Dienstag, 30. April 2024

Archiv

Transgender im Kinder- und Jugendbuch
"Auf die Seele kommt es an"

Julian will eine Meerjungfrau sein. Leo trägt gern Zöpfe und Kleider und irritiert damit seinen Vater. Jason nervt seine Familie mit einer Mädchenfrisur. Drei Kinder- und Jugendbücher für verschiedene Altersstufen erzählen von der Sehnsucht nach Veränderung und der Suche nach sexueller Identität.

Von Maria Riederer | 24.10.2020
Transgender im Kinder- und Jugendbuch
Ein Kinder-, ein Bilder- und ein Jugendbuch behandeln das Thema Transgender (Buchcover Klett Kinderbuch, Knesebeck, S. Fischer)
"Leo hat einen schönen neuen Namen: Jennifer.
,So heißt doch bitte niemand mehr!', behauptet der Papa.
,Den eigenen Vornamen wechselt man doch nicht!', sagt die Mama.
,Jennifer ist doch ein Mädchenname!', poltert der Opa.
,Das macht nichts', sagt Leo. ,Ich bin jetzt ein Mädchen.'
,Wie lieb!', ruft die Oma."
Was ist schon dabei?
Gleich auf der ersten Seite von Franz Orghandls Buch "Der Katze ist es ganz egal" outet sich Jennifer auf ganz unkomplizierte Weise. Das ungefähr achtjährige Kind sitzt – so ist es auf der Illustration von Theresa Strozyk zu sehen – am Tisch und hält ein großes Stück Kuchen in der Hand, während es sich seiner Familie offenbart. Jennifers Miene ist entspannt. Was ist schon dabei, so sagt ihr Gesichtsausdruck, an einem neuen Namen, an einer - für sie - gar nicht so neuen Identität? Jennifer ahnt hier noch nicht, was ihre Worte für die anderen bedeuten.
",Das ist gar nicht lieb', sagt der Papa zur Oma. ,Du bist ja verwirrt!'
,Schweig!' herrscht der Opa. ,Dein Bub ist verwirrt!'
,Ich bin kein Bub', sagt Leo."
"Ich schreib einfach drauflos. Deswegen kann ich jetzt keinen Grund anbieten, warum ich diese Geschichte geschrieben habe. Ein bisschen hat es vielleicht damit zu tun, dass ich mich selber nie als Frau gefühlt hab, wobei ich aber kein Transmensch bin. Ich fühle mich auch nicht explizit als Mann, hab allerdings als Kind damit gerechnet, dass ich mal ein Mann sein werde - ohne mir groß Gedanken drüber zu machen."
US-Schauspielerin Indya Moore steht in der Rolle der Transfrau Angel in einem weißen Glitzerkleid mit Haube umringt von anderen Tänzern auf dem Parkett, dabei regnet es Glitter
Transsexualität in Serien - Zwischen Klischee und Innovation
Auf der Leinwand werden oftmals immer noch bestimmte Stereotype von Transsexualität bedient. Durch den Siegeszug der großen Streaming-Plattformen ändert sich das nun langsam.
Auch der Verlag hatte Vorbehalte
Als die Wiener Autorin für ihr erstes Buch das Pseudonym Franz Orghandl verwendete, reagierte ihr damaliger Verlag mit Vorbehalten. Heute ist sie unter diesem Namen etabliert.
"Am nächsten Tag steht Leo vor seinem Schrank und ist Jennifer. All ihre Kleidungsstücke hat Jennifer vor sich auf dem Boden ausgebreitet, und nichts gefällt ihr.
,Ihr habt mir nur blöde Anziehsachen gekauft', sagt Jennifer. [...]
,Ich hab nichts Türkises, nichts Fliederfarbenes, nichts Rosanes! [...] Ich hab kein einziges Kleid, nicht mal einen Rock!'"
Jungen, die Mädchenkleider tragen wollen, sorgen – anders als umgekehrt – schnell für Irritation. Für Jennifer ist es folgerichtig, dass sie Kleider und kleine Zöpfe tragen möchte. Mit diesen äußerlichen Vorlieben signalisiert sie: Ich bin ich. Und das heißt noch nicht gezwungenermaßen: Ich stecke im falschen Körper. Sondern erst einmal: Ich mag Dinge, die man meinem Geschlecht nicht zuschreibt.
Kim Petras bei einem Auftritt beim Milwaukee Pridefest (8.6.2019)
Transsexualität - Ich bin trans. Sicher?
Die Akzeptanz von Menschen mit einer Transidentität wächst und mit ihr die Zahl derer, die ihr Geschlecht angleichen. Doch es gibt auch trans*Menschen, die ihre Entscheidung bereuen. Dürfen Ärzte Jugendlichen deshalb eine Behandlung verwehren?
Jessica Love: "Julian ist eine Meerjungfrau"
Das spürt auch Julian in dem Buch "Julian ist eine Meerjungfrau" von Jessica Love:
