Die Ursprünge der jüdischen Festgebräuche

Von Thomas Kroll · 19.01.2008
In den kommenden Jahren publiziert der Verlag der Weltreligionen grundlegende Schriften der Religionen der Welt. Was die zentralen religiösen Texte des Judentums anbelangt, ist zum Beispiel eine fünfteilige neue und kommentierte Übersetzung der hebräischen Bibel in Vorbereitung. Ebenfalls geplant ist eine vollständige Edition der Mischna. Der zweite Band der Edition liegt nun vor.
An vielen Stellen des Neuen Testaments wird erzählt, wie Pharisäer den Wanderprediger Jesus aus Nazareth in Lehrgespräche verstricken. Die Debatten umkreisen Fragen wie: Was ist rein, was unrein? Und unter welchen Umständen darf man die Vorschriften für den Sabbat brechen?

Grundlage für derlei Diskussionen unter Juden sind die fünf Bücher Mose, Tora genannt. Die schriftliche Tora enthält neben den Zehn Geboten viele weitere Weisungen Gottes für ein gelingendes Leben. Dieselbe Autorität kommt der mündlichen Tora zu, die nach orthodox-rabbinischem Verständnis Moses ebenfalls am Berg Sinai von Gott geoffenbart wurde. Die wird Mischna genannt, zu deutsch: Wiederholung der Lehre. So nennt man die erste redaktionell geordnete Zusammenfassung der mündlichen Lehre. Dieser Prozess beginnt im Jahre 70 unserer Zeitrechnung nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem.

Michael Krupp, protestantischer Theologe sowie Judaist, bringt es im Begleitkommentar zum neuen Mischna-Band auf den Punkt:

"Erst die mündliche Tora macht die schriftliche Tora verständlich und ermöglicht ein Leben in der Tora. Es gibt keine schriftliche Tora ohne die mündliche. Sie sind eine Einheit."

Wie Jahrhunderte zuvor wird auch zur Zeit Jesu die mündliche Tora in den Lehrhäusern zunächst auswendig gelernt und danach diskutiert. So wächst von Generation zu Generation der Lehrstoff, der nicht aufgeschrieben wird. Politische und religiöse Katastrophen im ersten und zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung machen es dann jedoch erforderlich, die mündlichen Traditionen zu sammeln und schließlich schriftlich zu fixieren.

Rabbi Rothschild, der Landesrabbiner von Schleswig Holstein, sieht es so:

"Ich gehe davon aus: Viele Leute haben einfach in ihrem Gedächtnis alles gesammelt, dass sie noch erinnern konnten von ihrer eigenen Lehre – das ist schon dreißig, vierzig, fünfzig Jahre her –, und irgendwann sagt jemand: Das müssen wir schnell aufschreiben, weil sonst geht’s alles verloren."

Das Sammeln, Notieren und Ordnen dauert gut hundert Jahre und kommt im Jahr 200 unserer Zeitrechnung zum Ende. Auf dem Fundament dieser schriftlichen Zusammenfassung, der Mischna entsteht das Haus des rabbinischen Judentums, das später etwa mit dem Talmud weiter in die Höhe wächst.

"Es ist kein Roman mit Anfang, Mitte und Ende. Es gibt keinen Plot und Charakters, die sich entwickeln. ... Man sucht, was man braucht.
Was ist die Sache mit bestimmten Feiertagen wie Pessach und Jom Kippur? ... Was ist die Frage von 'rein' und 'unrein', wenn es geht um einen Leichnam den man beisetzen muss?"

Die Mischna ist ein Nachschlagewerk mit insgesamt sieben Teilen: Dem Traktat "Segenssprüche" zu Beginn folgen sechs Ordnungen übertitelt mit "Saaten", "Festkalender", "Frauen", "Schäden", "heilige Dinge" und "reine Dinge". Es geht ebenso um Alltägliches wie um Feierliches.

Von letzterem handelt der vorgelegte Mischna-Band Mo’ed. Dort werden insbesondere die jüdischen Festgebräuche geschildert, "wie sie zur Zeit des [zweiten] Tempels existierten sowie für die Zeit nach der Tempelzerstörung, wie sie bis heute noch befolgt werden."

In der Tora heißt es:

"Im siebten Monat, am zehnten Tag des Monats, sollst du das Signalhorn ertönen lassen ... Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig ... Es gelte euch als Jubeljahr."

"Also hier ist die Frage: Ist das wie ein normales Neujahr oder ein Extra-Neujahr? Es ist eigentlich beide zusammen. Soll man dann zweimal so viel blasen oder lauter blasen? ... Und die Antwort ist: Schau in die Mischna, dort hat sie die gleiche Frage."

"Das Jovel (das Jubeljahr) und das Neujahr sind gleich im Blasen und in den Segenssprüchen."

Wo viele Fragen, da viele Antworten. Nicht nur von daher erklärt sich der große Umfang der neuen Mischna-Edition. Fast 250 Seiten mit Quellentexten folgen nahezu 250 Seiten Einführung und Kommentar.

Die von Michael Krupp herausgegebene neu übersetzte Ausgabe basiert auf dem so genannten Codex Kaufmann, der ältesten Mischna-Handschrift. Sie bietet eine verlässlichere Grundlage als bisherige Druckausgaben und weist neben der palästinischen Version auch die babylonischen Varianten der Mischna aus.

Wer meint, deren Studium führe nur in eine jüdische Sonderwelt, übersieht die grundlegenden religiösen und existentiellen Fragen, denen sich Rabbiner seit jeher stellen. Die Mischna ist zweifellos "Spiegel einer reichen Kultur", ferner eine unverzichtbare Hilfe zum besseren Verständnis des Neuen Testaments. Denn das ist laut Michael Krupp – "in seinen Hauptbestandteilen ein jüdisches Buch."

Michael Krupp: Mischna. Festzeiten - Seder Mo‘ed
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main