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IS-Terror
"Eine Misskalkulation der türkischen Regierung"

Die syrische Politik werde als eine der größten Misskalkulationen der türkischen Außenpolitik gesehen, sagte der Politologe Hüseyin Bagci von der Universität Ankara im DLF. Die Türkei werde von der Entwicklung in Kobane getroffen und Unruhe und Instabilität bedrohten das Land. "Die Türkei befindet sich, wenn man so will, vor einem Bürgerkrieg."

Hüseyin Bagci im Gespräch mit Silvia Engels | 08.10.2014
    Demonstranten in Istanbul auf der Flucht vor Wasserwerfern der Polizei.
    Demonstranten in Istanbul auf der Flucht vor Wasserwerfern der Polizei. (picture alliance / dpa / Erdem, Sahin)
    Silvia Engels: In der syrisch-türkischen Grenzstadt Kobane wird weiter gekämpft. Kurdische Kämpfer wurden in den vergangenen Wochen von türkischen Grenztruppen ja mehrfach daran gehindert, aus der Türkei über die Grenze nach Syrien zu wechseln, um bei der Verteidigung der Stadt zu helfen. Türkische Truppen stehen zudem an der Grenze, greifen aber nicht ein. In Deutschland gehen mittlerweile Kurden auf die Straße, um die internationale Untätigkeit anzuprangern. In der Türkei selbst haben ähnliche Proteste zu schweren Ausschreitungen geführt.
    Der Name Kobane, er drohte in den letzten Tagen zum Symbol für Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen die Terrormilizen des IS zu werden. Nun hat sich offenbar etwas getan. US-Luftangriffe auf IS-Stellungen in der Nacht in der Nähe der Stadt sind offenbar nicht ohne Wirkung geblieben. Am Telefon ist nun Professor Hüseyin Bagci. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Ankara. Guten Tag, Herr Bagci.
    Hüseyin Bagci: Guten Tag!
    Engels: Wir haben gerade die Vorwürfe noch mal gehört. Ist die Türkei durch indirekt zugelassene Waffenlieferungen mitverantwortlich dafür, dass nun Kobane in die Hand der IS fallen könnte?
    Bagci: Das sind natürlich Akquisitionen, die man von der Regierung aus abgelehnt hat. Der Staatspräsident sagte, dass die Türkei nicht mit Absicht irgendwie Waffen auf die andere Seite geliefert hat, dass die Leute in die Türkei gekommen sind als Touristen und dann nach Syrien weitergegangen sind. Es ist natürlich ein großes Problem für die Türkei jetzt im internationalen Bereich, dass die Türkei als ein Land angesehen wird, das den Terroristen Zugang verschafft hat, dass sie hingegangen sind und natürlich auch an diesen Ereignissen teilgenommen haben. Von der türkischen Seite, sowohl der Präsident als auch der Ministerpräsident haben das abgelehnt, und heute treffen sich die wichtigsten Kabinettsmitglieder mit dem Generalstabschef und werden mögliche militärische Maßnahmen besprechen, wie es überhaupt weiter an der Grenze der Türkei geht.
    "Davutoğlu wird dafür verantwortlich gemacht"
    Engels: Herr Bagci, Sie kennen ja die türkischen politischen Strukturen sehr gut. Es ist ja auch bekannt, dass der türkische Geheimdienst und auch das Militär in der Regel recht gut informiert ist. Ist es da vorstellbar, dass man jahrelang nicht mitbekommen hat, wie stark die IS auch im eigenen Land geworden ist?
    Bagci: Ja, das ist eine von den Misskalkulationen der türkischen Regierung. Überhaupt: die syrische Politik wird als eine der größten Misskalkulationen der türkischen Außenpolitik gesehen. Besonders der Ministerpräsident, der ja davor Außenminister war, wird dafür unter anderem verantwortlich gemacht, dass es zu dieser Lage gekommen ist. Aber auf der anderen Seite: Der Ministerpräsident Davutoğlu hat gestern schon gesagt, dass die Türkei gerne helfen würde, falls die NATO auch dafür stimmt, dass das Assad-Regime abgeschafft wird. Das ist natürlich eine Voraussetzung, die man zurzeit nicht erfüllen kann. Aber auf der anderen Seite trägt die Türkei auch einen Teil dieser Verantwortung selbst. Das ist allgemeine Denkweise auch in der Türkei, sowohl von den politischen Parteien als auch von vielen Intellektuellen, dass die Türkei direkt und indirekt an diesen Entwicklungen beteiligt ist.
    Ich weiß aber nicht, wie es weitergeht. Die Türkei hat über 200.000 Kurden bereits aufgenommen. Die Türkei hat an der Grenze alle militärischen Maßnahmen ergriffen und wartet jederzeit auf eine Entwicklung, dass vielleicht die NATO und die Vereinten Nationen entscheiden, dass die Türkei auf der anderen Seite der Grenze mithilft. Aber dafür muss natürlich eine Entscheidung sein, und wenn die Türkei das alleine macht, dann muss das als eine Intervention betrachtet werden, und das ist natürlich, was die türkische Regierung zurzeit nicht gerne sieht. Die Türkei möchte dort nicht allein intervenieren und die Entscheidung von heute werden wir sehen. Aber Sie haben natürlich recht, dass die Türkei sehr viel beschuldigt worden ist, auch massive Fehler gemacht zu haben. Wir verfolgen natürlich die Informationen von der Presse und von den Aussagen von den Politikern. Aber die Tatsache bleibt natürlich, dass Tausende von Militanten über die Türkei gegangen sind. Das weiß jeder in der Türkei. Aber nicht bewaffnet natürlich. Sie sind auf die andere Seite gegangen und dann kamen die Waffen. In Ihrem Bericht hat jemand gesagt, dass die Türkei Waffen geliefert hat. Das wird noch herauszustellen sein. Aber die türkische Regierung lehnt das vehement ab.
    "ISIS hat in der Türkei auch starke Unterstützung"
    Engels: Die Beobachter, die auch über diesen Fall berichten, vermuten zum Teil, auch Ankara schrecke womöglich vor direkten Angriffen auf IS-Kämpfer zurück, um nicht Anschläge von Radikalislamisten in der Türkei selbst zu provozieren. Ist da etwas dran?
    Bagci: In der Tat ist da etwas dran. Sie wissen, dass ISIS in der Türkei auch starke Unterstützung hat, besonders von den jüngeren Leuten. Auch an den Universitäten haben wir jetzt gewisse Ereignisse. Die Türkei befindet sich, wenn man so will, vor einem Bürgerkrieg. Ich gehe davon aus, dass in den kommenden Tagen die Türkei noch größere Probleme erleben wird. Seit gestern haben wir in sechs Städten Ausnahmezustand, auch etwa in Istanbul, und es gibt sehr viele Schlägereien. Auch höchst wahrscheinlich die Polizei und das Militär würde intervenieren, wenn die Situation sich weiter fortsetzt. Das heißt, die Türkei wird von dieser Entwicklung in Kobane wie von einem Dolch in der Seele getroffen und Unruhe und Instabilität bedrohen das Land. Das könnte man so sehen.
    Engels: Wir würden gerne mit Ihnen noch ausführlicher sprechen über den NATO-Staat Türkei, auch über die Problematik rund um die Kurden, aber wir haben leider doch zu große Probleme mit der Telefonqualität. Deswegen müssen wir an dieser Stelle leider einen Punkt setzen. Vielleicht in einigen Tagen wieder. - Das war ein Gespräch mit Hüseyin Bagci. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Ankara. Vielen Dank für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.