Stolpersteine-App in Berlin

Grundschüler recherchieren zu NS-Opfern

07:12 Minuten
Die Hand des Künstlers Gunter Demnig poliert einen Stolperstein, während einer Verlegung am 19. Mai 2022 in Potsdam.
Stolpersteine erinnern in Bürgersteigen an vom NS-Regime verfolgte und oftmals ermordete Menschen. Die meisten hat der Künstler Gunter Demnig verlegt, der das Projekt ins Leben rief. © imago / Martin Müller
Von Malte Hennig · 28.06.2022
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Stolpersteine sind kleine Messing-Gedenktafeln, die an NS-Opfer erinnern. Außer dem Namen und wenigen Eckdaten erfährt man nicht, wer diese Menschen waren. Berliner Grundschüler haben sich auf die Suche gemacht. Ihre Funde sind nun in einer App.
Nicola Andersson steht mit ihrem Smartphone vor drei Steinen aus Messing, schon leicht dunkel angelaufen, die im Boden vor der Grundschule am Teutoburger Platz in Berlin liegen. Darauf steht: „Hier wohnte Josef Zeisler, Jahrgang 1895, Flucht 1938, Ermordet 15.2.1942, Auschwitz“. Auf dem daneben: „Hier wohnte Jetti Zeisler, Jahrgang 1894, Flucht 1938, Ermordet 11.6.1942 Tarnow“. Und: „Hier wohnte Daniel Zeisler, Jahrgang 1933, Flucht 1938, Ermordet 11.6.1942 Tarnow“. Andersson bückt sich und scannt die Stolpersteine mit der App „Steine stolpern“, die sie entwickelt hat.
Damit kann man mehr über die Menschen erfahren, an die auf den Stolpersteinen erinnert wird. Wenn die Smartphonekamera die Steine erfasst, vergleicht die App sie mit Bildern in einer Datenbank. Und so erscheint auf dem Handybildschirm dann ein schwarz-weißes Familienbild von Familie Zeisler. Und per Play-Button erfährt man noch mehr über die Familie Zeisler.

Grundschüler führen Interviews mit Zeitzeugen

Und das auch mit Hilfe von Schülerinnen und Schülern: „Wir sind die Klasse 4b von der Grundschule am Teutoburger Platz“, stellen sie sich in einem Podcast auf der Schulhomepage vor. „Wir machen das Projekt Stolpersteine über die Familie Zeissler, weil dort, wo früher ihr Haus stand, jetzt unsere Schule steht.“ Seit knapp zwei Jahren führen die Grundschüler Interviews mit Zeitzeugen und Nachkommen von während der NS-Zeit vertriebenen und ermordeten Menschen.
Die Interviews sind Teil eines Wahlkurses zu den Themen Berlin und Nationalsozialismus. Initiiert hat die AG Lehrerin Stefanie Mühlbauer. Die Zeitzeugeninterviews stellt sie auf die Homepage der Schule. Doch die Podcasts nur auf der Homepage zu veröffentlichen, reicht Stefanie Mühlbauer nicht. Sie möchte eine direkte Verbindung zu den Stolpersteinen vor der Schule. Über einen Zeitungsartikel ist die Lehrerin auf Nicola Andersson und ihre App aufmerksam geworden. Die Zeitung brachte sie zusammen und inzwischen arbeiten die beiden bereits seit fast zwei Jahren im Team.

Besser erinnern durch persönliche Geschichten

Nicola Andersson hat die App als Abschlussarbeit ihres Masterstudiums Erhaltung von Kulturerbe entwickelt. Eigene Erfahrungen haben ihr den Anstoß gegeben, sich mit den Stolpersteinen und dem Erinnern zu beschäftigen: Sie habe immer an die Namen der Menschen erinnern wollen, die vorher in ihrer Straße gewohnt oder in ihrem Kiez gewohnt hätten.
Und Andersson erzählt von einem Artikel, den sie im Studium gelesen habe. Der Autor Neal Silbermann beschreibe darin, wie wichtig es sei, eine persönliche Verbindung zu Menschen zu schaffen, an die man sich erinnern möchte oder an die erinnert werden soll. Indem mit ihrer App zu den Namen auf den Stolpersteinen Geschichten erzählt werden, steige die Wahrscheinlichkeit, sich an diese Menschen zu erinnern. Weil man zum Beispiel erfahr, dass eine Vertriebene oder ein Ermordeter einen bestimmten Musikstil mochte, den man selbst auch mag, sagt Nicola Andersson. Dafür habe sie ihre App entwickelt. Das seien quasi die Geschichten unserer Straßen. „Und das wird nur lebendig gehalten, wenn wir es auch so lebendig pflegen.“

Wissen durch tatsächliches Interesse

Lehrerin Stefanie Mühlbauer bemerkt, dass ihre Schülerinnen und Schülern durch das Projekt nicht so „erschlagen“ seien vom Thema Nationalsozialismus, wie es im klassischen Unterricht oft passiere. Durch den persönlichen Kontakt zu Zeitzeuginnen und Verwandten von Opfern der NS-Zeit, gebe es eine lebendige Verbindung. Indem sie von einem Menschen ausgingen, kämen darüber dann die Fragen: „Wie konnte das passieren? Und wie waren denn eigentlich die Gesetze? Und warum hat keiner geholfen?“ Durch die Fragen komme das Wissen zustande. Denn die Fragen kämen von innen. „Es ist Interesse, und es wird nicht von außen reingeschoben.“
Es sei ein Herzensprojekt, die App und die Arbeit mit den Schülerinnen und den Zeitzeugen, sagen Stefanie Mühlbauer und Nicola Andersson. Ein Herzensprojekt, dem sie viel Freizeit widmen. Vor allem Nicola Andersson hat die App bisher überwiegend ohne finanzielle Unterstützung entwickelt. Der Berliner Senat plant – laut Angaben eines Sprechers – inzwischen, das Projekt zu fördern. Konkret ist aber noch nichts. Förderung könnten sie gut gebrauchen, meinen Nicola Andersson und Stefanie Mühlbauer. Auch um das Projekt mehr Menschen zugänglich zu machen. Bisher ist die App noch nicht öffentlich. Am besten sollen die Bildungs- und Spaziergänge mit der App nicht nur in Berlin möglich sein, sondern bundesweit. Und vielleicht sogar im Ausland, erklären Nicola Andersson und Stefanie Mühlbauer.
Doch ob mit oder ohne Förderung, der Kontakt zu den Zeitzeuginnen und Verwandten der Opfer sei jetzt schon viel wert, meinen beide. Auch für die Erinnerungsarbeit. Man bekomme auch etwas zurück, sagt Stefanie Mühlbauer. „Die bedanken sich bei den Kindern und Jugendlichen, dass wir uns quasi beschäftigen.“ Und manche wollten wissen: „Heißt die Straße noch Chorinerstraße? Ach, du wohnst du in der Chorinerstraße? Da habe ich ja auch gewohnt.“ Das sei so etwas Kiezmäßiges. Nicola Andersson ergänzt: Der Kontakt mit den Kindern und den anderen Beteiligten könne – zumindest ein Stück weit – auch die Beziehung verbessern, die diese Menschen zu Deutschland hatten. Vielleicht könne das ein Anfang sein für eine bessere Idee davon, was Deutschland jetzt ist.

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