Es ist Wahnsinn, wie praktisch da jetzt eine dogmatische Starrheit im Finanzministerium und auch bei der Regierung anscheinend gewachsen ist, die man früher der katholischen Kirche - nach Franziskus ja nun nicht mehr so ohne Weiteres - zugeschrieben hat. Es gibt eine alte Finanzregel, also auch Finanzierungsregel: Investitionen, die gleichsam in die Zukunft auch hineinreichen, was die Profite und die Vorteile angeht, die können durch Verschuldung finanziert werden, und nur die laufenden Ausgaben, die müssen durch Steuern finanziert werden.
    Aber ich glaube, die Regierung und auch das Finanzministerium hat sich da in eine Falle reinlocken lassen, in einen individualistischen Fehlschluss, würde ich das nennen: Die schwäbische Hausfrau, die praktisch nur so viel Maultaschen auf den Tisch bringt, wie sie durchs laufende Einkommen finanzieren kann, oder der hanseatische, fürsorgende Hausvater, der also seinen Erben, seinen Kindern keine Schulden hinterlässt. Das ist typisch, aus der Kleinfamilie heraus werden jetzt makroökonomische Schlüsse gezogen, und das ist so falsch wie nur irgendwas.
    "Das ist ein Kreislauf"
    Zurheide: Na ja, viele sagen, die schwäbische Hausfrau würde im Moment investieren in Wärmedämmung und andere Dinge. Aber lassen wir das einmal weg! Ich komme auf einen anderen Zusammenhang, wir haben ja nach wie vor enorme Vermögenszuwächse allein über die Geldvermögen, die da sind, man sagt, 150 bis 180 Milliarden in der Bundesrepublik Deutschland. Auf der anderen Seite diese Lücke bei den Investitionen, weil die Steuereinnahmen dafür nicht reichen, zumindest die aktuellen. Jetzt könnte man sagen, na ja, die Vermögenden kriegen immer mehr, die müssen das Geld dann dem Staat leihen, damit steigen aber auch wieder die Schulden. Das kann es natürlich auch nicht sein, oder?
    Privatisierungswahn
    Hengsbach: Es gibt da auch eine Alternative zu, dass, wenn der Staat öffentliche Aufgaben finanzieren muss und das aus Steuereinnahmen nicht kann, dann sollte er sich zinslose Kredite der Notenbank besorgen. Warum müssen denn öffentliche Aufgaben finanziert werden durch Kredite, für die der Staat auch noch mal Zinsen gegenüber den privaten Banken zahlen muss, die damit Profit machen? Das ist ein Kreislauf, der droht natürlich auf diese Wahnvorstellung, dass die Privaten immer besser Kredite vergeben und dann auch kontrollieren können, als das die öffentliche Hand machen kann. Aber das ist die, meine ich immer noch, marktradikale Ideologie, die da nachwirkt: Vertrau auf die Selbstheilungskräfte des Marktes und der schlanke Staat ist der beste aller möglichen Staaten. Und das bedeutet auch, dass eben der Mangel an Infrastruktur die Folge ist, dass der Staat keine Mittel hat, im Unterschied dazu, dass mit der Verschuldung des Staates natürlich die privaten Vermögen aufgebläht werden.
    Zurheide: Jetzt kommen manche und sagen, diese Modelle von PPP - Public Private Partnership - wären jetzt die Lösung. Aber es ist ja am Ende nichts anderes als zu verhindern, dass man da einen Schuldtitel hat. Nur, auf die Dauer wird das immer teurer, denn die ganzen Modelle sind durchgerechnet und sie kosten den Staat langfristig mehr.
    Hengsbach: Tatsächlich hat auch jetzt - und das ist interessant - der Bundesrechnungshof das auch noch mal bestätigt, dass dieser Privatisierungswahn oder das Fieber der 90er-Jahre sich als gegenproduktiv herausgestellt hat. Die Kommunen haben natürlich in der Not, die sie haben, und das auch ein Strukturproblem, was gleich sehr vertuscht wird. Der Bund kann sich natürlich verschulden, aber die Länder und Kommunen haben jetzt die Schuldenbremse aufgehalst bekommen, sodass die also noch mehr unter Druck sind. Damals haben die Kommunen versucht, ihren Haushalt auszugleichen, und haben also gleichsam so das Silber, das Porzellan verkauft. Wasserwerke, Energieunternehmen, in Frankfurt sollte sogar die U-Bahn verkauft werden und anschließend zurückgemietet werden. Das hat sich dann ergeben. Aber das Ergebnis ist, dass manche Kommunen das wieder zurücknehmen, weil diese Verheißungen von damals - es wird alles billiger, die Qualität wird besser, es ist alles bürgernäher - das hat sich alles als heiße Luft erwiesen.
    Zurheide: Das war Friedhelm Hengsbach zu der wichtigen Frage, dem Zusammenhang zwischen Ungleichheit und mangelndem wirtschaftlichen Wachstum. Herr Hengsbach, ich bedanke mich für das Gespräch heute Morgen, auf Wiederhören!
    Hengsbach: Bitte schön, auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.