"Das ist ein Junge namens Julian. Das ist seine Oma. Und das hier sind drei Meerjungfrauen. Julian LIEBT Meerjungfrauen."
Julian sitzt mit seiner Großmutter in der U-Bahn, als plötzlich drei Meerjungfrauen einsteigen. Hingerissen starrt er auf ihre kunstvollen Frisuren, die Kostüme mit langen, türkisen Fischschwänzen, die grell geschminkten Lippen, den Schmuck. Julian gerät ins Träumen. Er denkt sich in eine farbenfrohe Unterwasserwelt. Dort wächst auch ihm ein rosa Fischschwanz, seine Haare werden lang und wabern um ihn herum, ein großer, prächtig gemusterter Fisch überreicht ihm eine glitzernde Kette.
",Komm mein Schatz. Wir sind da.'
,Oma, hast du die Meerjungfrauen gesehen?'
,Das habe ich, mein Schatz.'
,Oma, ich bin auch eine Meerjungfrau.'"
Aus Euphorie wird Unsicherheit
Zuhause macht Julian aus seinem Traum Wirklichkeit. Mit Farnblättern und Blumen im Haar, mit einem Vorhang als Schleppe und rotem Lippenstift präsentiert er sich seiner überraschten Großmutter. Ihre erste Reaktion ist skeptisch, und Julians Euphorie verwandelt sich schlagartig in Unsicherheit. Das alles transportiert die amerikanische Autorin und Illustratorin Jessica Love nahezu ohne Worte, dafür mit detailverliebten, ausdrucksstarken Zeichnungen. Und dann…
",Komm mal her, mein Schatz.'
,Für mich, Oma?'
,Für dich, Julian.'"
Eine Kette. Von der Oma für ihren Enkel. Sie lässt ihn sein, wie er ist. Und so ziehen Julian und seine Großmutter durch die Stadt, zusammen mit einer prächtigen Karnevals-Parade aus farbenfrohen Menschen aller Couleur, aller Geschlechter und Vorlieben. Ob Julian sich in seinem Inneren als Mädchen fühlt, das spielt in dem Buch keine Rolle.
Für Leo oder Jennifer in Franz Orghandls Buch geht es dagegen tatsächlich darum, wer sie ist:
"Nach dem Frühstück stehen Leo und der Papa im Badezimmer vor dem Spiegel und putzen sich die Zähne. Sie nehmen viel Zahnpasta für noch mehr Schaum und spielen Tollwut. Leo beobachtet Papas beachtlichen Busen. Er will später lieber so einen wie die Mama hat. Der ist runder als der vom Papa und ohne schwarze Haare. Der Papa bemerkt Leos Blick und lässt die Muskeln spielen.
,Wirst du auch mal so ein stattlicher Mann?', fragt Papa stolz.
,Ich werde eine Frau', sagt Leo.
,Unsinn', schnauft der Papa durch seinen beschäumten Schnauzer, und Leo überlegt, ob es neben dem Papa überhaupt jemals schön sein könnte, Jennifer zu sein."
Viele Wahrnehmungsschichten
Franz Orghandl erlaubt sich beim Erzählen, scheinbar unpassende Pronomen zu verwenden, mal "sie", mal "er" zu sagen, mal "Leo" mal "Jennifer". So transportiert sie die vielen Schichten der Wahrnehmung in dem Kind selbst und in seiner Umgebung. Manchmal, wenn Jennifer sich völlig unverstanden fühlt, zieht sie sich ganz zurück. Dann ist sie wieder Leo, und alles scheint "normal".
"Die Jennifer ist natürlich nicht wirklich der Leo. Sie versteckt sich in der Leo-Hülle. Um sich zu schützen, aber auch, weil sie sich verantwortlich fühlt für ihre Eltern, wie das Kinder so oft tun. Sie ist so in die Ecke getrieben, dass ihr fürs erste nichts anderes einfällt, als dass sie auf Tauchstation geht."
Ob Jennifer oder Leo, ob "sie" oder "er" – nur der titelgebenden Katze ist das ganz egal. Nicht aber der Mutter und noch viel weniger dem Vater, und so muss das Kind einen schweren Weg gehen, um sich selbst treu zu sein. Freunde und Freundinnen reagieren dagegen unbefangen auf die Veränderungen und diskutieren ohne Scheu:
"Weißt du, ob ich ein Bub oder ein Mädchen bin?' fragt Jennifer den dicken Gabriel.
,Na, jeder mit Penis ist ein Bub.'
,Nicht jeder mit Penis ein Bub!' sagt Anne. ,Auf die Seele kommt es an!' Und sie schüttelt den Kopf, als ob jeder, der das nicht weiß, der Blödeste ist von hier bis Texas."
Mit viel Einfühlungsvermögen, aber auch mit dem Witz und der Unbefangenheit der Kinder nähert sich Franz Orghandl ihrer Protagonistin an. Dabei maßt sie sich nicht an, Jennifers Gefühle genau zu kennen. Sie stellt das Kind in die Mitte ihrer Erzählung und lässt alle Beteiligten ihren jeweiligen Weg finden, mit Jennifers Transidentität umzugehen.
