Thomas Girst: "Alle Zeit der Welt"

Wer sich Zeit nimmt, kann viel entdecken

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Im Vordergrund ist das Cover des Buches "Alle Zeit der Welt" von Thomas Girst. Im Hintergrund ist das sogenannte Palais Ideal in Hauterives in der Provence, das der französische Briefbote Ferdinand Cheval Anfang des 19. Jahrhunderts rund 33 Jahre lang baute.
Der Briefbote Ferdinand Cheval baute über 33 Jahre lang das Palais Idéal in Hauterives in der Provence. © Hanser Verlag / Picture Alliance / dpa / Heinz-D. Linke
Von Günther Wessel · 12.06.2019
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Thomas Girst zeigt in seinem Buch "Alle Zeit der Welt", dass menschliches Handeln manchmal den langen Atem braucht. Und auch das Buch selbst ist nicht für schnelles Konsumieren gemacht, findet unserer Kritiker.
Thomas Girst ist ein Flaneur in Raum und Zeit – interessiert an der Langsamkeit, der Hingabe und dem mitunter zweckfreien, mitunter zielgerichteten Sichverlieren im eigenen Tun. Das erste Kapitel von "Alle Zeit der Welt" widmet er deshalb dem französischen Briefträger Ferdinand Cheval, der Steine und Muscheln sammelte, aus denen er in drei Jahrzehnten bis zu seinem Tod im Jahr 1924 einen riesigen Palast erbaute – eine Pilgerstätte für Surrealisten.
Girst schreibt über John Cages Orgelstück "Organ2/ASLSP", das in Halberstadt seit 2001 von einer automatischen Orgel aufgeführt wird und noch bis 2640 laufen wird – ein Musikstück für 640 Jahre. Besucher erleben nur einen wabernden Ton; alle sieben Jahre erfolgt ein Klangwechsel, der nächste im Jahr 2020.

Experiment mit Pechtropfen

Manche Fragen erfordern einfach einen langen Atem: Andrew Wiles bewies 1994 den Fermatschen Satz, nachdem sich 350 Jahre lang Mathematiker an ihm versucht hatten. Entscheidend war am Ende die Intuition.
Mitunter ist es aber auch reine Geduld: Der Physiker Thomas Parnell goss 1927 im australischen Brisbane heißes Pech in einen Trichter, versiegelte diesen, ließ das Pech drei Jahre abkühlen und fixierte den Trichter dann über einem Glasbehälter – er wollte zeigen, dass auch erkaltetes Pech flüssig bleibt.
Zwischen 1930 und 2014 fielen neun Pechtropfen ins Glas, seitdem es Klimaanlagen gibt, haben sich die Intervalle zwischen den einzelnen Tropfen von acht auf zwölf Jahre verlängert. Die Installation lässt sich per Livestream im Internet verfolgen: Weltweit haben 35.000 Menschen den Videostream abonniert.
Girst schreibt über Unendlichkeiten, über Zeitkapseln, in denen menschliches Wissen aufgezeichnet wurde, um es der Nachwelt zu überliefern, und über Verfallsdaten: Den Versuch beispielsweise, mehrere Millionen Samenproben in einem Bergmassiv auf Spitzbergen zu lagern, ein ähnlich schweres Unterfangen wie das, kommende Generationen vor den radioaktiven Abfällen zu warnen, die irgendwo gelagert werden müssen. Denn werden diese unsere Hinweise überhaupt noch lesen oder verstehen können?

Leicht lesbar, aber essayistisch-abschweifend

Girsts Buch ist keines, dass man schnell konsumieren sollte. Es ist zwar leicht lesbar, aber essayistisch-abschweifend. Man sollte sich Zeit für die Lektüre der 28 Kapitel nehmen. Nicht überall schürft Girst sehr tief. Dennoch ist der Band ein guter Begleiter für viele Tage. Wie Kalendergeschichten, die vielleicht neue Perspektiven ergeben – auf das Unvollendete, auf Beharrlichkeiten, auf die Lust, auch etwas zunächst Sinnfreies auszuprobieren.

Thomas Girst: "Alle Zeit der Welt"
Hanser Verlag, München 2019
204 Seiten, 17 Euro

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