Ägyptologe Jan Assmann

„Exodus ist Aufklärung“

Der Ägyptologe Jan Assmann (M.) im Gespräch mit Thorsten Jantschek (l.) und Philipp Gessler.
Der Ägyptologe Jan Assmann (M.) im Gespräch mit Thorsten Jantschek (l.) und Philipp Gessler. © Deutschlandradio – Andreas Buron
Moderation: Philipp Gessler und Thorsten Jantschek |
Im Gespräch mit Philipp Gessler und Thorsten Jantschek spricht der renommierte Ägyptologe Jan Assmann über die revolutionäre Kraft der uralten Erzählung vom Auszug des Volkes Israel ins Gelobte Land und über sein neues Buch „Exodus“.
Die „Exodus“-Erzählung wirke bis heute nach, sagte Assmann. Dabei sei die Geschichte nicht beweisbar. In der Sendung „Religionen“ geht der Wissenschaftler auf die Geschichte Kanaans ein und erklärt, warum „Exodus“ sowohl von der Gründung eines erwählten Volkes als auch vom Scheitern erzähle.
Hier lesen Sie das Interview mit Jan Assmann im Wortlaut:
Philipp Gessler: Herzlich willkommen noch einmal bei Deutschlandradio Kultur und bei der Sendung „Religionen“ hier auf der Leipziger Buchmesse. Wir haben nun die Ehre, einen der großen Gelehrten der Republik begrüßen zu können, Jan Assmann. Guten Tag, Professor Assmann!
Jan Assmann: Guten Tag, Herr Gessler!
Gessler: Professor Assmann, ich darf Sie kurz vorstellen. Sie wurden 1938 im niedersächsischen Langelsheim geboren, Sie haben in München, Heidelberg, Paris und Göttingen Ägyptologie, Archäologie und Gräzistik studiert, haben eine sehr eindrucksvolle wissenschaftliche Karriere hinter sich, sind zu einem der führenden Ägyptologen und Religions- und Kulturwissenschaftler der Republik geworden. Und auch Ihr internationales Renommee ist außerordentlich, was man etwa an den Gastprofessuren unter anderem in Paris am Collège de France, in Jerusalem, in Oxford und in Yale zeigen kann. Jetzt könnte ich noch die Liste aller Ehrungen und Ehrendoktorwürden aufzählen, aber das würde hier beinahe die Sendung sprengen.
Es sei noch gesagt, dass Sie von 1976 bis 2003 an der Universität Heidelberg Ägyptologie gelehrt haben und seit Ihrer Emeritierung Honorarprofessor für Allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz sind. Über Fachkreise hinaus bekannt sind Sie geworden mit der Theorie, dass mit dem neuen israelitischen Monotheismus die scharfe Unterscheidung zwischen Glauben an den einen Gott und Nichtglauben, zwischen Wahr und Falsch auch in Glaubensdingen in die Welt kam. Und das hat zu harten Konfrontationen, ja manchmal auch zu Gewalt geführt. Ich hoffe, ich habe das jetzt einigermaßen richtig zusammengefasst. Wir kommen später noch einmal darauf. Jetzt genug der Vorrede, Professor Assmann. Sie haben sich jetzt intensiv mit Ihrem Buch „Exodus – Die Revolution der Alten Welt“ mit dem Exodus beschäftigt. Meine erste Frage an Sie wäre: Kann man das heute überhaupt noch sagen: Was ist wirklich passiert damals mit dem Volk Israel und seinem Auszug aus Ägypten? Ist es in irgendeiner Weise historisch korrekt, was da geschildert wird?
Assmann: Nein. Also, das hat man auch nie sagen können, und man kann es heute weniger denn je sagen, was und dass da etwas passiert ist. An das Ereignis kommen wir nicht ran, als Ägyptologe kann man nur eine Fehlanzeige – immerhin – beglaubigen. Das ist aber auch schon sehr interessant, denn das zwingt uns, nach der Symbolik der Geschichte zu fragen. Das ist offenbar nicht einfach der Bericht eines immerhin spektakulären Ereignisses, das man nicht so schnell wieder vergisst, sondern dieses Ereignis müssen wir einklammern als unzugänglich und als etwas, was mit der Geschichte, die man sich davon erzählt hat, gar nichts zu tun hat.
