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Tarifdschungel der Diakonie

Die Diakonie in Deutschland steht in der Kritik. Der Vorwurf: Lohndumping und eine mangelhafte Arbeitnehmervertretung. Der Soziologe Norbert Wohlfahrt hat mit anderen Forschern eine qualitative Studie über Arbeitsbedingungen in der Diakonie vorgelegt.

Norbert Wohlfahrt im Gespräch mit Rainer Brandes | 20.08.2012
    Rainer Brandes: Herr Wohlfahrt, Sie haben in Ihrer Studie die arbeitsrechtlichen Bedingungen in knapp 300 diakonischen Einrichtungen untersucht. Und zwar unter der Fragestellung: Welche Tarifstrukturen gibt es dort und welche Rolle spielt dabei Leiharbeit? Bleiben wir mal bei der Tarifstruktur. Was ist, kurz gesagt, da Ihr Fazit?

    Norbert Wohlfahrt: Ja, das Ergebnis zusammengefasst ist so, dass wir eine flächendeckende Ausgründungspraxis bei den diakonischen Werken feststellen können, die zugleich einer Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen dient. Wir stellen fest, dass eine flächendeckende Anwendung von Leiharbeit nicht nachgewiesen werden kann, also von ersetzender Leiharbeit.

    Brandes: Bleiben wir mal kurz bei dem Phänomen der Ausgründung. Also, das bedeutet, dass zum Beispiel viele Krankenhäuser Service-Gesellschaften bilden, die für Reinigung oder für die Küche zuständig sind. Und in diesen ausgegründeten Gesellschaften gibt es ja häufig Betriebsräte, es gelten dort Tarifverträge, die mit den Gewerkschaften ausgehandelt werden. Und trotzdem ist die Bezahlung dort oft schlechter als im kirchlichen Tarifrecht. Zeigt das nicht gerade, dass dort, wo ganz normale Tarifverträge gelten, eben gar kein Schutz besteht?

    Wohlfahrt: Sie müssen sagen, um wen handelt es sich dabei. Es handelt sich dabei um Arbeitsnehmergruppen. Überwiegend sind es ja Frauen, die in diesen Einrichtungen arbeiten, die überhaupt schon in einem relativ schlecht bezahlten Segment tätig waren. Jetzt wird argumentiert, dass am Markt deren Kosten nicht mehr refinanziert werden und deshalb Ausgründungen notwendig sind, um die nicht mehr refinanzierten Kosten aufzufangen. Dazu dient die Ausgründung. Und es ist tatsächlich so, dass die in diesen ausgegründeten Betrieben natürlich noch einmal schlechter verdienen.

    Brandes: Aber offensichtlich ist es ja so, dass in diesen ausgegründeten Gesellschaften häufig Betriebsräte vorhanden sind, dass Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften stattfinden, dann könnten die ja dafür sorgen, dass eine bessere Bezahlung stattfindet.

    Wohlfahrt: Das ist richtig. Allerdings ist aus unserer Sicht die Schwäche der gewerkschaftlichen Interessenvertretung dort so, dass es offensichtlich nicht dazu führt, dass höhere Löhne für diese Personengruppe durchgesetzt werden können. Das Ganze kann man sich auch verdeutlichen an der Auseinandersetzung um den Mindestlohn in der Pflege, wo das Diakonische Werk sich ja gegen einen Mindestlohn von neun Euro positioniert hat – mit dem Argument, dass das die eigenen sozialwirtschaftlichen Betriebe in Schwierigkeiten führen könne.

    Brandes: Aber trifft da die Kritik mit den Kirchen nicht eigentlich die Falschen? Denn es ist doch so, dass die Kirchen tatsächlich unter finanziellem Druck stehen, weil die Kassen seit den 1990er-Jahren nicht mehr die tatsächlichen Kosten erstatten, sondern eben nur noch Fallpauschalen. Also hat die Kirche überhaupt eine andere Wahl?

    Wohlfahrt: Ja. Also das glaube ich schon, dass es diese andere Wahl gibt. Wenn wir uns die Logik der Personalkostenstrategie verdeutlichen, dann sieht es ja so aus, dass immer argumentiert wird, dass entweder private Anbieter noch ungünstigere Lohnbedingungen haben oder dass am Markt die entsprechenden Kosten nicht refinanziert werden. Wenn das so ist, dann wäre es doch notwendig, dass sich die Sozialverbände, also auch die Kirchen, dafür stark machen, dass einheitlichere Tarifbedingungen am Markt durchgesetzt werden. Und wenn diese einheitlicheren Tarifbedingungen gewollt werden, dann bedarf es einer entsprechenden Macht und Stärke der dahinter stehenden Verbände und ihrer Sozialunternehmen. Wenn Sie sich jetzt die Strategie der kirchlichen Sozialunternehmen verdeutlichen, dann ist es das genaue Gegenteil, was wir beobachten können. Sie verweisen seit Jahren darauf, dass das öffentliche Dienstrecht zu unflexibel und zu starr sei, und fordern im Gegenteil eine weitere Flexibilisierung des Tarifrechts, also das, was wir als Zersplitterung wahrnehmen.

