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Ein Sommer in Berlin

Hope M. Harrision und Frederick Kempe blicken in ihren Büchern hinter die Kulissen jenes Sommers 1961 in Berlin. Beiden Autoren erzählen in allen Details von den Hintergründen des Mauerbaus.

Von Melanie Longerich | 08.08.2011
    Sie war Walter Ulbrichts ultimative Demütigung. Während der kommunistische Führer hinter den Kulissen die Abriegelung seiner Berliner Grenze vorbereitete, schritt ein weiblicher Flüchtling aus seinem Staat mit der glitzernden Krone der Miss Universum auf dem Kopf den Laufsteg einer Bühne in Miami Beach entlang. Inmitten des Blitzlichtgewitters der Fotografen hatte Ulbrichts schwerstes Problem die unverwechselbare Gestalt der "schönsten Frau der Welt" angenommen.

    Die Geschichte der frisch gekürten Miss Universum, die der amerikanische Journalist Frederick Kempe beschreibt, ging um die Welt. Marlene Schmidt aus Jena. Das war am 15. Juli 1961. Ein Jahr zuvor war sie aus der DDR in die USA geflohen. Sie trug ihr Krönchen noch nicht mal einen ganzen Monat, als am 13. August 1961 das letzte Schlupfloch in den Westen endgültig verschlossen wurde. Bis dahin waren - wie Marlene Schmidt - zweieinhalb Millionen Menschen aus der DDR geflüchtet - jeder sechste Einwohner. Allein von Januar bis August 1961 waren es 160.000 gewesen. Die Massenflucht und die damit verbundenen ökonomischen Schwierigkeiten der DDR: Sie gelten bis heute als eine der Hauptgründe, die schließlich zum Mauerbau führten. Wie es genau dazu kam, und wer wie viel mitmischte, beschäftigt die Historiker seit Langem. Nicht nur in Deutschland, auch in Amerika. Und so liefern die Historikerin Hope M. Harrison mit ihrem Buch "Ulbrichts Mauer" und Frederick Kempe, Journalist und Präsident eines außenpolitischen Think Tank, mit seinem Buch "Berlin 1961" wichtige Hintergründe, um die Vorgeschichte zum Mauerbau zu rekonstruieren. Gestützt haben sie sich dabei auf Archivmaterial - und auf die Arbeiten ihrer Kollegen. Warum es also noch eine Zusammenstellung braucht, beschreibt Frederick Kempe selbstbewusst:

    In all diesen hervorragenden Studien stellte ich verblüfft fest, dass kein einziges dieser Bücher sämtliche Puzzlesteine zusammenfügt, die zu den historischen Ereignissen um Berlin im Jahr 1961 gehören. Ich nahm mir vor, eine gut lesbare, sachkundige Darstellung sowohl für Fachleute als auch für interessierte Laien vorzulegen, die alle bisherigen Untersuchungen berücksichtigen sowie die erst seit kurzem in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Russland freigegebenen Quellen auswerten sollte.

    Und in der Tat überzeugen beide Bücher mit ihrer leichtgängigen Erzählart. Beide rücken die politische Krise ins Zentrum – und erzählen ihre Geschichte entlang beteiligter Akteure, mit unterschiedlicher Akzentuierung. Während die Historikerin Harrison den Blick auf die Blockpartner Nikita Chruschtschow und Walter Ulbricht legt, widmet sich Kempe vor allem dem sich verschlechternden Verhältnis der politischen Kontrahenten Kennedy und Chruschtschow. Für Letzteren war Berlin zum "gefährlichsten Ort der Welt" geworden. Dieses Zitat des ehemaligen Parteichefs der KpdSU bildet dann auch den Untertitel zu Kempes Buch "Berlin 1961". Und gerade die unterschiedlichen Charaktere der beiden hätten dazu maßgeblich beigetragen:

    Kennedy betrat im Januar 1961 die Weltbühne, nachdem er den knappsten Wahlsieg seit 1916 errungen hatte (…) Er war der privilegierte Sohn eines grenzenlos ehrgeizigen Multimillionärs (…) Der neue Präsident sah gut aus, war charismatisch und ein brillanter Redner (...). Was sein Temperament und seine Herkunft anging, war Chruschtschow Kennedys genaues Gegenteil. Der 67-jährige Enkel eines Leibeigenen und Sohn eines Kohlebergmanns war impulsiv, Kennedy dagegen eher zögerlich.