Trennung von religiöser Herrschaft und weltlicher Herrschaft
Gessler: Die einzige These, die Sie haben, oder die Vermutung ist, es könnte tatsächlich einen kleinen jüdischen Stamm gegeben haben, der vielleicht um das Jahr 1200 vor Christus, vor unserer Zeitrechnung, tatsächlich von Ägypten in Richtung Land Kanaan gezogen ist?
Assmann: Ja. Ich sage gar nicht, dass die Geschichte unmöglich ist. Sie ist nur nicht erweisbar, es gibt keine Belege. Aber das könnte sehr gut passiert sein. Da Sie jetzt 1200 vor Christus erwähnen. Das ist in der Tat das Jahr, aus dem die älteste Erwähnung Israels stammt. Auf der Siegesstele des Merenptah kommt der Name Israel vor. Und die erste Meldung von der Existenz Israels ist zugleich eine Meldung von seiner Vernichtung. Da heißt es, Israel ist zur Witwe geworden, seinen Samen gibt es nicht mehr. Da hat sich allerdings nun Merenptah schwer getäuscht, denn Israel ist das einzige der alten Völker, das es heute noch gibt. Aber er hatte eben gedacht, er hätte es ausradiert. Und so haben ja dann auch viele nach ihm gedacht und sich getäuscht. Also das ist um 1200, diese Erwähnung. Und zu der Zeit war Kanaan schon seit 150 Jahren oder mehr, seit 200 Jahren oder mehr unter ägyptischer Besatzung. Ägypten war in Kanaan präsent als Besatzungsmacht.
Und da kann es natürlich sehr gut sein – wir wissen ja, wie die Ägypter umgingen mit ihren Kolonien, ihren unterworfenen Randbezirken, sie haben sich von da Arbeitskräfte geholt. Und es kann sehr gut sein, dass da eine Gruppe von Hebräern nach Ägypten deportiert wurde und dort zu Bauarbeiten herangezogen wurde. Kann sehr gut sein. Es kann sehr gut sein, dass eine solche Gruppe, sagen wir mal, so zwei-, dreihundert Leute vielleicht, etwas gemacht haben, was in Ägypten ein Dauerproblem ist, nämlich Arbeitsplatzflucht. Die Arbeitsbedingungen waren wohl mit einigen sozialen Härten verbunden, mit einiger Gewalt, und so hat es also immer wieder das Delikt der Arbeitsplatzflucht gegeben. Und so könnte man sich vorstellen, dass diese Gruppe eben auch in Richtung Osten geflohen ist und natürlich verfolgt wurde. Und man könnte sich auch gut vorstellen, dass sie auf ihrer Flucht durch eine Änderung der Windrichtung vor ihren Verfolgern bewahrt blieb. Da gibt es eben Lagunen, da gibt es den Sirbonischen See, der sich bei entsprechender Windrichtung in einen Sumpf verwandelt – da sind schon ganze Armeen untergegangen.
Also, da könnten auch die Verfolger untergegangen sein. Das ist alles gar nicht unmöglich. Und es könnte auch sehr gut sein, dass die Geretteten daraus, sagen wir, so eine Art von Erinnerungsfest gemacht haben. Also, dass es da ein Lied gab, „Ich will dem Herrn singen, er hat Großes getan, Ross und Reiter hat er ins Meer geworfen“ – könnte ja sein. Das gilt als eine Urzelle der hebräischen Poesie. Und das hat sich dann ausgebaut.
Thorsten Jantschek: Was ist denn die Bedeutung dieser Erzählung jetzt mal erst mal nur auf die Seite des Politischen geschaut? Denn die Konstitution dieser Herrschaft war ja eine, dass die ägyptischen Herrscher auf der einen Seite Götter waren und auf der anderen Seite Götter. Da fiel sozusagen weltliche und religiöse Herrschaft in eins. Ist das schon ein erster Säkularisationsschritt, eine Trennung von religiöser Herrschaft und weltlicher Herrschaft?
