Künstlerische Grenzüberschreitung

Von Matthias Nöther · 30.08.2008
"Artists without Borders", Künstler ohne Grenzen, lautete das offizielle Motto des diesjährigen Edinburgh International Festival. Doch am Ende waren es nur die Produktionen etablierter westeuropäischer Formationen, welche die künstlerische Grenzüberschreitung auch inhaltlich umsetzen konnten.
Heiner Goebbels und das Hilliard Ensemble hüllten sich in Schweigen. Ein Interview zu der gelungenen Symbiose, die sie in dem neuen Stück des Frankfurter Musiktheatermachers Goebbels eingegangen waren, war nicht zu bekommen. In "I went to the house but did not enter" vertont und visualisiert Goebbels Gedichte von Beckett bis Kafka, die um das Thema des Identitätsverlusts kreisen. Die unbegleiteten Vokalstücke und die zugehörigen szenischen Assoziationen fangen die fahle Langeweile eines mitteleuropäischen Reihenhaus-Alltags in einer präzise koordinierten Theatersprache ein.

Ansonsten gab es in der letzten Woche des Edinburgh International Festivals vor allem große slawische Oper, zum Beispiel den unbekannten "König Roger" des polnischen Komponisten Karol Szymanowski.

In "König Roger" fasst Szymanowski eine an Nietzsche erinnernde Übermenschenphilosophie in eine sehr eigene musikdramatische Sprache. Dabei ist die Oper stilistisch weit entfernt vom musikalischen Auftrumpfen der zeitgleichen deutschen Wagner-Epigonen. Selbst der geheimnisvolle Hirte, der als gottähnlicher Freigeist auftritt, das Volk vom katholischen Glauben abbringt und den König zum Bettler macht, selbst er wird musikalisch eher lyrisch gezeichnet. Überzeugend wirkt die Figur nicht zuletzt durch den mühelos strahlenden Tenor Pavlo Tolstois.

Unter dem erst kürzlich in Edinburgh angetretenen Intendanten, dem Australier Jonathan Mills, scheint das Festival seinen Ehrgeiz nicht mehr auf eigene Produktionen zu verlegen, sondern auf die Koordination internationaler Gastspiele, so auch im Fall der großen Szymanowski-Oper.

Vor vielen Jahren habe Mills mit dem Dirigenten Valerii Gergiew in Australien das Werk Szymanowskis diskutiert, so die Marketing-Direktorin des Festivals Jackie Westbrook, und er habe die einmalige Möglichkeit gesehen, diese selten gespielte Oper in Edinburgh von Gergiews Petersburger Mariinski Theater-Kompanie aufführen zu lassen.

Doch bereits das Mariinski Theater hatte für "König Roger" eine Inszenierung der Oper Breslau eingekauft, in Edinburgh gab es die Oper also szenisch aus dritter Hand. Auch bei den raren Eigenproduktionen im Musiktheater war keine individuelle Handschrift des Festivals zu erkennen. Bezeichnend war bereits, dass das Eröffnungsstück, Brechts und Weills Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", zwar mit exquisiten schottischen Kräften besetzt war, aber dafür nur konzertant aufgeführt wurde.

Mahagonny sei jedoch sehr bewusst gewählt worden, um einen bestimmten Ton für das Festival vorzugeben, der etwas rauher und archaischer sei als normalerweise üblich. Doch anstatt dieses Rauhe weiter zu verfolgen, hatte man das offizielle Motto so pauschal wie möglich formuliert: "Artists without Borders" - Künstler ohne Grenzen.

Es waren am Ende nur die Produktionen etablierter westeuropäischer Formationen, welche die behauptete künstlerische Grenzüberschreitung auch inhaltlich in die Tat umsetzen konnten.

Dazu gehörte die belgische Künstlergruppe Muziektheater Transparant. Sie zeigte gestern abend ein szenisches Konzert mit Werken des linken 20er-Jahre-Komponisten Stefan Wolpe. Die Hommage changierte intelligent zwischen klassischem Konzert, Theaterrevue und politischer Agitation. Wolpes absurde Vertonung einer Abhandlung von Lenin ist ein gefundenes Fressen für Muziektheater Transparant. Die Produktionen der Künstlergruppe setzen auch sonst auf die Zusammenführung völlig heterogener textlicher und musikalischer Elemente.

Das Muziektheater Transparant versucht immer, drei oder vier Elemente aus dem Bereich der darstellenden Künste zu kombinieren, so erläutert der Transparant-Schauspieler Dirk Roofthooft. Das flämische Theater habe mit seiner Offenheit gute Voraussetzungen, immer neue Wege für eine Grenzüberschreitung zu finden, denn anders als Deutschland oder Frankreich sei es nicht so sehr auf eine Tradition festgelegt, wie Theater auszusehen habe.

So vielgestaltig und entdeckerisch gerade die letzten Veranstaltungen des Festivals auch waren, so wenig konnten sie ausgleichen, dass das Edinburgh International unter Jonathan Mills noch keine neue Balance zwischen Gastspielzirkus und eigenem programmatischem Anspruch gefunden hat.