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Zum absehbaren Ende eines Trends
Der Hype um die Authentizität

Authentizität scheint heute ein Muss, insbesondere in der achtsamen Gesellschaft. In einer Ära der Krisen und Umbrüche aber enttarnt sich der Einklang mit sich selbst als Weltflucht. Zeitgemäßer ist ein Leben in der Revolte.

Von Volker Demuth | 05.02.2023
Gesprühter Schriftzug "Revolte ist Leben" auf einer Hauswand in Haidhausen
Das Leben nicht im Einklang, das Leben in der Revolte - ist es nicht längst wieder angesagt? (imago images / imagebroker / imageBROKER / Manfred Bail via www.imago-images.de)
„Sei Du selbst“ - so lautet der Imperativ unserer Zeit. Das jedoch ist gar keine Selbstverwirklichung, sondern nur eine Reaktion auf die wachsende Bindungslosigkeit allerorten. Nur die Bindung an sich selbst scheint zu retten. Das ist eine Fluchtbewegung, die den Begriff der Authentizität leer zurücklässt. 
Der Wunsch nach Authentizität ist die Weigerung, die turbulente Welt zu gestalten – eine Welt, deren Widersprüche bis tief in das Subjekt reichen: Hier Work-Life-Balance, dort Krieg. Hier Whale-Watching, dort Artensterben. Wenn jedoch der Einklang mit sich selbst unmöglich wird, scheint das Leben in der Revolte zeitgemäßer.
Volker Demuth, geboren 1961, ist Lyriker, Schriftsteller und Essayist. Er studierte in Tübingen und Oxford Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte. Er war Dozent für Medientheorie und Professor für Mediengeschichte und Medientheorie an der Fachhochschule Schwäbisch Hall. Seine Spezialgebiete sind die Theorie der Narrativität sowie die Körper- und Technikgeschichte. Außerdem hat er Hörspiele und Features geschrieben. Zuletzt erschienen: Fossiles Futur. Gedichte (2021); Niederungen und Erhebungen (2019); Der nächste Mensch (2018).

Halten wir gleich zu Anfang fest: Jede Zeit kennt Begriffe, in denen sich, auch wenn sie sich vielleicht nicht jeder zu eigen macht, doch so etwas wie eine Epochenstimmung spiegelt. Empfindsamkeit lautete im 18. Jahrhundert so ein Begriff des erwachenden, auf seine Emotionen achtenden Bürgertums. Oder Weltschmerz, mit dem der innere Riss des romantischen Ichs gegenüber einer sich industrialisierenden, entfremdenden Welt zum Ausdruck kam. Natürlich auch Nervosität, jene innere Unrast und Gereiztheit, von der sich die Menschen des Fin de Siècle, umgeben von wachsendem Lebenstempo und einer technisch getriebenen Welt, erfasst sahen.
Ein solcher Begriff ist in unserer Gegenwart Authentizität. „Politiker sollen authentisch sein“, schreibt eine deutsche Wochenzeitung. Dasselbe gilt von wirtschaftlichen Führungskräften, denen etwa in Karrierebibeln „Die Kunst, authentisch zu sein“ vermittelt wird, da laut einer Studie für Führungskräfte „über 60 Prozent der Befragten Authentizität für die wichtigste Führungseigenschaft halten“. Sowenig darum ein Mangel an passenden Consulting-Anbietern besteht, so groß ist das Angebot auch auf der ganz persönlichen Ebene. Die Zahl an Ratgebern und Taschenbuch-Coachings ist schier unüberschaubar und reicht von Mut zur Authentizität bis Der Mai Tai trinkende Mönch und die Lehre der Authentizität.
Natürlich soll auch der Urlaub authentisch sein. Wer will, kann eine authentische Schamanen-Tour in Sibirien oder einen Kurs buchen, der vermittelt, wie sich Kulturen authentisch und ganzheitlich erleben lassen, zum Beispiel bei Tourismusprojekten in Entwicklungsländern, wo man die lokale Bevölkerung unterstützen und authentische Armut kennenlernen kann. Warum man sich authentische Hobbys zulegen, authentische Kleidung tragen oder sich mit ebensolchen Möbeln umgeben sollte – ein Blick ins Internet versorgt uns mit unzähligen Gründen. Selbst aus architektonischer und denkmalpflegerischer Sicht lässt sich „eine Authentizitätssehnsucht in Städtebau und Stadtentwicklung“ ausmachen, was, wie Ingrid Scheurmann in einer wissenschaftlichen Untersuchung darlegt, häufig „mit Bildern des guten Alten“ verbunden werde, leicht sichtbar in den neohistorischen Stadtzentren von Frankfurt, Dresden oder Berlin.