Assmann: Genau. Das kommt wahrscheinlich erst so ein bisschen später. Man muss sich klar machen, dass dieser Keim der Exodus-Erzählung zu einem ungeheuren Baum gewachsen ist. Und in irgendeinem Stadium dieses Baumes, das man mit dem Buch Deuteronomium in Verbindung bringt, hat die Erzählung diese politische Stoßkraft gewonnen. Da kann man wirklich sagen, Exodus ist Aufklärung, ist Säkularisierung. Säkularisierung der Herrschaft. Da wird dieses Amalgam der Sakralherrschaft, wo ein König als Gott auf Erden herrscht, aufgebrochen und das Königtum radikal säkularisiert, demokratisiert nicht so recht, aber säkularisiert. Das ist Deuteronomium, Kapitel 17.
Gessler: Darf ich da mal rein gehen? Ich glaube, wir müssen ein paar Daten nennen, weil wir sonst nicht verstehen, was das eigentlich für eine Geschichte ist. Also, man geht davon aus, so ungefähr 1000 vor Christus gab es das Großreich von David und Salomon. Und das zerfällt mit der Abspaltung des Nordreiches ungefähr um das Jahr 931 vor Christus. Und um 722 wird das Nordreich dann sogar erobert, das halt es zerfällt, Israel zerfällt. Es gibt aber immer noch das Südreich, das weiter existiert, das Südreich mit Jerusalem als Hauptstadt. Das wird auch erobert, ungefähr um das Jahr 500, oder, man weiß es genau, 587. Und dann beginnt das babylonische Exil. Das heißt, in dieser Zeit, wo die Elite Israels exportiert wird, deportiert wird nach Babylon, beginnt diese Elite, nachzudenken über das, was geschehen ist. Und sie denkt darüber nach und sagt, wie konnte es sein, dass uns scheinbar Gott verlassen hat? Sind wir selber daran schuld? Und der Exodus-Mythos, der damals schon existierte, wurde dann eben als eine Art Erklärung genommen, als eine Spiegelung der jetzigen Situation.
Assmann: Genau.
Gessler: Das heißt, der Exodus war im Grunde eine Art Gründungsmythos eines neuen Israels, das dann gegriffen hat in dem Augenblick, als das babylonische Exil ungefähr um das Jahr 520 wieder zu Ende war und man versucht hat, einen neuen Staat zu gründen. Die Exodus-Erzählung war dieser Gründungsmythos. Eine Religion, der Monotheismus wurde etabliert, ein neues Volk wurde aus einer Erzählung, aus der Exodus-Erzählung geschaffen.
Assmann: Wunderbar! Ja.
Widerstand gegen den Monotheismus
Gessler: Ich sollte vielleicht bei Ihnen Student werden. Die Frage ist, hat das denn funktioniert? Offenbar ja nicht. Sie schreiben es in Ihrem Buch, dass es dieses Murren gab, was auf die mosaische Zeit übertragen wird, aber was de facto ein Murren ist, was um 520 existierte in Kanaan. Das heißt, man wollte gar nicht diesen Monotheismus annehmen.
Assmann: Ja, wunderbar beschrieben, diese vier Stationen, in denen die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten wirklich virulent wurde und gebraucht wurde. Das ist einmal in der postsalomonischen Zeit, als sich das Nordreich vom Südreich trennte und den Exodus-Mythos zu seinem Gründungsmythos machte. Das kann man im Buch der Könige lesen, wo Jerobeam, der erste König des Nordreichs seine goldenen Kälber ja weiht mit der Formel: Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten herausgeführt haben. Und das wird der Gründungsmythos des Nordreichs. Und dann, mit dem Untergang des Nordreichs, treten die Propheten auf, Amos und Hosea, und appellieren an die Treue des Volkes, zu dem Gott, der sie aus Ägypten befreit hat. Das ist sozusagen die zweite Station, die schon von dem Untergang gewissermaßen tragisch gefärbt ist. Denn der Untergang, den Hosea und Amos kommen sehen, der wird eben begründet mit dem Treuebruch des Volkes. Und dann kommt die dritte Station, das Exil, und das ist nun die Zeit, in der diese Überlieferungen schriftlich ausgearbeitet werden, kodifiziert werden. Nun werden sie wirklich gebraucht, denn, wie Sie sagen, jetzt muss man die Vergangenheit bewältigen, man muss damit fertig werden, mit dem Scheitern dieses ganzen Projekts des Bundesschlusses mit Jahwe und das auserwählte Volk. Und das alles ist mit der Eroberung nun auch noch des Südreichs durch Nebukadnezar gescheitert.
