Literaturwissenschaftler Guy Stern

Brückenbauer zwischen den USA und Deutschland

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Guy Stern gründete in den USA einen neuen Studiengang: deutsche Exilliteratur © picture alliance / dpa / Andreas Weihmayr
Von Claudia Ehlert · 08.05.2015
Als einer der berühmten "Ritchie-Boys" hat Guy Stern für den US-Geheimdienst deutsche Kriegsgefangene verhört. Heute ist er Literaturwissenschaftler und gilt als einer der besten Kenner der deutschen Literatur der Aufklärungszeit und der Exilliteratur.
Guy Stern: "Wer rauskam, war gerettet, wer zurückblieb – mit größter Wahrscheinlichkeit wäre er in einem Todeslager umgekommen."
Günther Stern wächst in Hildesheim auf. Über eine Hilfsorganisation gelingt es ihm, ein Visum zu bekommen und Deutschland rechtzeitig zu verlassen. Ein Onkel in St. Louis, Bäcker und Konditor, erklärt sich bereit, ihn aufzunehmen. Noch in Deutschland unterrichtet ihn ein Privatlehrer in Englisch – und nebenbei in Sachen Alltagskultur.
Guy Stern: "Als ich einer Dame zugeordnet wurde, die mir während eines Zugaufenthaltes in Chicago die Stadt zeigte, hatte ich solche Kenntnisse über Baseball – da war sie so erstaunt, dass ihr die Brille vom Kopf fiel. Die Dame empfing mich an der riesigen Eisenbahnstation. Sie nahm mich in eine jüdische Nachbarschaft, auf eine Art Flohmarkt."
Ein jüdisch-orthodoxes Viertel. Für den Jungen aus Deutschland ein ungewohntes Straßenbild.
Neuanfang in den USA
Guy Stern: "Chicago, Maxwell Street, war eine berühmte jüdische Nachbarschaft und für mich war dieser kurze Aufenthalt bedeutete für mich eine Art Loslösung von den Fesseln, die wir bis dahin alle trugen."
Fünf Tage später, angekommen in St. Louis, beginnt sein amerikanischer Alltag. Der Direktor der High School schult ihn persönlich ein.
Guy Stern: "Ich erklärte ihm, ich würde mich für die Schulzeitung interessieren und vielleicht in der Schwimmmannschaft, und er besorgte das alles selbst und das war ein großer Augenblick und die Gastfreundschaft und die Spontanität Amerikas traten sofort an diesem ersten Schultag in Erscheinung."
Eine offene Gesellschaft. Nach seinem Schulabschluss, 1939, beginnt Günther, der sich inzwischen "Guy" Stern nennt, ein Studium. Er finanziert es mit einem Job im Hotel gegenüber der Universität als Kellner:
"Und so raste ich zwischen Hotel und Uni hin und her, manchmal musste ich sogar in Uniform und mit schwarzem Binder in die Uni rasen, weil so die Klasse noch zu erreichen war."
Deutschland von der Naziplage befreien
Zwei Jahre später, 1941. Ein Aushang an der Uni: die Kriegsmarine sucht Freiwillige mit Sprach- und Kulturkenntnissen in Deutsch oder Italienisch. Guy Stern meldet sich für den Kriegseinsatz, wird abgelehnt, weil er nicht in den USA geboren ist. Sechs Monate später – zwangseingezogen – wird seine deutsche Herkunft entscheidend.
Guy Stern: "Die Geschichte ist die, dass wir an ein Spezialausbildungslager gesandt wurden und als Befrager deutscher Kriegsgefangener, als Verbreiter von Flugblättern, die wir zu komponieren hatten, und als Aufklärer in anderen Funktionen aufzutreten."
Guy Stern lernt psychologische Kriegsführung – im Camp Ritchie in Maryland:
"Mit einer Strenge und Wissensüberladen, das sogar meine akademische Ausbildung übertraf."
