Aus den Feuilletons

Die Scheinheiligkeit der Fußballfans

Von Arno Orzessek · 04.06.2015
Die "Welt" moniert, dass Fußballfans zwar über die Fifa motzen, sie aber mit ihrer Begeisterung finanzieren. Joseph Blatter habe recht, wenn er diesen Sport als größte aller Weltreligionen bezeichnet. Ihre Anhänger werden für das Fußballspektakel jeden Preis bezahlen, prophezeit die Zeitung. Auch in der "SZ" geht es um Gesellschaftskritik.
Kennen Sie den schon, liebe Hörer?
"'Es gibt Männer, die sagen, die besten One-Night-Stands seien die, bei denen die Frauen am nächsten Morgen weg sind. Andere sind der Ansicht, die Frau soll bloß nicht abhauen, bevor sie nicht das Frühstück gemacht hat. Bei meinen One-Night-Stands ist es so, dass ich zuerst aufstehe, ihr ein Brot schmiere und sie dann zur Schule bringe.''"
Es ist die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, die den Pädophilie-Witz zitiert – und zwar im Gespräch mit dessen Urheber, dem Stand-up-Comedian Oliver Polak. Der auch Sprüche wie folgenden drauf hat:
"Ich vergesse die blöde Sache mit dem Holocaust – und ihr verzeiht uns Michel Friedmann."
Polak will damit aber nichts gegen Friedmann gesagt haben, ihm geht es allein "um die Absurdität des Vergleichs".
Ein "Kuscheljude der Nation"?
Im Übrigen behauptet der Scherzkeks, er könnte als "Kuscheljude der Nation" mehr Geld verdienen als mit den "harten Sachen", und beklagt, dass die deutsche Unterhaltung generell eine Katastrophe ist.
Nun denn. Wir bleiben gesellschaftskritisch.
Unter der Überschrift "Der Ball ist wund" schreibt Dirk Schümer in der Tageszeitung DIE WELT über die Scheinheiligkeit des Publikums, das auf die Fifa motzt, sie aber gleichzeitig durch Fußballbegeisterung finanziert.
"Joseph Blatter […] hatte völlig recht, wenn er den Fußball als größte und friedlichste aller Weltreligionen bezeichnete. Das nächste Spiel ist immer das schönste. Blatter, Putin, Berlusconi e tutti quanti – sogar für sie wird irgendwann der Abpfiff ertönen. Aber die Anhänger des Fußballglaubens werden immer jünger und zahlreicher. Sie sind die ganze Welt als Markt. Sie wollen in ihrem immer rationaleren, immer härteren Alltag ein unplanbares, ein neues Spektakel. Sie werden dafür jeden Preis bezahlen",
prophezeit WELT-Autor Schümer.
Das Hineinversetzen in einen anderen als Volkssport
Weit abstrakter sinniert die Soziologin Irmhild Saake in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG über die Tendenzen des Zeitalters – und das klingt dann so:
"Unsere modernen Selbstverständigungsdiskurse sind infiziert von der Vorstellung, Asymmetrie, Machtunterschiede und sonstige Ungleichheiten seien falsch. Das Hineinversetzen in die Position eines anderen […] ist so etwas wie ein Volkssport geworden. […] Die ganze Gesellschaft ist Teil dieses großen Experiments im Gleichmachen, und noch ist nicht sichtbar, wohin dieser Versuch führt. Gut möglich, dass unsere Gesellschaft auf diese Weise freier, gleicher, gerechter wird. Ganz sicher wird unser Leben komplizierter",
betont Irmhild Saake in der SZ.
Zum Kotzen: selbstfahrende Autos
Wir aber blättern die Rubrik "Gesellschaftskritik" in der TAGESZEITUNG auf, die ebenfalls neue Komplikationen aufspießt.
Eine amerikanische Studie hat nämlich festgestellt: In selbstfahrenden Autos, die das Leben eigentlich einfacher machen sollen, wird Passagieren häufiger schlecht als in handgesteuerten Mobilen.
"Das ist doch zum Kotzen. Ewig haben wir auf diese Zukunft gewartet und jetzt, wo sie endlich kommt, bringt sie nichts als Übelkeit. […] Die Gründe dafür: Konflikte zwischen Balance und optischen Eindrücken, das Unvermögen, Bewegungsrichtungen zu antizipieren, das Fehlen von Kontrolle. Übersetzt [heißt das]: Die Zeit, die man gewinnt, weil man sich nicht mehr ans Lenkrad geklammert aufs Fahren konzentrieren muss, kann man entspannt nutzen, um den Brechreiz niederzukämpfen."
Die schöne neue Welt, verspottet von der TAZ. Wir aber kehren in die alte Welt zurück.
Klaus Ungerer bejubelt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG das Berliner Konzert der ergrauten Rock-Band KISS.
"Immer […] kann man problemlos einstimmen in die Songs, wuuhuu, kann man irgendwas mit Party, Rock'n'Roll und Liebe rausgrölen, und wenn man textlich nicht weiterweiß, ruft man nach Hertha BSC, ein prima Abend war das […]. […] Ein Abend, wie gemacht, um sich an den Händen zu fassen mit einer schönen Stimmung in der Seele und […] in der nächsten Karaoke-Bar zu verschwinden."
Abschließend ein Hinweis an alle Hochkultur-Fetischisten:
Falls Sie darüber klagen wollen, dass die aktuellen Feuilletons vermehrt in Albernheit schwelgen, dann tun Sie es doch mit einer Überschrift aus der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
Sie lautet: "Außer Besen nichts gewesen."
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