Und da kommt jetzt alles drauf an, dass man dieses Scheitern nicht als eine Abwendung Gottes oder geradezu als ein Scheitern Gottes empfindet, der sozusagen Marduk unterlegen ist, sondern es ist eine Strafe Gottes für den Bundesbruch, für den Abfall. Also besser die Strafe, die ja immer noch ein Akt der Zuwendung ist, der Züchtigung, immer noch, wenn man so will, ein Akt der Liebe, als eben die völlige Abwesenheit und Gleichgültigkeit. Und deswegen wird da nun ganz besonders – aber die Frage mit dem Murren müsste ich noch beantworten, wenn ich darf. Darauf kommt es mir besonders an, dass diese Geschichte vom Exodus, vom Auszug aus Ägypten, begleitet wird von insgesamt 14 Szenen der Rebellion, der Meuterei. Da wäre Moses zweimal beinahe gelyncht worden. Und da fragt man sich, ja, wenn das ein Gründungsmythos ist, warum wird denn das Volk, um dessen Gründung es da geht, um dessen Erwählung und Gründung, warum wird denn das so negativ dargestellt. Und das hängt eben damit zusammen, dass diese Erzählung nicht nur die Gründung, sondern auch das Scheitern umfassen muss. Und da wird nun eine Tradition gestiftet des Widerstands gegen den Monotheismus, gegen diese neue Treue fordernde, absolute Treue fordernde Religion. Treue zu diesem einen Gott. Der Widerstand, mit dem sie ständig konfrontiert war. Das ist ein roter Faden, der nun sich nicht nur durch die Exodus-Erzählung zieht, sondern durch die gesamte Bibel, durch das Alte und das Neue Testament. Eine Tradition, in der Jesus noch steht und sich auch als ein Opfer dieses gewissermaßen anti-monotheistischen Widerstandes sieht.
Jantschek: Nun entsteht da ein neues politisches Subjekt, nämlich das Volk, und dieses Volk ist ein erwähltes. Wie ist denn genau – Sie haben eben von Treuebruch gesprochen, das hört sich an wie eine Liebesbeziehung, die da eigentlich entsteht zwischen Gott und seinem erwählten Volk, wie ein Brautwerber kommt er zu dem Volk.
Assmann: Ja, also, als Ägyptologe sieht man vor allem die Unterschiede schärfer. Wir haben uns so daran gewöhnt, an die Tochter Zion als die Kirche, als die Braut Christi, und dieses Liebesverhältnis zwischen Gott und Menschen. Das ist im Christentum eine so vertraute Vorstellung, sodass man sich erst mal von außen gesehen klar machen muss, dass solche Begriffe wie Volk, Erwählung und so weiter vollkommen ungewöhnlich sind. Ich wüsste gar nicht, wie ich den Begriff „goi“ oder „am“, hebräisch, ins Ägyptische übersetzen sollte. Diese Vorstellung eines ganz starken, festumrissenen Kollektivs, einer kollektiven Identität, das ist genauso etwas Neues wie die Vorstellung des einen Gottes und gehört genauso zum Monotheismus. Und eben zwischen beiden so eine Treue-Beziehung.
Gessler: Das Interessante ist ja, dass gleichzeitig mit der Entstehung eines Volkes durch ein Buch, durch die Thora oder durch die Exodus-Erzählung, gleichzeitig so etwas entsteht wie Demokratie – Sie haben es ja schon angesprochen. Weil tatsächlich das Volk nicht mehr von oben regiert wird, sondern es gewisse Zwischenstationen gibt, die auch für bestimmte Gruppen innerhalb des Volkes reden.
Assmann: Ja. Das schließt jetzt an an Ihre Frage auch nach der Liebesbeziehung. Die Beziehung zwischen Gott und Volk, die mit dieser Offenbarung am Sinai und dem Bundesschluss gestiftet wird, die ist unmittelbar. Das ist sozusagen eine direkte Demokratie. Das heißt, der Partner Gottes ist das Volk. Da gibt es keinen Mittler, keinen König, und auch diese ganze Bürokratie, die im Kapitel 18 Exodus geschildert wird, wo Moses Obere einsetzt, einen über zehn, einen über 50, einen über 100, einen über 1.000 – das ganze Volk wird durchbürokratisiert, damit es regierbar wird. Das hat alles nichts zu tun mit dem Bundesschluss. Da sind Gott und Volk unmittelbar einander zugeordnet. Und diese Beziehung, in der Tat, ist eine Beziehung der Liebe ...
