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Testament einer Heimat

Karlo Adum ist pensioniert, Gattin Ivanka vor kurzem gestorben und der tägliche Schwatz mit dem Briefträger seine einzige Verbindung zur Welt. Dann bringt genau der ein Telegramm und nichts bleibt, wie es war.

Von Uli Hufen | 25.03.2010
    Ohne Autos geht in Miljenko Jergovics Büchern wenig. Alte Autos. In Sarajevo Marlboro, dem Erzählungsband, der Jergovic berühmt machte, war es ein VW-Käfer. Vor zwei Jahren brachte es der amerikanische Straßenkreuzer Buick Riviera sogar zum Titelhelden eines Romans, büßte dabei allerdings das zweite i in Riviera ein. In Jergovics neuem Roman ist es noch etwas komplizierter: Das Buch ist nach einer Jeep-Marke benannt. Doch ist ein solcher Jeep als Auto einfach viel zu neu, protzig und charakterlos, als dass er in einem Jergovic-Roman eine große Rolle haben könnte. Jergovic braucht den Namen des Autos als Metapher, nicht das Auto selbst. Doch dazu später. Das wirklich wichtige Auto in Freelander ist ein typisches Jergovic-Auto, eins mit Geschichte.

    1975, als er zum Entsetzen des ganzen Lehrerzimmers einen nagelneuen Volvo gekauft hatte, wie ihn weder der Mittelstürmer von Dinamo Zagreb noch der Bildhauer fuhr, der Titos Denkmäler baute, war Karlo Adum 34 Jahre alt gewesen. Für das Geld hätte man damals ein Haus in Sestine oder zwei Wochenendhäuschen auf Hvar bekommen, aber das war ihm egal, er war jung, und solange man jung ist, muss man sich seine Wünsche erfüllen, und er hatte sich diesen Volvo gewünscht. Mit dem Alter kommen andere Autos, billiger in der Anschaffung und im Verbrauch.

    Dachte Karlo Adum. 1975. 30 Jahre später hat sein Volvo noch immer keinerlei mechanische, dafür aber metaphysische Mängel.

    "Er hatte die fixe Idee, sinnlos wie jede fixe Idee, aber trotzdem konnte er sich ihrer nicht erwähren, dass sein Leben wieder einen Sinn bekäme, wenn er den Volvo losschlagen und ein neues Auto kaufen könnte. Es wäre ein Zeichen, dass sein Leben nicht mit 34 aufgehört hätte."

    Karlo Adum ist pensioniert, Gattin Ivanka vor kurzem gestorben und der tägliche Schwatz mit dem Briefträger seine einzige Verbindung zur Welt. Dann bringt der Briefträger ein Telegramm und nichts bleibt, wie es war. Onkel Tadija, von dem Karlo seit Jahrzehnten nichts gehört hat, ist in Sarajevo gestorben. Vor 60 Jahren hatte Tadija Karlos Vater mit einem Beil den Daumen abgehackt, jetzt lädt sein Nachlassverwalter zur Testamentseröffnung nach Sarajevo. Zwar ist Karlo unsicher, was das alles bedeuten soll, und besorgt sich lieber erstmal eine Pistole. Doch dann brechen die beiden Helden auf, der pensionierte Geschichtslehrer und sein treuer Volvo.

    Die Reise führt Karlo von Zagreb nach Sarajevo, von Kroatien nach Bosnien und naturgemäß auch in die Vergangenheit und zu sich selbst. Einfach so durch die Gegend fahren darf in der Literatur niemand. Es fügt sich gut, dass Karlo Adum zu allem Überfluss auch noch Geschichtslehrer ist. Der alte Mann ist stolz darauf, sich nur an das zu erinnern, woran er sich erinnern will. Doch die Reise nach Sarajevo zeigt, dass das eine Illusion ist.