Während Authentizität in Fachdebatten um Baudenkmäler tatsächlich überraschend früh, nämlich bereits seit 1964, seit der Charta von Venedig, eine maßgebliche Rolle spielte, ließ ihre Karriere innerhalb der breiten Gesellschaft bis Ende des Jahrhunderts warten. Der steile Aufstieg der Authentizität beginnt wahrnehmbar mit dem 21. Jahrhundert. Zuvor beherrschten Poststrukturalismus, Posthumanismus und Postmoderne die Debatte. So unterschiedlich diese dabei im Einzelnen waren, so zeigten sie sich insgesamt doch überzeugt davon, dass Wahrheit uneindeutig, das Ich ein Plural und die Realität ein Spiel der Zeichen sei. Philosophen und Soziologen erklärten, das Ich sei kulturell vielfach codiert und entsprechend lasse es sich neu codieren, abhängig von gesellschaftlichen Spielräumen und individuellen Wünschen. Mit diesem eklatanten Liberalismus der Identität schien sich eine grenzenlose Mannigfaltigkeit und die fortwährende Wandlungsfähigkeit von Individuen durchzusetzen, eine soziale Kraft, wie man sie global dem westlichen, liberalen Demokratiemodell überhaupt zuschrieb.
Inzwischen wissen wir, unser Irrtum hat historische Ausmaße. Sowohl der politisch‑gesellschaftliche Vorbildcharakter des Westens wie auch die Doktrin vom Identitätsliberalismus sind zerbröckelt und haben sich aus heutiger Sicht als Illusion erwiesen. Denn der einst von Adorno so bezeichnete „Jargon der Eigentlichkeit“ beginnt sich in einer Generation aufs Neue durchzusetzen, die von Fragen um ihre geschlechtliche, ethnische oder wahre kulturelle, nicht angeeignete Identität umgetrieben wird. Entsprechend gehört kaum ein Begriff so entschieden zum typischen Vokabular der woken, achtsamen und mikrosensitiven Gesellschaft wie Authentizität. Längst ein Modebegriff, fordert er dazu auf, der Auseinandersetzung mit sich selbst, den Milieuprägungen und sexuellen Neigungen nicht mehr auszuweichen. Ein catchword für alle Bestrebungen, sich mit sich selbst ins Benehmen zu setzen und im Inneren, im eigenen Selbstgefühl etwas aufzubauen, das man für die wahre Essenz, das eigene Wesen halten kann.
„Die Spätmoderne“, lautet die soziologische Diagnose, „erweist sich so als eine Kultur des Authentischen“. Aber natürlich stellt Authentizität keine Neuerfindung unserer Zeit dar, auch wenn die Bezeichnung erst jetzt zur Prominenz gelangt. In Wahrheit ist sie Teil der langen Geschichte bürgerlicher Innerlichkeit, die mit pietistischen Seelenberichten beginnt, sich im 18. Jahrhundert mit der Epoche der Empfindsamkeit fortsetzt und über die romantische Weltfühligkeit zur psychoanalytischen „talking cure“ reicht, mit der eine bis heute ungebrochene Geschichte subjektiver Seelenerforschung und innerer Korrekturbemühungen gestartet wird. Nicht zufällig nimmt die Psychoanalyse entscheidenden Einfluss auf das, was in den 70er Jahren unter ‚Selbstverwirklichung‘ verstanden wird, dieser etwas nebelhaften Selbstzuwendung, schwankend zwischen drogenindizierter ‚Bewusstseinserweiterung‘, esoterischem Spiritualismus und einer freien, geschlechterbewussten Sexualität.
Was aber ist nun eigentlich gemeint mit Authentizität? Authentisch-Sein heißt in Kürze: Ich bin, der ich bin. Merkwürdigerweise trifft sich das genau mit der namentlichen Definition von Jahwe, dem alttestamentarischen Gott, der bereits im Namen seine Festigkeit und Unwandelbarkeit kundtut. Viel später, im 19. Jahrhundert, hat Nietzsche mit seiner Umwertung aller Werte diese statische Authentizität durch eine dynamische ersetzt: Werde, der Du bist! Mit diesem Imperativ sieht sich das moderne Subjekt nun einer Arbeitsaufgabe gegenüber. Und sie ist in ihrem Anforderungsprofil nicht zu unterschätzen.