Ein eifersüchtiger Gott
Jantschek: ... mit allem Drum und Dran, Eifersucht und so weiter.
Assmann: Ja. Und zur Liebe gehört die Eifersucht, und Gott betont immer wieder, dass er ein „el kana“ ist, und „kin-a“, die Eifersucht, also ein eifersüchtiger Gott, dem man eben nicht zu nahe treten darf, indem man zu anderen Göttern übergeht.
Gessler: Vielen Dank, Herr Professor Assmann. Wir machen jetzt eine erste Pause und kommen später noch mal in einem zweiten Teil des Interviews dazu.
Liebe Hörerinnen und Hörer, liebes Publikum hier in Leipzig auf der Buchmesse, willkommen bei „Religionen“ von Deutschlandradio Kultur. Wir haben schon eine Weile gesprochen mit Jan Assmann, der neben uns steht, über sein Buch „Exodus“, und wollen das jetzt noch etwas vertiefen. Es soll jetzt um die Wirkungsgeschichte dieser Exodus-Erzählung gehen. Die ist nämlich, wie Professor Assmann darstellt, enorm. Viele Bewegungen, auch viele politische Bewegungen, haben sich auf die Exodus-Erzählung berufen, auf diese Topoi, die da geschildert werden. Also, eine Auswanderung, eine Erwählung eines Volkes, und am Ende auch eine Eroberung von neuem Land. Welche Beispiele gibt es da? Mir fällt spontan ein, zum Beispiel die Schwarzen-Bewegung in den USA.
Assmann: Ja, natürlich – „Let my people go!“ Das fängt am deutlichsten an mit der puritanischen Revolution in England, der Auswanderung der Pilgrim Fathers nach Amerika, die sich nun wirklich als das neue auserwählte Volk gefühlt haben und Amerika als das neue gelobte Land. Und das zieht sich durch die gesamte amerikanische Geschichte. Also, Exodus wird zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten, und die ersten Präsidenten werden als neuer Moses gefeiert, die werden in diese Tradition gestellt. Und das ist natürlich das Pathos der Emanzipation, also der Auswanderung, der Separation, das schon in dieser Geschichte damit Jerobeam eine Rolle spielt, wo sich das Nordreich emanzipiert vom Südreich und von der salomonischen Fronherrschaft. Der hat ja seine Untertanen zum Frondienst herangezogen. Und diese Gründung des Nordreichs war auch so eine Separations- und Emanzipationsbewegung. Genau so haben das die Puritaner verstanden, und das ist wohl die deutlichste Wiederbelebung der Exodus-Tradition. Aber das gilt auch für die Buren, als sie nach Südafrika zogen, auch ganz im Bewusstsein, ein neues auserwähltes Volk in ein neues Kanaan aufzubrechen, mit dem Auftrag, die dort wohnenden Ureinwohner zu vertreiben und umzubringen – das ist eben die Schattenseite dieser Überlieferung. Ja, und dann aber sind es wiederum die Sklaven der Südstaaten, die die Exodus-Geschichte, die Moses, diese Überlieferung der Befreiung, der Auswanderung nun zu ihrem Programm machen.
Gessler: Und das heißt, jede Gruppe, die in der Geschichte sozusagen aktiv wird, etwas überspitzt gesagt, braucht eine Legitimation. Und sie findet sie in dieser Exodus-Geschichte. Weil man Sklave war und Fremder in Ägyptenland, und man brauchte eine göttliche Legitimation, um politisch aktiv zu werden.
Assmann: Ja. Da wäre noch die Befreiungstheologie zu nennen in Südamerika, und es wäre auch zu nennen die Trauer um Nelson Mandela, der als ein neuer Moses gefeiert wurde. Ich glaube, mit Martin Luther King verbindet sich etwas Ähnliches. Es ist nicht immer nur, wenn jemand aktiv wird, sondern wenn jemand im Sinne der Befreiung aktiv wird.
Jantschek: Nun ist es ja so, dass auf der einen Seite das eine befreiende, emanzipatorische Bewegung ist, aber heutzutage erscheint sie uns ja auch, sobald sich das mal manifestiert hat, also so was wie Amerika oder so was, die USA als God's own country, dann erscheint es uns ja auch in gewisser Weise fremd, weil dann auch plötzlich ein Hegemonialanspruch ausgeht durch diese Art der Erwählung eines Volkes. Ist das eine Schattenseite dieser Erzählung, die dann mitschwingt uns sozusagen auch in die andere Richtung schwingen kann.