    Karlo Adum erinnert sich, Karlo Adum träumt und nach und nach fügen sich die Erinnerungen und die Träume zu einer doppelten Biografie. Eine für Karlo Adum, geboren 1941, der Zweite Weltkrieg ist in vollem Gange. Und eine für sein Land Jugoslawien, gegründet aus der Asche des Krieges am 29. November 1945, untergegangen in den Sezessionskriegen der 90er-Jahre.

    Jergovic ist ein begnadeter Erzähler und es gelingt ihm mühelos, die Familien- mit der Weltgeschichte zu verknüpfen. Solide Kenntnisse der jugoslawischen Geschichte und Geografie oder ein schneller Zugriff auf Google-Maps und die Wikipedia sind beim Lesen allerdings von Vorteil: das Buch ist voll von Orts- und Personennamen, die dem durchschnittlichen deutschen Lesern kaum etwas sagen werden.

    Noch besser als in den historischen Passagen ist Jergovic, wenn er die kroatische und bosnische Gegenwart beschreibt, durch die Karlo Adum mit seinem Volvo kurvt. Es ist ein apokalyptisches Szenario.

    "Der Professor hatte den Eindruck, dass man hier absichtlich Katzen auf der Landstraße überfährt. Den Leuten ist langweilig, es ist nichts los, schon lange kein Krieg mehr, die internationale Verwaltung hat alles verboten, was die Menschen hier in der Gegend aufregend finden, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Katzen zu überfahren."

    Auf den bosnischen Straßen werden nicht nur Katzen angefahren und überfahren, sondern auch Pferde, Hunde und Menschen. Polizisten quälen Bären, Teenager verkaufen Piraten-DVDs, polnische Touristen stopfen sich mit Fleisch voll, das aus einem Massengrab stammt, und quer durch diese Apokalypse fahren Konvois der amerikanischen Friedenstruppen wie Kampfroboter einer fremden Zivilisation. Dass weder Adum noch sein Volvo ungeschoren davon kommen werden, wenn die Geschichte in Sarajevo ihrem Höhepunkt zustrebt - man ahnt es früh. Zu brutal ist die Realität des zersplitterten Nachkriegsjugoslawien, als das Adums leichte Panzerung aus Zynismus und Altersweisheit oder eine Pistole Schutz bieten könnten.

    Ganz zum Schluss klärt Miljenko Jergovic dann auch noch das Rätsel um den Titel seines Romans auf. Und hier wird es seltsam und etwas ärgerlich. "Freelander" ist, wie sich zeigt, das Passwort für ein Schweizer Nummernkonto, auf dem Onkel Tadjia seit 1986 seine Ersparnisse verborgen hat. Wer kommt auf so ein Passwort, fragt sich Karlo, wo es damals den gleichnamigen Jeep doch noch gar nicht gab? Die Antwort, die Jergovic seinem zugegebenermaßen schon ziemlich mitgenommenem Helden in den Kopf legt, ist abstrus. Angeblich wirkte der alte Mann, der da 1986 in Zürich auftauchte, auf die Schweizer Bankangestellten wie

    "ein Freelander, ein Staatenloser in statu nascendi, einen, den es nicht mehr geben wird, einen Mann aus einem freien Land, ein Landstreicher ohne gültige Papiere, einer ohne Wurzeln."

    Was ein "staatenloser Landstreicher aus einem freien Land" sein soll und wieso ein solcher auf Englisch Freelander heißen muss wie ein peinlich getaufter Jeep - es erschließt sich nicht. Noch unerklärlicher aber ist, weshalb Schweizer Bankangestellte fünf Jahre vor dem Zerfall Jugoslawiens einen Kunden aus Sarajevo für einen künftigen Staatenlosen hätten halten sollen. Schon klar: Der eigentliche Freelander ist nicht Onkel Tadjia, sondern der Volvofahrer Karlo. Aber das Jergovic' Buch ein teils wehmütiger, teils wütender, großartiger Roman über den Verlust Jugoslawiens ist, hätte man auch ohne die seltsame Metapher verstanden.

    Miljenko Jergovic: Freelander. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt 2010, 232 Seiten, 19.90 Euro