Denn Authentizität wirkt als Unterscheidungsmerkmal. Sie fragt nach einem bestimmten Sein. Nach dem Sein von Einzelnen. Dabei geht es gerade nicht ums Allgemeine oder Große-Ganze. Vielmehr kreist der Prozess des Authentisch‑Werdens um das Besondere, das ganz Eigene, Singuläre.
Wofür die seelische Innenarchitektur mit einer pastellfeinen Palette hauchzarter Unterschiede auszugestalten ist. Die Selbstgestaltung dieser authentizitätsdiversen Einzelwesen bewegt sich zwischen Selbstbetrachtung und Selbstbezogenheit, zwischen Ich-Analyse und Egozentrik. Begleitet wird der Ich-Findungsprozess in aller Regel mit erheblichem Aufwand an Lektüre, Seminaren und Workshops, was mit dem jeweiligen sozialen Umfeld intensiv geteilt wird.
Ein kommunikativer Aufwand, der keineswegs fehlen darf. Denn eine Person oder Sache als authentisch zu bestimmen, bleibt zunächst sonderbar inhaltsleer. Doch gerade darin liegt ein Grund, weshalb sie gesellschaftlich so weit um sich zu greifen vermag. Ein stiller, in sich gekehrter Mensch kann ebenso authentisch sein wie ein extrovertierter, lautstark auftretender. Authentisch ist jeder und jede und jedes für sich. Entweder in der Selbstzuschreibung – ich bin authentisch – oder in der Fremdzuschreibung – er/sie ist authentisch.
Die Forderung: ‚Sei, der du bist‘ lässt sich jedenfalls kaum von der Frage unterscheiden, wie man es schafft, authentisch zu wirken, auf andere und auf sich selbst. Ziel der Selbstfindung moderner Subjekte ist es, einen Punkt zu erreichen, wo man an etwas zu glauben beginnt, das als ursprüngliches, wahres, echtes Selbst vorgestellt wird.
Obwohl Authentizität insofern zwischen Unbestimmtheit und Zuschreibung erheblich schillert, stattet sie moderne Subjekte doch wirkungsvoll mit einem hochgradig individualistischen, dazu positiven Persönlichkeitsmerkmal aus. Ganz ähnlich verhielt es sich mit früheren Konzepten des Selbst, beispielsweise jenen von Originalität und Genialität, verbunden im 18. Jahrhundert in der Person des Originalgenies. Dieses verband Erfindungsgabe mit Eigenschaften des Erneuerns, heute würde man sagen mit disruptiver Schöpferkraft, mit kreativer Zerstörung. In der Folge kultiviert in Gestalt des antibürgerlichen Dandys, des extravaganten Bohemiens, im modernen Künstler oder visionären Unternehmer.
Und der Blick darauf macht einen markanten Unterschied deutlich. Dermaßen ambitioniert nämlich ist Authentizität ersichtlich nicht. Weder geht es darum, etwas Besonderes zu schaffen noch etwas Einzigartiges zu sein. Worum es geht, ist ein vergleichsweise niederschwelliger Anspruch: Man braucht nichts Außergewöhnliches, man soll einfach nur man selbst sein. Es reicht, eine Version von Ich zu sein, welche die Gesellschaft der Mitte und einer kollektiven Gleichheitsnorm bevorzugt und normativ auszeichnet.  Um mit sich im Einklang zu sein, bedarf es keiner Sonderleistung, ein gewisses Mittelmaß reicht auch schon aus. Folglich geht es hier keinesfalls, wie ein anderes gesellschaftliches Schlagwort verlangt, um Selbstoptimierung.
Gleichwohl strebt nach Anerkennung, wer sein authentisches Ich selbst herstellt. Authentizität ist eine Gestaltungsnorm, wertvoll gleichermaßen im öffentlichen baulichen Raum wie bei der Selbstgestaltung. Und wenn die Frage lautet: Wer bin ich wirklich, wer bin ich in Wahrheit?, dann wird nach etwas Substanziellem gesucht, nach einem festen Wesenskern, was nahelegt, dass Authentizität eng mit Vorstellungen einer Wesenslehre einhergeht. Dieser sogenannte essentialistische Denkrahmen fasst eine Vorstellung von Individuen ein, deren Ziel darin liegen sollte, ein Wesen und also mit sich eins zu sein, ohne Widersprüche, Sprunghaftigkeit, innere Zerrissenheit.