Assmann: Ja, absolut. Ich hab das ja schon angedeutet. In der biblischen Exodus-Geschichte ist es dieser ausgesprochene Anti-Kanaanismus, der einem da auffällt, dass die Ureinwohner des gelobten Landes ausgemerzt werden müssen. Das ist eine heilige Verpflichtung, die umzubringen und zu vertreiben und mit denen keine Verträge zu schließen. „Du darfst sie nicht verschonen“, heißt es. Also, das steckt da schon im Kern drin. Nun muss man dazusagen, dass es sich bei diesen Kanaanäern in der Zeit, in der diese Texte dann kodifiziert wurden, um Fiktionen handelt, die gab es gar nicht mehr. Und wenn man die Geschichte symbolisch liest, dann sind diese Kanaanäer ein Symbol für die eigene, sozusagen unkonvertierte Vergangenheit. Also, wenn man sich klar macht, dass dieser Bundesmonotheismus der Thora die Sache einer oppositionellen Gruppe war, die immer gegen Widerstand zu kämpfen hatte, wieder eben die Propheten und ihre Anhänger, dann muss man sich ja auch vorstellen, dass die Mehrheit auf der anderen Seite stand, also auf der Seite einer normalen vorderorientalischen Religion mit mehreren Göttern, Jahwe natürlich der oberste, aber immerhin, so ein Pantheon mit Götterbildern und so weiter. Das war die Mainstream-Religion. Und was jetzt in den Texten als Anti-Kanaanismus erscheint, ist eigentlich der Hass auf die eigene Vergangenheit. Der Hass des Konvertiten auf seine eigene Vergangenheit. Und das ist eine Wirkungsgeschichte, die sich nun in Christentum und Islam fortgesetzt hat. Also der Antijudaismus der Christen ist auch ein Hass auf die eigene Vergangenheit. Die waren ja Juden, mussten sich davon losreißen und haben das eben in entsprechender Heftigkeit getan.
Gessler: Aber es bleibt dabei, dass mit dieser Exodus-Erzählung immer auch Gewalt mit einhergeht, das heißt, es ist immer auch mit Gewalt infiziert. Selbst Mose lässt, nachdem das Volk Israel das Goldene Kalb anbetet, Tausende von den eigenen Leuten, egal, ob sogar Brüder oder Schwester, hinschlachten und auf alle – alle her zu mir, die zu Jahwe stehen.
Assmann: So ist es.
Gessler: Auf der anderen Seite beschreiben Sie in Ihrem Buch sehr eindrucksvoll, dass die Exodus-Geschichte neben dieser, sagen wir mal, Gewaltgetränktheit auch etwas mit Humanität zu tun hat. Das heißt, die Forderung, Volk Israel, schau auf andere Völker und sieh, dass du selber mal Sklave warst, dass du selber mal unterdrückt warst. Das heißt, es ist gleichzeitig eine Forderung nach Humanität in dieser Geschichte.
Assmann: Ja, das finde ich besonders eindrucksvoll. Also, in dem Bundesbuch Exodus Kapitel 23, da begegnet der Vers: „Den Fremden sollst du nicht unterdrücken, denn du kennst die Seele des Fremden, da du ja selbst ein Fremdling in Ägypten warst.“ Das finde ich sehr bemerkenswert, das ist eine Definition von Empathie. Empathie ist ja jetzt, ist der Zentralbegriff auch der politischen Wissenschaft. Und also, die „Empathic Civilization“, Rifkin. Und dass das an einer so zentralen Stelle steht, den Fremdling sollst du nicht unterdrücken, denn du kennst die Seele des Fremden – also man macht aus der Unterdrückung in Ägypten, zieht man nicht etwa die Lehre der Rache, also den Ägyptern werden wir es heimzahlen oder so, sondern man zieht die Lehre der Humanisierung, des Mitleids, der Empathie mit den Armen, den Verfolgten, den Fremden, den Unterprivilegierten. Das ist sehr bemerkenswert. Und mir kommt es ja gar nicht darauf an, was man mir immer zur Last legt, mir kommt es ja gar nicht darauf an, die Gewaltgeschichte des Monotheismus zu schreiben. Mir kommt es drauf an, sie einzugrenzen, sie auf die Motive zu lokalisieren und die zu verstehen, und hier eben auf das Motiv nicht der Wahrheit, sondern der Treue. Und das ist ein Motiv, mit dem wir eben heute immer noch konfrontiert sind. Also die Pflicht, sich für Gott zu ereifern. Und wenn man den Kontext dieser Ideen versteht in der historischen Situation eben dieser Konversion zu etwas ganz Neuem, dann gelingt es vielleicht auch, sie aus der Religion zu verabschieden.