Wer ist was bei der deutschen Armee? Nach acht Wochen die Prüfung:
Guy Stern: "Wir bekamen ein Brett mit 50 Nummern und das korrespondierte mit 50 deutschen Ausrüstungsgegenständen, die auf einer Wiese lagen und musste sagen: das ist die Auszeichnung für die Schlacht bei Kiew oder der ist bei der Waffen-SS. Wir machten uns auch lustig und die verschiedenen Spezialausbildungen, es gab einen Brieftaubenhufbeschlagmeister, und lachten uns kaputt, aber wir nahmen die Sache todernst."
Guy Stern landet in der Normandie drei Tage nach den ersten Truppen dort. Die größte Gefahr, in deutsche Kriegsgefangenschaft zu geraten. Angst – Mittel im Krieg. Es beginnt auch für Guy Stern ein Spiel mit ihr:
"Was den Deutschen als schlimmste Möglichkeit vorschwebte, war, dass sie in russische Gefangenschaft gerieten."
Dieses Wissen wird zur Waffe.
Guy Stern: "Ein Freund von mir spielte den wirklich humanen amerikanischen Soldaten und ich zog mir eine russische Phantasieuniform an und ich spielte die Rolle eines russischen Kommissars. In vielen Fällen wirkte es, und die Luftwaffe war hochzufrieden mit uns."
Liebe zur deutschen Kultur und Literatur bleibt bestehen
Das Team der Ritchie Boys: Guy Stern und Fred Howard, sie bleiben Freunde. Die russische Uniform ein Erinnerungsstück – nach dem Krieg kehrt Guy Stern an die Universität zurück. Er fällt den Kollegen auf – weil er so vertraut ist mit der deutschen Literatur.
Guy Stern: "Und dann kam die Gegenseite, Verwandte, Freunde: Wie kannst Du? Du hast so schwere Verluste während des Holocaust erlitten. Du kannst doch jetzt nicht Germanistik in die Welt setzen."
Und dennoch: Stern kennt und liebt die deutsche Kultur zu sehr.
Guy Stern: "Wenn Du wirklich dieses Talent besitzt, wäre es eine Art Selbstverstümmelung, wenn Du es unterdrückst, wenn du dem nicht folgst, tust du den Nazis den letzten Gefallen."
Er stellt sein Deutschland vor, etabliert einen für seine amerikanischen Studenten neuen Studiengang: deutsche Exilliteratur.
Guy Stern: "Es gab einige, in denen ich mich selbst wiederfand, in den Figuren, die die Exilschriftsteller schufen. Ein zweiter Antrieb war ein gewisser Gerechtigkeitssinn: die hatten es sehr schwer, besonders die jüngeren, die noch keinen Namen hatten, sich durchzusetzen, und ich war der Meinung, dass hier wertvolle Literatur drohte, verloren zu gehen und ich vielleicht helfen konnte, diese Werke durchzusetzen."
Stern versteht sich als Brückenbauer zwischen der amerikanischen und der deutschen Kultur, nimmt Gastprofessuren in Deutschland an, so in Leipzig:
Guy Stern: "Das war eine hochinteressante Phase, denn die Gegensätze, die nach der Wende in Deutschland zeigten, eine gewisse Distanz zwischen Ossis und Wessis war auch in meiner Abteilung zu spüren."
Stereotypen zu überwinden, das mussten die Deutschen nach der Wende neu lernen. Diese Lernbereitschaft wünscht Guy Stern sich auch für das deutsch-jüdische Verhältnis:
Ich glaube, man ist auf dem Weg, dass diese Unbefangenheit sich langsam wieder herausstellt, und das Ziel ist und das perfekte Ambiente eine Rückkehr zu dieser Unbefangenheit.
Sein eigenes Leitbild findet Guy Stern in der deutschen Literaturgeschichte:
"Wenn ich mich selbst zu erkennen gebe, so hätte ich gerne im Zeitalter der Aufklärung gelebt, dieser Appell an das menschliche Gehirn und logisches Denken, das zeichnete die Aufklärung aus und einen schärferen Denker als Lessing, einen überzeugten Humanisten wie Lessing kann man sich kaum vorstellen."
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