Das Streben nach Authentizität kommt der Suche nach der eigentlichen, wahren Selbst-Substanz, dem mit sich selbst übereinstimmenden Ich gleich. Das unveränderliche Wesen des Schwarzseins, Linksseins, Schwulseins, Deutschseins, Frauseins, Muslimseins kommt dabei einer quasimetaphysischen Behauptung gleich. Das eigene, intime Sein wird zum Sehnsuchtspunkt, nicht irgendwelche öffentlichen sozialen Rollen, professionellen Haltungen oder situativen Erscheinungsweisen. Um das zu erreichen, versucht man auszuschließen, was an einem selbst unverständlich, mehrdeutig, auch unberechenbar ist. Authentizität, können wir nun zusammenfassen, ist ein Vereinfachungsschema.
Führen wir uns dazu noch einmal für einen Moment den radikalen Gegenentwurf vor Augen, wie er bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Debatten beherrschte. Individualität schien als feste Substanz geradezu pulverisiert. Das ließ sich auch schon an den hochkomplizierten Begriffen ablesen. Baudrillard sprach vom fraktalen Subjekt, vom Ich-Simulakrum. Donna Haraway erklärte die Cyborgisierung zum Ideal, mit der sich bisher eiserne Grenzen zwischen Mensch und Technik, Mensch und Tier auflösten. Auch ein postkolonialistisches Element wurde aktiv. Der französische Schriftsteller Édouard Glissant etwa lehnte es ab, Identität aus einer kulturellen Wurzel zu definieren anstatt aus einem hundertfach verästelten Rhizom. Und innerhalb der Kunst wurde die Idee eines originalen Werks und eines singulären Schöpfers begraben und an dessen Stelle Sample, Remix, Remake, Pasticchio gesetzt.
Wie sehr entlastet dagegen der heutige Authentizitätskult von all diesen vertrackten Theorien, von der postmodern ins Extrem gesteigerten Kompliziertheit des Ichs. Das Vereinfachungsschema Authentizität, die „Authentizitätsrevolution“, behauptet den Vorrang. Falls der Schein nicht trügt. Denn ganz so einfach stellen sich die Dinge bei näherem Hinsehen dann doch nicht dar. Um das zu erkennen, erweist sich folgende Frage als hilfreich: Was ist die geschichtliche Problemlage, für die Authentizität eine gesellschaftliche Lösung bieten soll?
Wer erklären will, warum sich die Leitidee vom Ich so radikal verändert hat, muss vor allem drei Faktoren in Betracht ziehen. Da ist zunächst der mediale. Einerseits nämlich ist es im digitalen Raum nicht schwer, andere Ich-Gestalten zu erfinden und sich mit gefilterten und gemorphten Images und Alternativbiografien in der virtuellen Welt zu präsentieren. Damit wird die hybride Persönlichkeit etwa auf sozialen Plattformen zur ganz konkreten Erfahrung. Zum anderen hat die Selfie-Generation typischerweise ein vordringliches Interesse am „self“, dem mit jedem neuen Handy‑Foto für den Bruchteil einer Sekunde aufscheinenden geheimnisvollen Ich. Das Smartphone verschafft den tausendfachen, selbstgemachten Blick auf sich selbst. Doch leider bleibt er, ob auf Facebook, TikTok oder Instagram, äußerlich und irgendwie immer ein Akt der Selbstdarstellung und nicht des Selbstseins. Wie aber erreicht man das innere, unverstellte Ich? Auf welche Weise kann es gefunden, festgehalten, ausgearbeitet werden? Die Antwort lautet: Authentizität.
Den zweiten Faktor könnte man als verschärfte Moderne bezeichnen. Sie wird erfahren durch Mobilität, Flexibilität, Globalität, was sich in Form einer zunehmenden Destabilisierung einer verlässlichen Selbstwahrnehmung auswirkt. Die Dinge sind ständig anders – und damit bin auch ich ständig anders. In dieser Situation sehe ich mich mit der Frage konfrontiert: Wie schaffe ich es, mich in der rasant verändernden Welt mit ihrem unausgesetzten Anpassungsdruck nicht gänzlich zu verlieren? Wiederum lautet die Antwort: Authentizität.