Gessler: Interessant ist ja auch, wie sehr die Kultur durch die Exodus-Erzählung inspiriert wurde. Sie geben die Beispiele etwa von Arnold Schönberg mit seiner Oper „Moses und Aron“ oder die Beispiele von Sigmund Freud, der sich an der Figur Mose abgearbeitet hat. Oder Thomas Mann, der die „Joseph“-Erzählungen geschrieben hat. Und interessant ist, dass alle drei Figuren, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, im Grunde auch die eigene Exilserfahrung damit aufarbeiten. Das heißt, diese Exodus-Erzählung ist fruchtbar bis heute für die Kultur. Woran liegt das? Warum ist sie so fruchtbar?
Assmann: Woran liegt das? Weil sie eben nicht nur – weil sie eben nicht auf ein historisches Ereignis bezieht, sondern auf eine unendliche Semantik. Das hört nie auf, wichtig zu sein. Sie haben einen Namen nicht genannt, der mir genau so wichtig ist, der aber nicht im Dritten Reich gelebt, und das ist Georg Friedrich Händel. Friedrich Händel ist auch ausgezogen aus Halle und hat dann in England gelebt. Und hat ein doch offenbar sehr weitherziges, sehr aufgeklärtes Bild, Verständnis von Religion gehabt. Und dieser Impuls, aus etwas Überlebtem, aus etwas Veraltetem, Überlebtem auszuziehen, dieser Impuls der Aufklärung, der ist, wenn man so will, unsterblich. Und so ist eben auch diese Exodus-Erzählung unendlich anregend und motivierend.
Das Buch Josua hat seine Aktualität verloren
Gessler: Sie haben an einer Stelle geschrieben, das fand ich – es sind im Grunde genommen nur drei Wörter, die Sie da nutzen – Sie sagen, der Gott Jahwe, das war einfach ein schwieriger Gott, ein Gott, der eben in seiner Liebesbeziehung jähzornig war, der so viel verlangt hat von seinem Volk, dass es eben ein Volk sein soll, das heilig sein soll, ein Volk von Priestern, ein unglaublicher Anspruch, mit dem eben das Volk Israel vielleicht sogar bis heute nicht richtig zurecht kommt. Ist denn dieser Satz von dem schwierigen Gott auch etwas, was Ihre Beziehung zu Gott bezeichnet?
Assmann: Das ist ein Schönberg-Zitat. Das kommt in „Moses und Aron“ von Schönberg vor. Da kommt ja vor, das „Mose, wo ist Mose?“, der Anfang des zweiten Aktes, dieses Interludium zwischen erstem und zweitem Akt, wo ist Mose. Hat ihn sein Gott vielleicht getötet, ein schwieriger Gott? Also der Gott der Exodus-Erzählung ist in der Tat – mit dem ist nicht zu spaßen, der ist schwierig. Wenn man denkt, eine Szene, die mich immer besonders – wie soll ich das nennen? – empört: wie die Söhne Arons Gott ein Opfer darbringen wollen. Aber die sind nicht dazu befugt, das ist aus eigenem Impuls, weil sie eben räuchern. Das ist eigentlich ein ganz unschuldiges Motiv. Und da kommt eine Flamme aus dem Heiligtum und verzehrt sie beide. Da merkt man, was für ein schwieriger Gott das ist, und darüber beklagen sich auch die Israeliten, sie ertragen es ja zum Beispiel nicht, dass Gott ihnen persönlich die zehn Gebote erteilt. Die Stimme Gottes ertragen sie nicht, und sagen dann, Mose, mach du das bitte, ja, du kannst uns das dann vermitteln, aber das halten wir nicht aus. Und so gibt es immer wieder auch Bedenken, mit diesem Zeltheiligtum in der Mitte des Lagers – das ist so gefährlich, das ist gewissermaßen radioaktiv.
