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"Der Staat bei sich, die Kirche für sich"

Im katholischen Frankreich wurde vor exakt einem Jahrhundert ein entscheidendes Gesetz verabschiedet: Es trennte seitdem Staat und Kirche. Damit setzte die Dritte Republik einen Schlussstrich unter den Machtkampf zwischen Monarchisten und Republikanern, der das 19. Jahrhundert beherrscht hatte. In diesem Disput ging es interessanterweise immer auch um Schulpolitik.

Von Ruth Jung | 09.12.2005
    "Die Gesellschaft wird bedroht von Verschwörern aus den untersten Schichten, von abstoßenden Aufwieglern niederer Gesinnung. Wer aber verteidigt Ordnung und Besitz auf dem Land? Etwa der Dorfschullehrer? Nein, der Pfarrer. In der heutigen Zeit vertreten die Pfarrer die Ordnung, auch im Interesse derer, die nicht gläubig sind. Sie stehen für die moralische, die politische und die materielle Ordnung. Zwei Armeen stehen sich in Frankreich gegenüber: die Armee der Lehrer und die Armee der Pfarrer. Und es gilt, der demoralisierenden und anarchistischen Armee der Lehrer die Armee des Klerus entgegenzusetzen."

    Das forderte 1850 Graf Montalembert, das Haupt der katholischen Partei zur Zeit der Zweiten Republik. Erbittert stritt die royalistische Fraktion mit den Republikanern über ein Schulgesetz aus dem Revolutionsjahr 1848. Im katholischen Frankreich war das Unterrichtswesen traditionell Aufgabe der Kirche. Aber weil sich die Kirche stets mit den Herrschenden gegen das Volk verbündet hatte, wollten fortschrittliche Republikaner den Unterricht nicht in die Hände von Priester und Nonnen legen. Mit jeder Revolution im 19. Jahrhundert verteidigte das Bürgertum seine politischen Rechte. Hatte doch die Entmachtung von Klerus und Adel, die Zerschlagung der unheiligen Allianz von Thron und Altar 1792 zur Ersten Republik geführt. Daher ist die Geschichte des Laizismus auch die Geschichte der Republik Frankreich. Und eine Republik braucht keine Untertanen, wandte sich der Dichter Victor Hugo gegen den Klerus:

    "Ich kenne Euch, ich sehe auf den Grund Eurer Gedanken. Zu gern möchtet Ihr die Bibliotheken beseitigen, die Schulen auflösen und aus dem Unterricht die Freidenker aller Jahrhunderte verbannen, all diese Philosophen, Schriftsteller und Poeten, die dem menschlichen Esprit verpflichtet sind und nicht einem devoten Geist der Unterordnung!"

    In seiner berühmten "Rede für die Unterrichtsfreiheit" verteidigte Victor Hugo als Abgeordneter der Nationalversammlung 1850 "das Erbe der Väter" und die Revolution von 1789 gegen die Position der katholischen Fraktion des Grafen Montalembert.

    "Der Staat bei sich, die Kirche für sich."
    Das forderte der gläubige Katholik Hugo in seiner von Tumulten begleiteten Rede. Er plädierte für einen kostenlosen Grundschulunterricht für alle und kritisierte eine Kirche, die ihre Vorrangstellung stets dazu benutzt hatte, die vermeintlich "gottgewollte Ordnung" zu verteidigen. Eine Ordnung der Klassenhierarchie und sozialen Ausgrenzung. Die erste Regierung, die mit der Trennung von Staat und Kirche ernst gemacht hat, war die Pariser Commune von 1871. Aber erst die Dritte Republik konnte den Laizismus dauerhaft in der Verfassung verankern.

    "Die Republik garantiert die Gewissensfreiheit. Sie garantiert die freie Ausübung der religiösen Kulte unter der einzigen Bedingung, dass dies unter Wahrung der öffentlichen Ordnung geschieht."

    So heißt es in Artikel Eins des Gesetzes vom 9. Dezember 1905. Eine "chwierige Scheidung", schrieb die Presse; für die Kirche war es eine sehr folgenreiche. Denn mit dem neuen Gesetz war sie dem privaten Vereinsrecht unterworfen und ihres öffentlich-rechtlichen Charakters entkleidet. So verbietet Artikel Zwei Gehaltszahlungen und Zuschüsse des Staates an den Klerus. Im katholischen Frankreich eine kleine Revolution, meinte der Historiker Jean Jaurès; er nannte das Gesetz

    "Die größte Reform, die seit der Französischen Revolution je in unserem Land in Angriff genommen worden ist."

    Dafür eingesetzt hatte sich vor allem der sozialistische Politiker und spätere Friedensnobelpreisträger Aristide Briand. Als Vorsitzender der beratenden Kommission begründete er argumentativ und rhetorisch geschickt den Entwurf vor dem Parlament. Das "Gesetz Briand" hieß es daher in der Öffentlichkeit. Briand wollte zur Beruhigung der Fronten beitragen und die Kirche in ihre Schranken verweisen, ohne die Bedeutung der Religion in Frage zu stellen.

    "Der laizistische Staat ist nicht ist antireligiös, er ist areligiös."

    Das betonte Briand. Vorausgegangen war dem Gesetzesprojekt die Dreyfus-Affäre. Diese Verleumdungskampagne gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus hatte die Dritte Republik in ihren Grundfesten erschüttert und die entscheidende Debatte über die Grundprinzipien der Republik ausgelöst. Damals stellte sich die Kirche auf die Seite der republikfeindlichen, antiparlamentarischen Kräfte. Noch einmal hebelte eine Regierung das Gesetz von 1905 aus: das Vichy-Regime unter Marschall Pétain 1941.