Begegnungen mit Helmut Lachenmann (2/4)

Schönheit als Nadelkissen

Der Komponist Helmut Lachenmann
Der Komponist Helmut Lachenmann © Deutschlandradio / Hanna Lippmann
04.11.2015
Am 27. November 2015 feiert Helmut Lachenmann seinen 80. Geburtstag – und die Musikwelt feiert einen Komponisten, der wie kaum ein anderer unsere Art des Hörens und des Denkens über Musik verändert hat. Aus diesem Anlass wiederholt Deutschlandradio Kultur vier Folgen der Reihe "Begegnungen mit Helmut Lachenmann", in denen der Komponist über seine künstlerische Entwicklung, seine Ästhetik und seine Erlebnisse mit Musikern und Institutionen spricht. Die zweite Folge behandelt die Entwicklung der "Musique concrète instrumentale".
Helmut Lachenmann, geboren 1935 in Stuttgart, ist einer der wichtigsten und wirkungsmächtigsten Komponisten der Gegenwart, der unsere Hörgewohnheiten und unser Denken über Musik grundlegend verändert hat. Ein Komponist, der seit mehr als einem halben Jahrhundert Jahren mit seiner differenzierten Klangwelt und seinem konsequent die Gesellschaft herausfordernden Kunstbegriff Vorbild und Herausforderung für Generationen von Komponisten und Kunstschaffenden ist.
Sein Werk steht im Kontext abendländischer Musiktradition, die aber einer kritischen Reflexion unterworfen wird. Vermeintliche Sicherheiten werden in Frage gestellt, Verkrustungen und alte Gewohnheiten aufgebrochen. Nicht zuletzt ist Helmut Lachenmann auch ein scharfer und hellsichtiger Beobachter der politischen Verhältnisse, ein unerbittlicher Kämpfer die Freiheit der Kunst von inneren und äußeren Zwängen, gegen ihre Vereinnahmung und Funktionalisierung.
Im Jahr 2013 hat sich Rainer Pöllmann über mehrere Tage hinweg mit Helmut Lachenmann unterhalten – über dessen künstlerische Entwicklung und Ästhetik, aber auch über Lachenmanns Erlebnisse mit Musikern und Institutionen. Diese Gespräche flossen in die siebenteilige Sendereihe "Begegnungen mit Helmut Lachenmann" ein, die Deutschlandradio Kultur im Sommer 2014 ausstrahlte. Zum 80. Geburtstag Helmut Lachenmanns am 27. November wiederholen wir vier Folgen dieser Reihe, ergänzt durch ein O-Ton-Feature mit dem Titel "Vom Widerstand und der Magie. 80 Kapitel zu Helmut Lachenmanns 80. Geburtstag".
Nach dem Studium bei Luigi Nono 1959/1960, künstlerischen Erfahrungen mit Stockhausen, Cage und anderen sowie ersten kompositorischen Suchbewegungen entstehen ab Mitte der 1960er-Jahre die ersten Werke, in denen Lachenmann künstlerische Eigenart deutlich hervortritt: ein Streichtrio, das "trio fluido" für Klarinette, Viola und Schlagzeug, "Interieur I" für Schlagzeug und zwei Chorwerke (Consolation I und II).
Gegen Ende der 1960er-Jahre – in einer politisch aufgeladenen Zeit – entwickelt Helmut Lachenmann dann die von ihm so genannte "Musique concrète instrumentale". In deren Zentrum steht der konkrete Klang, der so weit wie möglich von allen Hörgewohnheiten, Konventionen und historischen Verkrustungen befreit werden soll. Das Geräusch tritt gleichberechtigt neben den Ton, eine Unterscheidung in "schön" und "hässlich" wird obsolet. Ziel des Hörens ist, was Lachenmann selbst gerne "Heiterkeit" nennt: eine hellwache Offenheit, frei von Festlegungen und (selbstauferlegten) Beschränkungen.
Erste Werke dieser "Musique concrète instrumentale" sind "temA" für Flöte, Stimme und Violoncello sowie drei Solowerke für Violoncello ("Pression"), Klarinette ("dal niente") und Klavier ("Guero"). Außerdem entstehen Orchesterwerke wie "Air" für großes Orchester mit Schlagzeug, "Kontrakadenz" für großes Orchester oder "Klangschatten – mein Saitenspiel" für 48 Streicher und drei Konzertflügel. Ein zentrales Werk jener Jahre ist auch das erste Streichquartett "Gran Torso".
Die "Musique concrète instrumentale" wird bis zum Ende der 1970er-Jahre zur bestimmenden Ästhetik im Werk Helmut Lachenmanns und löst nicht selten Verstörung und scharfe Ablehnung aus. Die Radikalität jener Werke ist auch heute noch spürbar, inzwischen wird aber auch ihnen höchste Wertschätzung zuteil.
In dieser Folge der "Begegnungen" spricht Helmut Lachenmann ausführlich über die ästhetischen Grundlagen der "Musique concrète instrumental": über dialektisches Komponieren und die Notwendigkeit strukturalistischen Denkens, über seine Arbeit mit Musikern und schließlich auch über die Schwierigkeiten einer "Musique concrète vocale".
Die dritte Folge der Begegnungen mit Helmut Lachenmann senden wir am 11. November 2015 um 20:03 Uhr. Im Zentrum stehen dann die Werke der 1980er Jahre und ein neuer Umgang mit der Tradition.
Begegnungen mit dem Komponisten Helmut Lachenmann
Teil 2: Die Entwicklung der "Musique concrète instrumentale"
Mit Ausschnitten aus folgenden Werken Helmut Lachenmanns:
"Kontrakadenz" für großes Orchester (1970/71)
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
Leitung: Michael Gielen
"temA" für Flöte, Stimme (Mezzosopran) und Violoncello (1968)
Linda Hirst, Mezzosopran
Martin Fahlenbock, Flöte
Lucas Fels, Violoncello
"Pression" für einen Cellisten (1969/1970)
Lucas Fels, Violoncello
"Gran Torso" Musik für Streichquartett (1971/72)
Berner Streichquartett
"Got lost" Musik für Stimme und Klavier (2007/2008)
Elizabeth Keusch, Stimme
Yukiko Sugawara, Klavier