Gessler: Obwohl da Gott lebt, Gott mitten im Volk.
Assmann: Eben, als ein lebendiger Gott, der in diesem Zelt präsent ist, und der in der Mitte eines immer ungenügenden Volkes leben will, das sich nie genug heiligen kann.
Gessler: Ich möchte gern noch einen Sprung in die heutige Zeit machen. Wir reden die ganze Zeit vom Volk Israel. Gerade der Mythos des Erwähltseins und der Besitz eines heiligen Landes erschwert natürlich den Friedensprozess im Nahen Osten. Das heißt, die Exodus-Erzählung ist in gewisser Weise eine theoretische Hürde, über die das Volk Israel auch noch heute springen muss. Sehen Sie das genauso?
Assmann: Ja, das ist besonders das Buch Josua, also die Landnahme, die man radikal entmythologisieren muss. Das ist auch sehr interessant, dass das Buch Josua aus der Thora ausgekoppelt wurde. Also in der Zeit, in der man nun die Thora zum verbindlichen Kern der Bibel machte, die fünf Bücher Mose, das ist der wirklich hoch verbindliche Kern der Sache. Und das Buch Josua, das von der Landnahme erzählt, der Einwanderung und Eroberung Kanaans, das wurde aus der Thora herausgenommen. Das wurde herabgestuft in seiner Verbindlichkeit.
Gessler: Weil es so gefährlich ist.
Assmann: Weil es so gefährlich ist und weil es in der Zeit des Exils und nach dem Exil, als man im Perserreich eine kleine Kolonie war, eine kleine Provinz im Perserreich, da entsprach das auch nicht mehr den Gegebenheiten. Und so entspricht das auch den heutigen Gegebenheiten nicht. Und die Freiheit, die sich damals die Schriftgelehrten und Priester nahmen, mit der Tradition umzugehen, die sollten sich die Theologen heute auch nehmen und sagen, gut, das Buch Josua, das stellen wir mal so ein bisschen an den Rand, das hat seine Aktualität verloren.
Als Deutscher beim Lesen an die eigene Situation erinnert
Gessler: Sie schildern das ja sehr eindrucksvoll, dass sie einen Seder-Pessach-Abend erlebt haben mit einer Familie in Jerusalem, eine unvergessliche Nacht schildern Sie. Das heißt, da wird im Grunde die ganze Geschichte des Auszugs aus Ägypten, der Exodus, wird memorisiert, mit Essen, mit Gebeten, die man gemeinsam macht. Ist es gerade für Deutsche etwas schwierig – Sie deuten das an einer Stelle an –, überhaupt sich diesem Thema Exodus und Erwähltheit des Volkes Israel zu nähern, wegen der deutschen Schuld?
Assmann: Ja, also ich nenne das in dem Buch eine „resonante Lektüre“. Das heißt, ich lese das Buch Exodus und lasse alles das da in mir mitklingen, was mich als Ägyptologe, als Deutscher und als Leser und Liebhaber von Thomas Mann, Sigmund Freud, Arnold Schönberg, Georg-Friedrich Händel und so weiter nun so beschäftigt. Das heißt, das lasse ich ruhig mal anklingen, assoziativ. Und wenn man da nun, bei diesen 14 Szenen der Rebellion immer wieder liest von den Sünden der Väter und von dem Motiv, dass die sündig gewordene Generation, die sich da 14 mal empört hat, in der Wüste sterben muss, und dass nur die zweite Generation in das gelobte Land einziehen darf, dass aber auch die zweite Generation von diesem irgendwie ererbten Trauma nicht los kommt und nun weiter sündigt und das Motiv der Sünden der Väter nun im Exil noch mal dann so ganz massiv auftrat, wo man nun der Generation, von der man annahm, sie hat den Untergang Jerusalems durch ihre Sündhaftigkeit verschuldet – diese posttraumatische Abrechnung mit einer Vergangenheit, von der man sich so radikal wie möglich absetzen will. Ich meine, das kann man als Deutscher nicht lesen, ohne sich ständig erinnert zu fühlen an die eigene Situation.
Gessler: Vielen Dank, Professor Assmann!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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