Den dritten Faktor stellt das wirtschaftliche Umfeld dar. Denn für die neue Identitätskultur bildet der wachsende Wohlstand die ökonomische Grundlage. Der Lebensstil von Authentizität ist ja durchaus kostspielig, außerdem verlangt er ein beträchtliches Budget an freier Zeit. Um im Fortgang des Lebens sein wahres Ich finden oder heraus modellieren zu können, ist Selbstbeobachtung, Fremdanleitung und viel Selbstgestaltungsaufwand vonnöten, im Stil, im Sprechen, im Benehmen, im Wertesetting, in den sportlichen Aktivitäten. Um sich nicht selbst zu verfehlen, um echt, unmittelbar, unverstellt zu werden oder zu wirken, dafür gibt es flächendeckend Awareness-Berater, Atemseminare und Selbsterfahrungskurse. Das alles ist nicht umsonst.
Doch ohne Möglichkeit, authentisch zu werden, hängt man in einer geschichtlichen Phase in der Luft, wo Pflichten und allgemeine Erwartungen an Kraft einbüßen, hingegen schier grenzenlose Angebote und Wahlmöglichkeiten die Gesellschaften und Individuen in ihrem Handeln anreizen und bewegen. Es ist wichtig, diese wirtschaftliche Bedingung zu beachten. Auch um zu verstehen, warum es in Schichten, mit deren Einkommen sich ein Lebensunterhalt eher schlecht als recht bestreiten lässt oder die von Sozialhilfe leben müssen, wenig Verständnis für diese gesellschaftlich höher angesiedelte Authentizitätskultur gibt. Authentizität ist das Merkmal eines besonderen soziokulturellen, ökonomischen Milieus, eine Ich‑Wunschform innerhalb privilegierter Gruppen.
Zusammengenommen zeigt uns das zweierlei: Der Druck auf das Ich hat heute enorm zugenommen. Zum anderen wird aber auch klar: Authentizität ist nichts rein Innerliches, Subjektives. Es gibt dafür einen objektiven Rahmen. Auf Subjektivierungsprozesse wirken gesellschaftliche Kräfte, die eine Form von Macht ausdrücken. Allgemeine Problemlagen, wie die eben genannten, formen den moralisierenden Zeitgeist, sie begünstigen die Ausbildung gewisser Normen, wie ich sein soll, und werden dadurch zu Prägekräften für jeden einzelnen.
Dennoch legen die Erfahrungen der neueren Geschichte, vor allem in Deutschland, nahe, diesen forcierten Egozentrismus kritisch zu hinterleuchten. Bereits während des Zweiten Weltkriegs attestierte der Sozialphilosoph Helmuth Plessner den Deutschen eine ungute Mentalität, nämlich anstatt eine streitbare Demokratie aufzubauen, die Flucht in eine Ersatzform, die kulturalisierte Nation anzustreben und dabei den Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit in eine innere, um sich selbst kreisende Welt kleiner, gefühlsbetonter Gemeinschafen zu vollziehen. Und 1945 diagnostizierte Thomas Mann in seiner Rede „Deutschland und die Deutschen“ hierzulande eine fatale Neigung zur Innerlichkeit, zur „unweltlichen Versponnenheit“. Diese ungebrochene Bereitschaft zum Irrationalen reicht bis zu esoterischen, spirituellen Milieus der Gegenwart oder zu Verschwörungstheorien identitärer Gruppen, die so echt deutsch wie authentisch wütend sind. Zweifelsfrei stehen solche Bevölkerungsgruppen mit sich selbst dermaßen im Einklang, dass sie andere zwangsläufig ausschließen, denn sie halten deren Authentizität mit der eigenen für schlechterdings unvereinbar. Damit sind Spannungen und gesellschaftliche Spaltungen vorprogrammiert. Ein entscheidender Grund für den Literaturwissenschaftler Erik Schilling zu urteilen: „Authentizität als Meta-Norm ist totalitär.“
Ob man die ablehnende Zuspitzung so weit treiben muss, sei dahingestellt. Sicher ist, Authentizität, die nicht ohne Identitätsfestigung zustande kommt, vollzieht sich als ein Ausschlussmechanismus. Deswegen geht sie gut zusammen mit Populismus, Neonationalismen oder religiösem Fundamentalismus. Und es ist wirklich verblüffend: Wo auf der Ebene der Gesellschaft die Forderung von Diversität und Vielfältigkeit erhoben wird, da suchen die Individuen paradoxerweise das Ideal der Eindeutigkeit und eines unmissverständlichen Identitätskerns. Wie kann man authentisch homosexuell leben? Was heißt authentisch deutsch sein? Welche Toilette kann ich aufsuchen, ohne mich verstellen zu müssen? Und wie kann ich, sogar diese Frage wird aufgeworfen, authentisch sterben?
