Dienstag, 30. April 2024

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Hans Markowitsch über das Gedächtnis
Erinnerungen sind verschüttet, aber nicht verloren

Der Mensch lebt auch durch seine Erinnerungen. Vergessen gelte dagegen als Versagen, doch vergessen sei wichtig, um im Alltag zu überleben, sagte der Gedächtnisforscher Hans Markowitsch im Dlf. "Sonst könnten wir nicht mehr die Spreu vom Weizen trennen."

Hans Markowitsch im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 29.07.2018
    Computer Illustration eines menschlichen Gehirns.
    Menschliches Gehirn (imago / Roger Harris)
    Gedächtnislücken und Vergesslichkeit empfinden wir in der Regel als unangenehm, denn so Hans Markowitsch: "Wir leben durch unsere Erinnerungen und alles was wir vergessen, ist für uns selber auch problematisch." Aber vom wissenschaftlichen Standpunkt sei das Vergessen notwendig. Denn wenn wir uns an alles erinnern würden, käme es schnell zu einer Reizüberflutung und "wir könnten nicht mehr die Spreu vom Weizen trennen".
    Vergessen heißt nicht, dass die Erinnerung verloren ist
    Vergessen heiße aber nicht zwangsläufig, dass die Erinnerung verloren sei. Es gebe viele Beispiele, wo sich vor allem alte Menschen an Gedichte erinnerten, die sie in der Jugend gelernt und an die sie lange nicht gedacht hätten, die sie im Alter aber wieder fehlerfrei aufsagen könnten.
    "Wir verdrängen oder unterdrücken sehr viel über die Lebensjahre. Verdrängen heißt aber nicht, dass es verloren ist, sondern nur, dass es aktuell nicht abrufbar ist", so der Gedächtnisforscher.
    Vergessen und Wiedererinnern sei aber auch ein biologisches Phänomen, erklärt Prof. Hans Markowitsch. Über die Lebenszeit verliere der Mensch immer mehr Nervenzellen und was noch wichtiger sei: Nervenzellverbindungen. Und es sei bekannt, dass das Gehirn grundsätzlich mehr mit Hemmungen arbeite, als mit Erregung. "Und wenn jetzt Nervenbindungen verloren gehen, dann sinkt die Bremse, dann wird nicht mehr so viel gehemmt und Dinge kommen dann wieder ans Tageslicht, die vorher vom Gehirn aktiv unterdrückt worden waren."
    Dass man sich unter Stress nicht an Namen erinnern kann ist ganz normal
    Dass man sich unter Stress zum Beispiel nicht an bestimmte Namen erinnern könne, sei dagegen hormonell bedingt: "Hier spielen die Stresshormone eine entscheidende Rolle, die im Gehirn dann die Regionen blockieren, die Faktenwissen mit der emotionalen Wertigkeit zu verbinden trachten."
    Sobald man wieder entspannt sei, sei aber auch der gesuchte Name wieder verfügbar.
    Um sein Gehirn fit zu halten, empfiehlt der Gedächtnisforscher weniger das sogenannte Gehirnjogging, sondern vielmehr körperliche Aktivität, denn so werde auch das Gehirn stimuliert und die Durchblutung gefördert. Markowitsch rät also eher zum Spaziergang als zum Kreuzworträtsel.