    Besonders hart geht Kempe mit dem damals frisch gebackenen US-Präsidenten ins Gericht, was bei der Buchveröffentlichung im vergangenen Mai in den USA ausgiebig diskutiert wurde. Denn Kempe beschreibt den jungen Kennedy in seinem ersten Amtsjahr als einen zwar brillanten aber unerfahrenen Politiker, der auf internationalem Parkett völlig überfordert war. John F. Kennedy trat sein Amt zu einem Zeitpunkt an, als sich der Konflikt der beiden Supermächte immer mehr zuspitzte. Die Forderungen Nikita Chruschtschows an die Westmächte vom November 1958 standen immer noch im Raum: Berlin zu entmilitarisieren und in eine selbstständige politische Einheit – eine freie Stadt - umzuwandeln. Doch Kennedy – so Kempe – habe es nicht verstanden, die Situation zu entschärfen und stattdessen einen möglichen nuklearen Schlagabtausch mit der Sowjetunion forciert. Die ersten sechs Monate seiner Amtszeit, die in den Mauerbau mündeten: Für Kempe waren sie geprägt von politischen Fehlinterpretationen des US-Präsidenten:

    In den ersten Tagen seiner Amtszeit versäumte Kennedy es (…), die beste Gelegenheit für einen Durchbruch bei den Beziehungen, die sich ihm bot, beim Schopf zu packen, weil er wie ein Amateur Chruschtschows Signale falsch deutete. Der sowjetische Führer hatte über eine Reihe unilateraler Aktionen ... eine neue Bereitschaft demonstriert, mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten. Stattdessen gelangte Kennedy zu dem Schluss, dass Chruschtschow den Kalten Krieg verschärfe, um ihn auf die Probe zu stellen.

    Frederick Kempe zeigt in allen Details, wie diese Fehlinterpretationen schließlich über die Kubakrise Ende Oktober 1961 im Showdown mündeten, als sowjetische und amerikanische Panzer sich gefechtsbereit am Checkpoint Charlie gegenüberstanden – und damit die Welt an den Rand eines Nuklearkriegs brachten. Schon beim Wiener Gipfeltreffen zwischen Chruschtschow und Kennedy im Juli zuvor hatte der Amerikaner die deutlich schwächere Figur gemacht: "Grüner Junge trifft Al Capone", hat Kempe dann auch mit Augenzwinkern dieses Kapitel benannt. Denn obwohl das Treffen eigentlich der Entspannung dienen sollte, blieben die Gespräche in den entscheidenden Punkten – Berlinkrise und Atomteststopp – ohne Ergebnis. Als dann am 13. August die DDR-Regierung unter Ulbricht mit sowjetischer Rückendeckung die Berliner Grenze endgültig schloss, zeigte sich Kennedy eher erleichtert als empört. Kempes Fazit:

    Das Ganze Jahr 1961 über war Berlin ein unerwünschtes, ererbtes Problem für Kennedy und nie eine Angelegenheit, für die er wirklich kämpfen wollte.

    Doch den Entscheid zum Mauerbau traf der Sowjetführer Nikita Chruschtschow nicht im Alleingang. Hope M. Harrison zeigt in ihrem Buch "Ulbrichts Mauer", wie Walter Ulbricht den Widerstand des großen Bruders aus Moskau gegen den Mauerbau mit enervierender Penetranz schließlich brach. Seit 1953 hatte der dem "großen Bruder" in Moskau immer wieder damit in den Ohren gelegen:

    Er konnte darauf verweisen, dass er während der angespannten Periode von 1956 die Ruhe und Ordnung in der DDR bewahrt hatte, und sich den Sowjets als verlässlicher Staatsführer andienen, den sie mit vermehrter Wirtschaftshilfe unterstützen sollten. Nach 1956 konnte er in Verhandlungen mit Kremlführers auf zwei Klaviaturen spielen, derjenigen des "17.-Juni-Syndroms" und derjenigen des "Ungarnsyndroms".

    Je tiefer die DDR-Wirtschaft in die Krise schlitterte, je stärker der Flüchtlingsstrom Richtung Westen anschwoll, desto mehr drängte Ulbricht Chruschtschow, das Berlin-Problem endlich zu lösen. Im Frühsommer 1961 konnte er sich Ulbrichts Forderung nicht länger verschließen. Die Mauer ist für Hope M. Harrison daher das Ergebnis des Zusammenspiels von Ulbrichts Vorliebe für harte Lösungen und Chruschtschows Entschlossenheit, die DDR um jeden Preis zu stützen. Neu sind Harrisons Thesen nicht. Dies ist zum Teil dem Umstand geschuldet, dass das Buch – schon 2003 in den USA publiziert - mit deutlicher Verzögerung auf Deutsch erscheint. Die entscheidenden Akten zum Mauerbau aus den Moskauer Archiven - vom russischen Präsidialarchiv lange Zeit wie ein "Staatsgeheimnis" gehütet und der Forschung erst seit drei Jahren zugänglich -, konnten hier nicht mehr einfließen. Die hat der Berliner Historiker Manfred Wilke in seinem neuen Buch "Der Weg zur Mauer" aufgearbeitet. Dennoch ist es Harrison - ebenso wie Frederick Kempe – gelungen, die Hintergründe des Mauerbaus in all ihren Details - und auch in ihren skurrilen Begebenheiten - höchst unterhaltsam zu erzählen. Lesenswert!


    Hope M. Harrison: Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach.
    Propyläen, 512 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-549-07402-2

    Frederick Kempe: Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt.
    Siedler Verlag, 672 Seiten, 29,99 Euro
    ISBN: 978-3-886-80994-3