Das Ende der Hightech-Äpfel

Von Dirk Lorenzen · 02.11.2013
Vor viereinhalb Jahren ist der Satellit GOCE gestartet, um seitdem die Anziehungskraft unserer Erde so genau zu erforschen wie keine Mission zuvor. Nun ist der Treibstoff an Bord zur Neige gegangen, GOCE wird bis Mitte November abstürzen und größtenteils in der Erdatmosphäre verglühen.
Gut vier Jahre lang hat GOCE einfach gespürt, wie stark die Schwerkraft auf ihn wirkt. Das klingt banal, aber die Daten des Satelliten sind von größter Bedeutung – und zwar rein wissenschaftlich ebenso wie bei praktischen Anwendungen im Alltag. So lässt sich nun überall auf der Welt der Meeresspiegel zentimetergenau bestimmen – damit wird endlich deutlich, wie stark der Pegel ansteigt. Die Daten erleichtern auch Landvermessungen auf der Erde – und beim Bau eines langen Tunnels lässt sich jetzt viel einfacher sicherstellen, dass die von beiden Enden aus gegrabenen Röhren auch wirklich genau zusammentreffen.

Um die Stärke der Schwerkraft präzise zu messen, schweben im Innern von GOCE sechs kleine Würfel aus einer kostbaren Platin-Legierung, erklärt Reiner Rummel, Professor am Institut für Astronomische Geodäsie der TU München:

"Da diese Testmassen im Satelliten etwas unterschiedliche Positionen einnehmen, so einen halben Meter Abstand etwa, werden sie durch die anziehenden Massen auf der Erde minimal unterschiedlich angezogen und diese Differenz machen wir uns zunutze."

Auf Isaac Newtons Spuren
Während GOCE um die Erde kreist, spüren die Testkörper vorne im Satelliten die Anziehungskraft etwas früher als die Körper weiter hinten. Der Effekt ist zwar aberwitzig klein, lässt sich aber dennoch messen. Das Wissenschaftler-Team hat gewissermaßen dem englischen Physiker Isaac Newton nachgeeifert. Der Legende nach war diesem einst die geniale Idee der Schwerkraft gekommen, als er einen Apfel vom Baum hat fallen sehen. Mehr als drei Jahrhunderte nach Newton sind die Schwerkraftforscher nicht viel weiter: Sie lassen immer noch fallen – allerdings sind ihre Äpfel die Hightech-Würfel von GOCE.

Reiner Rummel: "Jede Veränderung in der Massenverteilung unseres Erdsystems ist letztlich in der Schwerkraft messbar. Also Berge und Täler, Ozeane, Meeresspiegelveränderungen, Eiskappen, die abschmelzen – und sogar das fallende Laub, wenn man sehr, sehr genau misst."

Ob GOCE eine große Meeresströmung überflogen hat, bei der der Wasserstand etwas höher ist als in der Umgebung, ein Gebirge oder eine Großstadt mit hohen Gebäuden: Die Bewegung der Testkörper an Bord hat es verraten. Die vier Jahre andauernden Messungen haben den Forschern ein ganz neues Bild unserer Erde beschert, freut sich Mark Drinkwater von der Europäischen Weltraumorganisation ESA:

"Das Schwerefeld liefert uns viele Informationen über die großräumigen Meeresströmungen. Diese Daten sind extrem wichtig, um klimatische Veränderungen schneller zu erkennen und die Erde global zu vermessen. Zudem haben wir die Form der Erde auf ein bis zwei Zentimeter genau bestimmt und untersucht, was sich in der Erdkruste abspielt. Damit lassen sich die Prozesse besser verstehen, die zu Vulkanen und Erdbeben führen."

Unglaublich präzise Messungen
Der zu großen Teilen bei Astrium in Friedrichshafen am Bodensee gebaute Satellit musste höchste Qualitätskriterien erfüllen. GOCE wurde aus speziellen Kohlefasern gefertigt, die sich praktisch nicht ausdehnen oder zusammenziehen – egal ob sich der Satellit im heißen Sonnenlicht befindet oder im kalten Erdschatten. An Bord gibt es keine Motoren mit beweglichen Teilen. Denn jede Veränderung oder Erschütterung des Satelliten hätte die Messungen unmöglich gemacht, die eine schier unglaubliche Präzision erreicht haben.

Mark Drinkwater: "Stellen Sie sich eine Schneeflocke vor, die auf einen Supertanker fällt. Dann spürt der Supertanker den 'Einschlag' der Schneeflocke und fährt hinterher etwas langsamer weiter. Natürlich ist dieser Effekt winzig klein. Aber die Instrumente, die wir für GOCE gebaut haben, sind so empfindlich, dass sie das Auftreffen der Schneeflocke auf dem Tanker noch registrieren würden. Nur so war es möglich, ein wirklich umfassendes Bild des Schwerefeldes der Erde zu bekommen."

Bis Mitte Oktober hat GOCE die Erde in gut 230 Kilometern Höhe umkreist, nur etwa halb so hoch wie die Internationale Raumstation. Die niedrige Bahn war nötig, um die Schwerkraft stark genug zu spüren.

Doch nun besiegelt genau diese Schwerkraft das Schicksal der 350 Millionen Euro teuren Mission. Der Treibstoff ist verbraucht, die Triebwerke sind ausgefallen. Damit sinkt der Satellit immer tiefer in die Atmosphäre hinein – und der Absturz ist unvermeidbar. Die alte Regel, dass die Schwerkraft früher oder später alles herunter holt, gilt auch für GOCE.
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