"Die Distanz der Erzählweise ist eine Aufforderung zur Selbsterkenntnis. Die Geschichte ist trotzig geschrieben, naiv an Stellen. Das hat den einfachen Grund, dass ich finde, dass sich ausgerechnet die Erwachsenenwelt trotzig und naiv verhält."
John Boyne: "Mein Bruder heißt Jessica"
Dieses trotzig-naive Verhalten erfährt auch Jessica in dem neuen Jugendroman von John Boyne "Mein Bruder heißt Jessica". Darin erzählt der 13-jährige Sam zunächst ausführlich von der Beziehung zu seinem vier Jahre älteren Bruder Jason, den er liebt und bewundert wie keinen anderen Menschen. Bis Jason eines Tages die Eltern und Sam um ein Gespräch bittet:
",Kann das nicht warten', fragte Mum. ,Ich versuche nämlich gerade…'
,Wenn du Geld brauchst, such dir einen Ferienjob', sagte Dad. ,Wir sind nicht die Bank von…'
,Es kann nicht warten, und ich brauche kein Geld', erwiderte er. [...] Er setzte sich mitten aufs Sofa, so weit weg wie möglich von uns, und begann zu reden.
,Es ist nicht leicht', sagte er."
Jasons Eltern sind nicht bereit für Störungen im Alltag. Die Mutter, Ministerin mitten im Wahlkampf, der Vater, ihr Privatsekretär – beide haben fest verschlossene Ohren für Jasons Probleme. Sam spürt, mit welchem Ernst sein Bruder an die Familie herantritt und liefert dem herumdrucksenden Jason unbeabsichtigt die passende Vorlage:
",Du bist doch nicht krank, oder? Musst du sterben?'
,Nein, mir geht’s prima.'
,Gut. Du bist nämlich der beste Bruder der Welt, musst du wissen.'
Ich hörte selbst, wie kitschig das klang, aber es war mir egal.
,Ich glaube', sagte Jason, ,ich bin überhaupt nicht dein Bruder.'
Ich blickte ihn entgeistert an. ,Wie meinst du das?'
,Genauso, wie ich es sage', antwortete er. ,Ich glaube, ich bin nicht dein Bruder. Ich glaube, in Wirklichkeit bin ich deine Schwester.'"
Niemand hört ihm zu
John Boyne zeichnet Sam nicht als verständnisvollen Bruder. Sam macht es Jason nicht leicht. Er ist selbst in der Pubertät und hat als Legastheniker genug Ärger in der Schule. Einerseits verachtet er das Verhalten seiner Eltern, die alles ihrer politischen Karriere opfern. Andererseits versucht auch er, seine eigene Haut zu retten und verliert damit Jasons Vertrauen.
Damit aus Jason Jessica werden kann, damit endlich jemand sie als Mädchen anspricht und erkennt – dafür muss sie sich von ihren Eltern und auch von Sam lösen. Sie flüchtet heimlich zu einer Tante, die ihr Anderssein fraglos akzeptiert. Und dann macht sich auch Sam auf den schwierigen Weg, seiner Schwester wirklich zu begegnen.
Auch Jennifer, das Mädchen aus Franz Orghandls Kinderroman, das als Junge erzogen wurde, kann sich erst befreien, als sie in ihrer Not abhaut und auf dem Schulklo Stella trifft, eine glatzköpfige Außenseiterin mit Herz.
"Mit ihr kann Jennifer zum ersten Mal ihr wahres Ich so richtig feiern, was an der Stelle der Geschichte ja längt überfällig ist - wo sie mit der Stella durch die Stadt geht und zum ersten Mal als Mädchen wahrgenommen wird."
Den Blick öffnen für die Facetten des Lebens
Wer Kindern oder Jugendlichen das Thema Transgender nahebringen möchte, kann mit diesen Büchern keinen Fehler machen. Alle transportieren auf ihre Weise die innere und äußere Not junger Menschen auf der Suche nach ihrer wahren Identität. Und sie tun das auf eine Weise, die nicht belehrt, nicht bevormundet, nicht alles zu wissen meint, sondern einfach den Blick öffnet für die Facetten des Lebens.
Franz Orghandl: "Der Katze ist es ganz egal"
Mit Illustrationen von Theresa Strozyk
Verlag Klett Kinderbuch, Leipzig. 104 Seiten, 13 Euro, ab 9 Jahren.

Jessica Love: "Julian ist eine Meerjungfrau"
Aus dem Englischen von Tatjana Kröll
Knesebeck Verlag, München. 32 Seiten, 13 Euro, ab 4 Jahren.

John Boyne: "Mein Bruder heißt Jessica"
Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel
Verlag S. Fischer, Frankfurt a. M. 256 Seiten, 14 Euro, ab 12 Jahren.