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Corso-Gespräch
„Ich bin diese ganzen Sorgen los“

Nach seinem letzten Album war David Gray gelangweilt von sich selbst. Für sein neues Werk „Mutineers“ ist er den Prozess des Musikmachens ganz neu angegangen. Das sei anstrengend gewesen, sagte er im Deutschlandfunk. Aber: „Jetzt steckt wieder Musik in allem.“

David Gray im Gespräch mit Bernd Lechler |
    Bernd Lechler: Vier Jahre seit dem letzten Album – das ist vielleicht nicht exotisch, aber schnell ist anders. Was haben Sie so lange gemacht?
    David Gray: Ich hab Musik geschrieben, wie immer. Aber ich suchte nach etwas Neuem – etwas, das mich selbst überrascht. Ich kam ziemlich ausgelaugt von der Tour zurück, geistig und körperlich. Das menschliche Flightcase hatte ein paar Stöße abgekriegt. Ich war gelangweilt von mir. Von meinen Gedanken. Ich glaube, wenn man etwas lang genug macht, ist es ganz normal, dass man in eine Sackgasse gerät. Dann muss man die Felswand queren und einen anderen Weg nach oben suchen.
    Lechler: Gleich im ersten Song „Back In The World“ geht's ja wohl genau darum. Welche Teile von sich hatten Sie „in ein Regal weggepackt“, wie Sie singen?
    Gray: Ach, viele! Ich hatte mich über die Jahre entmenschlicht, ich war eine Songwriting-Maschine geworden.
    „Ich war irgendwie abgestumpft“
    Lechler: Wie merkt man das?
    Gray: Ich war irgendwie abgestumpft. Andy Barlow, der Produzent, wies mich irgendwann darauf hin, wie ich über die Arbeit sprach. Er sagt: „Achte mal drauf, welche Formulierungen du benutzt! Bei dir klingt alles schwer! ‚Wir haben diesen Haufen von Songs‘, ‚Wir müssen das-und-das hinkriegen‘, ‚Wir müssen dies, wir müssen jenes‘, ‚Wir haben nicht viel Zeit‘“ – meine Güte, das klingt, als wäre ins Studio zu gehen eine Gefängnisstrafe!“ Ich sagte: „Du hast recht.“ Und so ist er erste Track ein ganz simpler Song über das Leben im Augenblick, über die Rückkehr zum Augenblick.“
    Lechler: Diesen Andy Barlow kennt man natürlich als Teil des Duos Lamb, berühmt für harte Drum-and-Bass-Beats und schräge Sounds – wie kamen Sie denn ausgerechnet auf ihn?
    Gray: Ich hatte mir Listen von Kandidaten angesehen, da stehen dann so große Namen wie Daniel Lanois oder Danger Mouse – aber irgendwie fühlt es sich verkehrt an, jemanden aus einem Katalog auszuwählen. Ich glaube daran, dass man von selbst den Leuten begegnet, die man braucht. Mein Manager schlug vor, ich sollte mich mal mit Andy treffen, der als Produzent gerade erst angefangen hatte. Keine naheliegende Wahl, aber als wir dann verabredet waren, rief Andy am Abend vorher an und sagte: „Ich weiß gar nicht recht, was wir groß besprechen sollten. Warum kommst du nicht vorbei, und wir arbeiten gleich an einem Song? Dann wissen wir, ob was geht.“ Ich dachte: Das ist ein Mann nach meinem Herzen. Einfach mittenrein ins Geschehen. Also sagte ich: „Gute Idee, ich schick dir was.“ Das war dann der Song „As The Crow Flies“.
    Als ich zu ihm kam, hatte Andy die ganze Nacht daran gearbeitet. Er hatte dieses Soundgebirge um mein Demo herumgebaut. Und es gefiel mir überhaupt nicht. Er spielte es mir total laut vor und sagte: „Na, was sagst du!?“ – „Ähm, gefällt mir nicht.“ Das war ein ganz schön unbehaglicher Einstieg. Er fragte: „Was genau gefällt dir nicht.“ – „Ähm, das Schlagzeug.“ Also nahm er das Schlagzeug raus. „Und diese Sounds, diese Wischiwaschi-Sounds, die mag ich auch nicht, die klingen ein bisschen dumm.“ – „Okay, nehmen wir auch raus.“
    Irgendwann sagte ich: „Komm, wir fangen von vorne an, wir nehmen es hier bei dir neu auf, nur mit deinem kleinen Keyboard hier, und dann sing ich es noch mal, und dann sehen wir weiter.“ Das taten wir, und dadurch ergaben sich die ersten ganz neuen Ideen.
    „Der kreative Teil war wirklich ein Erlebnis“
    Allerdings: Ich hatte zwanzig oder dreißig oder sogar vierzig Songs geschrieben, und mit den meisten konnte er nichts anfangen. Die waren ihm zu traditionell oder klangen ihm zu sehr nach Dylan oder Van Morrison. „Ich weiß nicht, was ich damit anstellen sollte“, sagte er. Das waren aber einige der besten Sachen, die ich seit Langem geschrieben hatte! Ich dachte: „Puh. Aha. Na gut.“ Der Stapel von aussortierten Songs war riesig, und der Stapel der Songs, die in Frage kamen, war winzig. Also wollte er neue Ideen von mir, weil sich unfertige Sachen eben noch besser formen lassen. Das Gute war: Bei den neuen Ideen, die wir dann fanden, fingen die Aufnahmen eben auch den Moment der Entdeckung ein. Es klingt dann alles lebendiger und frischer. Von daher war unsere Arbeitbeziehung zwar anstrengend und schwierig, und wir haben viel gestritten – aber der kreative Teil war wirklich ein Erlebnis. Wir sind beide regelmäßig ausgerastet vor Begeisterung und haben uns umarmt und gebrüllt. „Jaaa, großartig, weiter so!“ Bei „As The Crow Flies“ etwa. „Das war super gesungen, David!“, „Woah, der Song wird toll!!“
    Lechler: Wird es denn grundsätzlich einfacher, ein gutes Lied zu schreiben, wenn man's schon so lange macht?