    Brandes: Und da haben Sie ja festgestellt, dass es innerhalb der Diakonie in Deutschland eine große Zersplitterung des Tarifgefüges gibt. Es gibt 22 Landesverbände der Diakonie und in diesen Landesverbänden gibt es 16 Arbeitsvertragsrichtlinien. Und hinzu kommt, dass einzelne diakonische Einrichtungen sich auch noch aussuchen können, das Recht welchen Landesverbandes sie anwenden wollen. Also, wenn ich mich heute bei der diakonischen Einrichtung irgendwo bewerbe, weiß ich dann, zu welchen Bedingungen ich eingestellt werde?

    Wohlfahrt: Ja, wenn Sie über die ausreichende Kenntnis verfügen, dann können Sie das den Stellenausschreibungen in der Regel entnehmen. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Hier bei uns in Rheinland-Westfalen-Lippe wendet ein großes diakonisches Werk den AVR-DW-EKD an …

    Brandes: Das ist also das Vertragswerk des Dachverbandes …

    Wohlfahrt: … des Dachverbandes der Diakonie. Bei Unternehmen, die den anwenden, schreiben ihnen zugehörige Sozialunternehmen aber den AVR-Bayern aus, beispielsweise bei der Einstellung von Sozialarbeitern hier in Rheinland-Westfalen-Lippe. Dieser AVR-Bayern liegt unterhalb des AVR-DW-EKD. Durch dieses AVR-Hopping wird zur Tarifzersplitterung beigetragen und werden natürlich auch Wettbewerbsvorteile erwirtschaftet.

    Brandes: Dieses Vertragshoppping, das Sie gerade ansprechen, wird ja auch von Vertretern der Kirche durchaus kritisiert. 2011 hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gefordert, dass alle diakonischen Werke eben die Arbeitsvertragsrichtlinien des Dachverbandes anwenden sollten. Ist das für Sie eine Lösung des Problems?

    Wohlfahrt: Nein. Es ist richtig, der dritte Weg ist unter Druck geraten. Jetzt reagieren sie so darauf, dass die Synode und auch der Präses fordern, dass einheitliche Tarifbedingungen existieren, also die Tarifzersplitterung zurückgeführt wird. Die Reaktion des Verbandes der diakonischen Dienstgeber in Berlin auf die Forderung der Synode war auch relativ lapidar, indem sie darauf hingewiesen haben, ob die Synode nicht wüsste, wie stark die einzelnen Einrichtungen unter Kostendruck stehen. Um zu einer ordnungspolitischen Korrektur dieser zersplitterten Tariflandschaft zu kommen, wäre es aus unserer Sicht notwendig, einen Tarifvertrag Soziales durchzusetzen, der mit einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung die Tarifbedingungen für die gesamte Branche setzt und damit auch den Personalkostenwettbewerb mit den privaten Dienstleistungsanbietern, von denen ja immer behauptet wird, dass sie noch schlechter bezahlen, eindämmen könnte.

    Brandes: Nun ist es aber so, dass die Kirchen den Dritten Weg damit verteidigen, dass sie sagen, der ist durch die Religionsfreiheit in Deutschland gedeckt. Denn sie begründen den Dritten Weg ja theologisch, indem sie sagen, Dienstnehmer und Dienstgeber sind einem gemeinsamen biblischen Auftrag verpflichtet, nämlich dem Dienst am Mitmenschen, und das erfordere eine konsensorientierte Auseinandersetzung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wie wollen Sie das ändern, denn die Religionsfreiheit ist ja ein hohes Gut in Deutschland?

    Wohlfahrt: Ich glaube, dass die Aufgabe es Dritten Weges in der Sozialwirtschaft überhaupt keinen logischen Zusammenhang der Aufgabe des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts darstellt. In Europa ist das tarifpolitisch überhaupt die Ausnahme. In allen anderen europäischen Ländern wird weltliches Tarifrecht auch bei der Produktion kirchlicher sozialer Dienstleistungen angewandt und wird von den Anbietern auch selbstverständlich akzeptiert.

    Brandes: In den vergangenen Jahrzehnten haben deutsche Gerichte diesen Dritten Weg immer verteidigt. Glauben Sie, dass das in einer zunehmend säkular geprägten Gesellschaft noch haltbar sein wird in Zukunft?

    Wohlfahrt: Nein, das glaube ich nicht. Wenn Sie sich die gesamt Logik des europäischen Wettbewerbsrechts anschauen, dann ist die Logik ein sozialer Dienstleistungssektor, der als ganz normaler Wirtschaftsbereich existiert. Also, die betrachten im Grunde soziale Dienstleitungsproduktion wie jede normale wirtschaftliche Tätigkeit. Und die gesamte Strategie der Liberalisierung der Märkte läuft darauf hinaus, auch den sozialen Dienstleistungssektor als ganz normalen Wettbewerbssektor zu etablieren. In dieser Logik stehen natürlich auch diakonische Sozialunternehmen. Und nach dieser Logik handeln sie auch. Wenn Sie sich das jetzt bezogen auf die Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hin anschauen, dann berichten uns alle Mitarbeitervertretungen, dass die Konflikte im Rahmen des Dritten Weges zunehmen. Insofern glaube ich, dass es irgendwann dazu führen wird, dass die Gerichte sagen werden, so geht es nicht.