Umgeben von wachsender Bindungslosigkeit, der Abschwächung hergebrachter Selbstbilder, schnellen Veränderungen, zahllosen Lebensmodellen und ansteigender Genderfluidität reduziert Authentizität sowohl eine unübersichtliche Welt als auch das Unbehagen an der eigenen Selbstungewissheit. Bei all dem offenbart sie sich als ein Schema des Konservatismus. Authentisch bedeutet eben nicht bloß, echt und eigentlich zu sein, man ist dann auch verlässlich, gleichförmig und ausrechenbar.
Jedenfalls verhält man sich nicht sprunghaft, inkonsistent, chaotisch, man ist kein Systemsprenger oder Anarchist. Wir werden uns daher der Einsicht nicht verschließen können, dass das subjektive Authentizitätsbedürfnis längst zur sozialverträglichen Anforderung geworden ist, was unausweichlich hohe Anpassungskräfte mit sich bringt. Die Menschen, meint Boris Groys, „produzieren ein Bild ihrer selbst mit dem Ziel, von der Gesellschaft gemocht zu werden“. Jeder hat authentisch zu sein, mindestens aber danach zu streben. Auf diese Weise radikalisiert und kontrolliert Authentizität unser liberales Selbstdesign. Sie bildet die letzte Bindungsmöglichkeit des zu Ende individualisierten Individuums: die Bindung an sich selbst.
Nicht erstaunlich also, wo das Ich den gesellschaftlichen Gravitationskern ausmacht, wie in der medialen Performance- und ökonomischen Wellness-Gesellschaft, da spielt Authentizität eine vorrangige Rolle. Allerdings erleben wir gerade, dass sich hier etwas verschiebt: durch die globale Umwelt-und Klimakatastrophe, durch die Rückkehr des Kriegs und der Atombombendrohung nach Europa, durch die Gefahr weltweiter Pandemien, durch zunehmende Verarmungsdynamiken.
Es lässt sich ja nicht übersehen: Wir leben im Widerspruch. Dies kennzeichnet allgemein die psychische und politische Situation. Widerstreitende Ansprüche, unvereinbare Lebensinteressen, gegensätzliche Überzeugungen prägen unsere Zivilisationsform. Unvermittelbarkeiten, wohin wir blicken. Hier Work-Life-Balance, dort Gewalt und wachsende Migrationsströme, hier Latte-Macchiato-Wohligkeit und dort brennende Regenwälder, dort Whale-Watching und anderswo Artensterben. Bekommt das authentische Ich-Erlebnis da nicht den Anstrich der Frivolität?
Dass Authentizität aus einem fortwährend reflektierten Selbstverhältnis besteht und deswegen eine typisch narzisstische Komponente besitzt, wirft ein verändertes Licht auf die Frage, ob sie denn noch zeitgemäß sein kann. Wie konventionell angepasst ist derjenige, der sein Ego eifrig mit den feinen Unterschieden des Authentischen aufpäppelt? Wie selbstzugewandt und letztlich bequem stellt sich eine selbstidentische Sehnsucht dar, wo es scheint, als müssten wir die Welt neuerdings wieder vom Krieg her denken: als nicht beendeten Krieg gegen die Natur, als reale Handels- und Militärkonflikte, als Ringen um machtpolitische Einflusssphären, deren Akteure wieder unverhohlen nach kolonialistischer Vormacht und hegemonialen Abhängigkeiten streben. Die agonale Energie ist unverkennbar zurück auf der Weltbühne.