    Gray: Ich weiß mehr über den Prozess. Aber was ich hier beschreibe, ist ganz und gar nichts Einfaches. Das Gute liegt nicht weit weg – Luftlinie – „As The Crow Flies“. Aber wir fliegen nicht wie die Krähen. Ich hab zum Beispiel normalerweise immer mit einer musikalischen Idee angefangen: Melodien und Akkorde und ein Rhythmus, und ich wusste: Hier hab ich was. Das ist gut. Aber als ich jetzt rückwärts arbeitete, vom Text ausgehend hin zur Musik, konnte ich plötzlich die Ideen, die mir kamen, nicht mehr einschätzen. Bis jemand sagte: „Das klingt toll. Ich liebe diesen Song.“ Und ich so: „Wirklich? Findest du? Aha.“ Und jetzt sehe ich, dass dieses Nichtwissen hilfreich ist. Es hat den Prozess aufgebrochen, und jetzt steckt wieder Musik in allem. Der Song „The Incredible“ begann mit einer Zeile aus einer Kurzgeschichte, die ich als Melodie hörte. Ich las die Zeile mehrmals und dachte: „Was für ein wunderbarer Satz. Was er wohl bedeutet? Völlig egal, lass mal Musik draus machen!“ Also, Songwriting ist nicht schwer – aber an das richtig gute Zeug ranzukommen, das ist noch mal was anderes.
    Lechler: Ich muss gestehen, ich hab mich gefreut auf dieses Interview, weil Ihr Album „White Ladder“ damals wichtig war für mich. Es war eine Weile mein Begleiter. Wie ist das: Freut es Sie, so was zu hören? Oder ist es egal – oder denken Sie: Ach nee, nicht wieder das Thema!
    Gray: Nein, nein, ich bin sehr stolz auf diese Platte. Ich hab sie vor anderthalb Jahren oder so nach langer Zeit mal wieder angehört und war begeistert. Da war schon etwas Magisches passiert?
    „Ich bin hier, um zu singen“
    Lechler: Aber wie ist das, wenn man mal so einen Erfolg hatte. Lässt der einen nie mehr los? Jagt man ihm ab da hinterher?
    Gray: Genau das konnte ich jetzt endlich loslassen. Die Probleme, vor die mich „White Ladder“ stellte, steckten latent in dem großen Erfolg. Der Aufstieg war großartig, dieser Schwung, der uns ganz unerwartet bis auf den Gipfel des Berges trug. Was danach kam, war schwierig. Plötzlich ist man öffentliches Eigentum und wird als Teil des Mainstreams kritisiert. Plötzlich soll deine Musik nicht mehr glaubwürdig sein und kein Gewicht mehr haben. Ihre Allgegenwart wird ihr vorgeworfen. Sie kann keine Bedeutung mehr haben, weil sie überall ist. Wie soll man so einer Kritik begegnen? Es ist unmöglich! Der Gedanke ist von vornherein albern. Und trotzdem versucht man es! Man denkt zu viel und wird befangen, und Befangenheit ist dein größter Feind. Du versuchst, deinen Wert zu beweisen, aber das ist der falsche Weg.
    Ich hab eine Weile gebraucht, um den Weg zurückzufinden und meiner Muse wieder zu folgen, ohne mir Sorgen zu machen. Und erst jetzt bin ich dieses ganze Gewicht der Vergangenheit plötzlich los, ich muss mich vor niemandem mehr rechtfertigen. Ich folge Gottes Auftrag. Ich bin hier, um zu singen.
    Ende Januar, als das Album endlich fertig war, hatte ich eine Erleuchtung. Die letzten Details hinzukriegen war noch mal viel Arbeit gewesen, aber dann drehte ich in meinem Studio die Lautsprecher auf und hörte mir das Ganze mal am Stück an. Ich sang mit und tanzte durch den Raum und war ganz aufgeregt."Die Freude ist es!“, fing ich an zu rufen, „Die Freude ist das Wichtigste!“ Ich griff zum Telefon und rief meinen Manager an. „Freude! So muss das Album heißen! ‚Over All Things Joy‘!“ Die Freude sticht alles andere aus. Nur darauf kommt's an. Und es stimmt einfach. Du kannst noch so ernsthaft und gedankenschwer dreinschauen und bedeutungs-schwanger daherkommen und hart arbeiten, aber das bewirkt alles nichts. Es ist die Freude, der Überschwang, das Sich-gehen-lassen, daran erst merken die Leute, dass da die Funken fliegen, dass da was passiert!
    So fühle ich mich. Ich bin diese ganzen Sorgen los. Und alles Wichtige erzählt die Musik. Da beginnt ein neues Kapitel für mich. Wo ich nur noch Sackgassen sah, sehe ich jetzt Möglichkeiten: Musik machen. Produzieren. Noch weiter gehen. Es ist alles wieder so spannend!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.