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"Kultur der militärischen Zurückhaltung"

Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat bei seinem Besuch im Nahen Osten von einer "Kultur der militärischen Zurückhaltung" geredet und damit zu begründen versucht, warum sich Deutschland zwar eine milliardenteure Armee leistet, aber gern in der Ecke stehen bleibt, wenn diese Armee einmal tun soll, wofür sie bezahlt wird: kämpfen nämlich. Auch das ist also Kultur.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 15.06.2011
    Schon vor Urzeiten hatte der Urmensch Kultur. Er lief wüst und gewaltig hin und her, rollte die Augen und stieß Urlaute hervor, besonders solche mit zwei U. Kultur hatte etwas Wohltuendes und hat es noch heute für den, der Kultur sagt. Deshalb sagt jeder Kultur. Kultur ist ein Ausdruck geistigen Wohlbefindens, schon der Begriff zeugt von philosophischer Verfeinerung; wer von Kultur redet, betrachtet das Dasein aus einer höheren Warte. Kultur ist das Gemälde jener Wirklichkeit, in der wir leben, etwas Vorbildliches, Quintessentielles, Ehrfurchtgebietendes. Kultur ist nicht das laufende Geschehen, sondern die Idee davon; Kultur ist nicht, was einst gewesen ist, sondern die Geschichte, die davon erzählt wird.

    Auf alle Fälle ist Kultur etwas ungeheuer Wertvolles, vor dem sich jeder zu verneigen hat. Ein ganzes Jahrhundert lang saß das bürgerliche Publikum, das es heute nicht mehr gibt, still in den Sälen und ließ sich verhöhnen, beschimpfen und schockieren, um bloß nicht als kulturfeindlich zu erscheinen. Derweil dehnte sich der Kulturbegriff in Deutschland aus wie ein Fettfleck auf Papier, seit 30 Jahren ist ungefähr alles Kultur: Da gibt es die Diskussionskultur, die Widerstandskultur, die Koch- und Esskultur, die Unternehmenskultur, die Freikörperkultur und bei Motoren natürlich die Laufkultur.

    Noch stärker als die angehängte Kultur wirkt jedoch die vorangestellte; dann kommen pathetisch gespreizte Genetivkonstruktionen heraus, in denen nicht nur unser Außenminister schwelgen kann. Seine "Kultur der militärischen Zurückhaltung" ist zweifellos ein Vorbild für eine Kultur des schaumigen Sprechens, das seine Herkunft aus der Kultur politischer Verzweiflung nicht leugnet und zugleich eine Kultur der inhaltlichen Offenheit im Blick behält.

    Kultur ist nämlich stets eine Kultur von irgendwas, eine Ableitung, eine Essenz, ein Destillat. Daran kann man sich leicht berauschen, darin besteht eine nicht ungefährliche Wirkung jener Kultur der Kultur, die es in Deutschland gibt und die sicher demnächst zum immateriellen Welterbe erklärt wird. Kultur liegt eben in unserer Natur; wir können nichts dafür, dass wir so kulturell sind.

    Wir haben zum Beispiel eine Regierung, die nichts versteht, nichts vermag und nichts versucht, aber mit Ernst und Hingabe eine Kultur der welthistorischen Verpeiltheit pflegt, was im Rahmen der Kultur der Volksverdummung und im Hinblick auf die Kultur des An-der-Macht-Bleiben-Wollens schon ein gewisses Aufsehen erregt. Zumindest bei weniger kultivierten Völkern.