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Buch "Auschwitz-TV"
Ikonografie und Mythenbildung zum Holocaust

In dem Buch "Auschwitz-TV" beschreibt der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger die Darstellung des Holocausts in Fernsehserien. Und er stellt darin fest, dass historische Bilddokumente durch populäre Ikonografie überschrieben werden.

Von Ralph Gerstenberg | 27.01.2015
    Auschwitz-Birkenau
    Auschwitz-Birkenau (picture-alliance/ dpa)
    Die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" war ein echter Straßenfeger. 100 Millionen Zuschauer verfolgten 1978 in den USA die vier Folgen über das Schicksal der jüdischen Arztfamilie Weiß im nationalsozialistischen Deutschland. 16 Millionen Zuschauer waren es ein Jahr später in der Bundesrepublik. Der im deutschsprachigen Raum bislang eher ungebräuchliche und durchaus nicht unproblematische Begriff des Holocaust als Synonym für den Massenmord an sechs Millionen Juden wurde hierzulande zum Wort des Jahres 1979. Noch nie zuvor war das Grauen der nationalsozialistischen Massenvernichtungsmaschinerie mit melodramatischen Mitteln in einer fiktionalen Geschichte so schonungslos dargestellt worden. Inszenierte Bilder der unvorstellbaren Verbrechen waren in deutschen Wohnzimmern angekommen und prägen seither das historische Bewusstsein der Nachgeborenen. Der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger sieht darin einen mediengeschichtlichen Einschnitt, der die gesellschaftliche Rolle des Fernsehens veränderte. In seinem Buch "Auschwitz-TV" schreibt er:
    "Holocaust hinterließ in Deutschland vor allem in der Generation der Töchter und Söhne der Täter einen nachhaltigen, fast könnte man sagen, ersten tiefen Eindruck. Dass dieser Eindruck jedoch auf die Ausstrahlung einer fiktionalen Miniserie zurückging, die den bis dahin üblichen Duktus distanzierter Sachlichkeit schlichtweg mit Absicht unterlief, muss als ein wichtiger Hinweis auf den tief greifenden Wandel im gesellschaftlichen und medialen Umgang mit der Geschichte des Völkermords des Dritten Reiches verstanden werden. Von nun an hatte die unter den Nationalsozialisten verübte Massenvernichtung einen Namen, den jeder kannte. Zugleich wurde der Ausdruck des nüchternen Dokumentierens um das wirksame Inszenieren von Bildern in publikumswirksamen Spannungsdramaturgien erweitert."
    Stilprägende Bilderwelt der Holocaust-Serie
    Für die stilprägende Bilderwelt der Holocaust-Serie gab es filmische Vorgänger, die Stiglegger in einer "kurzen Geschichte der Darstellung des Holocaust in Kino- und Fernsehfilm" und in einem ausführlicheren Überblick über wichtige Miniserien zu diesem Thema zusammenfasst. Der Dokumentarfilm "Nacht und Nebel" von Alain Resnais etwa zeigte von Alliierten gedrehte Bilder der Lagerbefreiung mit massenhaft zurückgelassenen Leichenbergen. In der deutschen Fernsehserie "Am grünen Strand der Spree" von 1960 sieht man Bilder von Deportationen und Massakersequenzen. So entwickelte sich eine "audiovisuelle Holocaust-Ikonografie", die Marvin J. Chomsky, der Regisseur der Fernsehserie "Holocaust", aufgreift und weitertreibt.
    Die Kraft dieser Bildinszenierungen wirkt bis heute. Ihr ikonischer Charakter überlagert die historischen Ereignisse, mehr noch: Die Simulation dieser Ereignisse wird im kollektiven Gedächtnis mit den Ereignissen gleichgesetzt. Marcus Stiglegger verweist diesbezüglich auf den französischen Poststrukturalisten Jean Baudrillard, der in seinem Hauptwerk "Der symbolische Tausch und der Tod" von 1976 eine Simulationstheorie entwarf. Baudrillard spricht darin von Simulakren, Trugbildern, die in den seriellen Produktionen der Mediengesellschaft an die Stelle der Realität treten. Er konstatiert eine "Agonie des Realen und Rationalen" in einem "Zeitalter der Simulation". In seinem Buch "Auschwitz-TV" untersucht Marcus Stiglegger nun mit Baudrillards Simulationstheorie die Reinszenierungen des Holocaust im Fernsehformat und kommt zu dem Fazit:
    "Nicht nur überschreiten Serien wie Holocaust das mit dem Lagergeschehen verbundene Abbildungstabu, sie überschreiten es gar doppelt, indem sie die dokumentarischen Bilder neu beschwören und in einem serialisierten Medienbild den Spätgeborenen zur Verfügung stellen. Obwohl der gegenwärtige Holocaust-Diskurs ohne diese medialen Simulakren heute kaum denkbar wäre, ist ein geschärftes Bewusstsein für deren Simulationscharakter unabdingbar. In seiner Schlussfolgerung geht Baudrillard noch weiter und sieht in der Herstellung solcher Trugbilder des Vergangenen eine Tendenz der Enthistorisierung, die aus Geschichte Mythos werden lasse."
    Blick bis ins Jahr 2013
    Mit Blick für Mythenbildung und Ikonografie betrachtet Marcus Stiglegger die Holocaust-TV-Serienproduktion bis ins Jahr 2013, in dem der viel diskutierte Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" im Fernsehen lief. Auch stilprägende Filmproduktionen wie Spielbergs "Schindlers Liste" und Schlöndorffs "Der neunte Tag" bezieht Stiglegger in seine Betrachtungen mit ein. Der industrielle Völkermord der Nationalsozialisten werde in deutschen Fernsehproduktionen bis heute weniger explizit dargestellt als in der amerikanischen Serie "Holocaust", resümiert Stiglegger am Ende seiner Analyse.
    Dafür habe sich die Familienepik als Erzählform eindeutig etabliert. Am Ende der Serien stehe meist ein Treffen der Überlebenden, wodurch ein offener Schluss, wie er für populäre Fernsehserien mit mehreren Staffeln typisch sei, unmöglich werde. So erkläre sich auch die starke Präsenz von Miniserien zu dieser Thematik.
    Das Buch "Auschwitz-TV" von Marcus Stiglegger, das mit seinen gut 100 Seiten eher Broschürencharakter besitzt, ist eine medientheoretische, jedoch um Allgemeinverständlichkeit bemühte aufschlussreiche Untersuchung der Fernsehserienproduktionen über den Holocaust.
    Interessanterweise wird die melodramatisierte Inszenierung des Holocaust längst von Dokumentarfilmreihen übernommen, etwa in den zahlreichen ZDF-Dokuserien von Guido Knopp. Dort, so Stiglegger, werde das fortgesetzt, was mit der Inszenierung und Fiktionalisierung des unvorstellbaren Grauens seinen Anfang nahm: "die Überschreibung historischer Bilddokumente durch populäre Ikonografie."
    Buchinfos:
    Marcus Stiglegger "Auschwitz-TV. Reflexionen des Holocaust in Fernsehserien", Springer VS, 112 Seiten, Preis: 29,99 Euro