Ibn Warraq: Warum ich kein Muslim bin

Vorgestellt von Jörg Lau · 27.03.2005
Muss ein gläubiger Muslim nicht Bestürzung und Scham empfinden angesichts der Tatsache, dass manche Glaubensbrüder offenbar doch glauben, im Sinne der Lehren des Propheten zu handeln, wenn sie sich und andere in die Luft sprengen oder wenn sie unterdrückerische Regime errichten? Muss er dies nicht äußern? Wo bleibt ein Moment des Erschreckens?
Hier ist endlich ein Buch, das diesen Geist der Selbstbesinnung am Werk zeigt. Unter dem Pseudonym Ibn Warraq erklärt sein Autor, so der Titel, "Warum ich kein Muslim bin". Man muss präzisieren: "Kein Muslim mehr bin", denn das Buch entfaltet vor unserem geistigen Auge das Drama eines Abfalls vom Glauben.

Auch diejenigen, die sich in ihrem islamischen Glauben fest verankert fühlen, werden es mit Gewinn lesen. Mehr noch: Gerade sie. Wie die gläubigen Muslime mit der Herausforderung ihrer Gewissheiten durch einen Freigeist wie diesen Ibn Warraq umgehen werden, ist eine Prüfung auf die Modernetauglichkeit ihres Glaubens.

Bisher sind die Zeichen nicht allzu ermutigend: Ibn Warraq lebt wie ein Exilierter irgendwo an unbekanntem Ort in den USA. Dass dieser Mann einen falschen Namen annehmen musste, in stetiger Angst vor der Tat eines Fanatikers, spricht dafür, dass er Recht hat, wenn er sagt: Eine islamische Aufklärung, die ihren Namen verdient, steht noch aus. Sein Buch wird man vielleicht eines Tages als den Beginn einer solchen islamischen Aufklärung würdigen.

Ibn Warraq ist ein überaus höflicher, hoch gebildeter Mann um die 60, dessen Familie aus Indien stammt. Man zog nach der Staatsgründung Pakistans in diese neue Heimstatt der indischen Muslime. Der junge Warraq wurde dort in einer Koranschule erzogen:

"Wir lernten den Koran auswendig, ohne ein Wort zu verstehen. Als Kind wurde ich nach England geschickt, um eine ordentliche Bildung zu bekommen. Ich fühlte mich fremd im Westen. Als ich 18 Jahre wurde, fing ich ein Studium der Islamwissenschaft an, weil ich mir davon Antwort auf die quälenden Identitätsfragen erhoffte. Mein Lehrer war ein islamfreundlicher Christ, der selbst noch die militantesten Strömungen des Islam voller Sympathie betrachtete. Vielleicht hat gerade das mein kritisches Temperament erweckt."

Es war dann aber vor allem die Todesdrohung des Ayatollah Khomeini gegen den Autor Salman Rushdie im Jahr 1989, die Ibn Warraq dazu brachte, mit seiner Abrechnung zu beginnen. Die Mehrzahl der Muslime – nicht nur in England – bejahte die Fatwa. Und auch viele westliche Intellektuelle fanden, Rushdie sei zu weit gegangen. Wieder andere begannen, den "wahren Islam", vermeintlich eine Lehre der Toleranz, von Khomeinis Lehre zu unterscheiden. Ibn Warraq machte dabei nicht mehr mit:

"Der Ausdruck 'islamischer Fundamentalismus’ ist an und für sich unangebracht, denn es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Christentum und Islam. Die meisten Christen sind von einer wörtlichen Bibelinterpretation abgekommen… Aufgrund dessen können wir bei Christen ganz legitim zwischen Fundamentalisten und Nicht-Fundamentalisten unterscheiden. Die Muslime sind jedoch von der wortwörtlichen Koraninterpretation überhaupt noch nicht abgerückt… Khomeinis Handlungen spiegeln die Lehren des Islams unmittelbar wider, wie sie im Koran vorkommen, in den Handlungen und Aussprüchen des Propheten oder im daraus abgeleiteten Recht."

Seinem Buch merkt man den Kampf an – es ist Befreiungsschlag und Trauerarbeit in einem. Daher ist es so wütend und quicklebendig geraten, bei aller Gelehrtheit. Der Islam muss sich - das ist der zentrale Punkt dieses Buchs - auf den Stand der Textkritik, Quellenkritik und Dogmenkritik bringen, die in den letzten zweihundert Jahren von christlichen Theologen entwickelt wurde. Dass dieses Argument hier einmal nicht von christlicher Seite kommt, sondern aus der Mitte der islamischen Welt selber, gibt ihm besondere Schlagkraft.

Der dominierende Fundamentalismus, sagt Ibn Warraq, führt zu unwürdigen intellektuellen Verrenkungen: Einflüsse aus fremden Überlieferungen, Lehnworte aus anderen Sprachen, dunkle Stellen im Koran dürfen von Muslimen nicht vorurteilslos analysiert werden. Denn wer bloß darauf hinweist, frevelt schon am Wort Gottes.

Ibn Warraq aber lässt sich nicht einschüchtern: Der Koran, zeigt er detailliert auf, ist ein Sammelsurium unterschiedlichster Textsorten. Ibn Warraq legt die Lehre des Propheten und seiner Nachfolger unter das Seziermesser. Die Hadith, die Sprüche des Propheten, zeigt er, sind leicht als spätere Fälschungen beziehungsweise Erfindungen zu überführen.

Ibn Warraq ist überzeugt, dass der Islam nicht mit den Menschenrechten vereinbar ist. Die Ungleichbehandlung der Frau, die Unterdrückung Andersgläubiger, die Vermengung staatlicher und religiöser Macht, die Missachtung der Meinungsfreiheit – für all diese Praktiken, die in islamischen Gesellschaften an der Tagesordnung sind, gibt es Rückhalt im Koran und in der Sunna.

Heißt dies, dass es auch so bleiben muss? Kann es keine Vereinbarkeit von Islam, Menschenrechten, Demokratie und offener Gesellschaft geben? Ibn Warraq hält es für ausgemacht. Ich möchte ihm dabei nicht folgen. Er selbst ist nämlich ein lebender Gegenbeweis. Denn Ibn Warraq hat es geschafft, vom Koranschüler in Pakistan zu einem leibhaftigen Wiedergänger Voltaires zu werden.

Nichts in der islamischen Kultur hatte ihn darauf vorbereitet, alle frommen Gewissheiten dem Säurebad der Kritik auszusetzen. Die Begegnung mit der westlichen Wissenschaft war ein Schock für ihn. Nun gibt er den Schock weiter an seine Ex-Glaubensgenossen. Es wäre falsch, dieses Buch als islamfeindlichen Traktat zu diffamieren. Was wie ein Angriff wirkt, ist in Wahrheit der Beginn einer Einbürgerung des Islams in die westliche Kultur.