Vor diesem Hintergrund stellt Authentizität sich als die unpolitische, gänzlich private Form von Identität heraus. Der harmonische Bezug zu sich ist zum Teil auch Selbstkonsum – ich genieße mich selbst. Diese spätmoderne Selbstbezogenheit wirkt im Umfeld global sich überlagernder Menschheitsprobleme geradezu biedermeierhaft und wie aus einer anderen Zeit. Doch die großen Ferien Europas von der Geschichte gehen zu Ende, kommentiert Régis Debray die neue Lage. Tatsächlich stehen wir nicht allein in Europa vor überragenden geschichtlichen Aufgaben. Hilft es da, ins eigene Ego abzutauchen und wie in einem großen kulturellen Strudel um unser vermeintliches Wesen zu kreisen? Wohl eher nicht, denn durch Authentizität bringen wir nicht die Probleme zum Verschwinden, durch Authentizität bringen wir nur uns selbst als politische Personen zum Verschwinden.
Ist Authentizität demnach ein Verdrängungsmechanismus? Dient sie privater Ich‑Bezogenheit mit der Folge, dass man öffentlichen Herausforderungen aus dem Weg geht? Wenn dem so wäre, trüge das Authentizitätsverlangen dazu bei, soziale Ungleichheit und globale Zerstörung weiter zur Entfaltung gelangen zu lassen. „Solange alle“, meint dazu der Wiener Philosoph Robert Pfaller, „nur darüber nachsinnen, was sie sein wollen, kommen sie nicht mehr dazu, zu überlegen, was sie haben wollen.“ Und, ist unbedingt hinzuzufügen, worum sie sich kümmern sollten, damit die Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft besteht.
Ist es richtig, in Authentizität nicht einen Teil der Lösung, sondern eine maßgebliche Quelle der Problemverschleppung zu erkennen, dann liegt der Abschied vom Tanz mit sich selbst nahe. Doch was wäre die Alternative: Sich zurücknehmen, das eigene Selbstdesign hintanstellen, um stattdessen die Verantwortung für ein Kollektiv zu übernehmen? Gewiss ist: Sich aus der Norm von Selbstbezogenheit zu lösen, fällt alles andere als leicht. Es setzt nämlich voraus, den Primat des Ichs aufzugeben, dafür gesellschaftlichen Belangen und dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen den Vorrang einzuräumen. Etwas, das ohne Umwertung individualistischer Werte, ohne die Umstellung von übersteuerter subjektiver Selbstzuwendung zu verantwortlicher Weltgestaltung nicht gelingen wird. Statt Design des authentischen Selbst braucht es das Engagement an der gemeinsamen Zukunft.
Wo Authentizität herrscht, ist die kleine, subjektive Welt mit sich im Einklang. Nichts wäre uns mehr zu wünschen. Nur, angesichts unserer heutigen Situation hängt der Harmonie stets etwas Unehrliches, Verdrängendes an. Stellen wir uns also die Frage: Mit sich uneins sein, zerrissen zwischen dem alten und einem neuen, veränderten Lebensanspruch, versehrt vom Gefühl tiefer Widersprüche, angegriffen vom dunklen Wissen um das unrichtige Leben im falschen: Trifft das nicht viel genauer die psychopolitische Lage, in der wir uns heute wiederfinden? Das Leben nicht im Einklang, das Leben in der Revolte – ist es nicht längst wieder angesagt?
Der politisch-philosophische Zeitbeobachter Charles Taylor war es, der noch vor fünfzehn Jahren vom „Age of Authenticity“ sprach. Doch so, wie es damals gesellschaftliche Umstände gab, die diese Beschreibung rechtfertigten, so sprechen heute ernsthafte Gründe dafür, dieses Zeitalter zu beenden. Halten wir also fest: Jede Zeit hat ihre Epochenstimmung, doch ist jene der Authentizität an ihre historische Grenze gekommen. Und nach allem, was wir heute an gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Verschärfungen sehen, müssten wir uns davon leiten lassen, wieder mehr über Verantwortung, Erwachsenheit, Widerstandskraft, Unangepasstheit zu sprechen.
Die Zeit jedenfalls scheint überreif dafür, sich von postmodernen und postpostmodernen Ich-Inszenierungen zu verabschieden und Personen an deren Stelle zu wünschen, die, anstatt sich vorrangig mit sich selbst zu beschäftigen, fachlich fähig, menschlich integer und global verantwortlich handeln. Ob diese dann auch noch irgendwie authentisch sind, ist von durchaus nachgeordnetem Interesse. Das überbordende Reden von und die Sehnsucht nach Authentizität haben sich überlebt. Dafür sorgen die globalen Entwicklungen. Die Aufgaben für das Subjekt, das seine Eigengestaltung, seine moralische Plastizität ernst nimmt, sind unmissverständlich andere geworden.