Politikexperiment im Studio

Dem Wählerwillen mit der Stoppuhr auf der Spur

Korbinian Frenzel
Eine Stoppuhr regulierte die Redezeit unseres Studiogastes. Wurden die vorgegebene Sekundenzahl überschritten, klingelte unser Moderator Korbinian Frenzel © Deutschlandradio / Torben Waleczek
Moderation: Korbinian Frenzel · 26.09.2017
13 Prozent Aufmerksamkeit - und keine Minute mehr. Wir sind der Aufforderung des Fotokünstlers Wolfgang Tillmans gefolgt und haben fünf Minuten Sendezeit gerecht aufgeteilt. Unser Studiogast, der Historiker Paul Nolte, bedachte alle Fraktionen mit einer Analyse im jeweiligen Sekundentakt.
In der Debatte über den medialen Umgang mit der AfD hat der Fotograf und Künstler Wolfgang Tillmans nach der Bundestagswahl zu mehr Mäßigung aufgerufen. Es sei wichtig, nicht jeden Tabubruch zu einer Großdebatte zu machen.
"Ich hoffe, die Medien werden der AfD in Zukunft dreizehn Prozent der Aufmerksamkeit geben und keine Minute und Zeile mehr", sagte Tillmans der Nachrichtenagentur dpa.
Wir haben seine Forderung ernst genommen und im Gespräch mit unserem Studiogast, dem Historiker Paul Nolte, einmal ausprobiert, welchen Effekt unsere Stoppuhr hat. Nolte bekam für die Schilderung jeder im Bundestag vertretenen Fraktion nur genau soviel Zeit, wie die Prozentpunkte ihres Wahlergebnisses zuließen.
Ausgangspunkt für unser Rechenexempel war, dass Nolte insgesamt fünf Minuten zur Verfügung standen. Die Stoppuhr klingelte immer dann, wenn die jeweilige Redezeit überschritten wurde.
Der Historiker Paul Nolte ließ sich auf ein Experiment mit der Zeit ein.
Der Historiker Paul Nolte© Deutschlandradio / Matthias Horn

27 Sekunden für die Grünen, eine mehr für Die Linke

Mit 8,9 Prozent sind Bündnis 90/Die Grünen jetzt die kleinste Fraktion Parlament und Nolte blieben demnach nur 27 Sekunden: "Die Grünen haben ein bemerkenswert gutes Ergebnis eingefahren", sagte Nolte. Sie müssten sich nun fragen, wo dieses gute Resultat eigentlich herkomme. Die Partei habe ihren linken Flügel stark verabschiedet.
"Also stehen alle Zeichen auf Jamaika."
Für die Linke hatte der Historiker angesichts von 9,2 Prozent gerade mal eine Sekunde mehr, kam aber bei seiner Analyse kaum mit der Zeit aus. "Die Linke kann ein wenig enttäuscht sein", sagte Nolte. Sie sei im Westen erfolgreicher gewesen, habe aber in Ostdeutschland sehr viel an die AfD verloren.
"Da ist eine ganz große Baustelle für die Linke, wie kann man die Protestwähler, die die Linke eben auch hatte, wie kann man die wieder zurückholen."
Es stelle sich auch die Frage, wie sich die kleine Partei jetzt präsentiere, wenn sie nicht mehr Oppositionsführerin ist.
Leichter wurde es mit der FDP, der bei 10,7 Prozent ganze 32 Sekunden Redezeit zustanden. Nolte würdigte zunächst die Rolle des Parteivorsitzenden Christian Lindner, der es geschafft habe, die Liberalen in den Bundestag zurückzuholen. Er sei jetzt der starke Mann in der Partei und gebe sehr selbstbewusst und eloquent den Kurs vor.
"Ich bin mal gespannt, welche Rolle die FDP jetzt in der Mitte zwischen Grünen und Unionsparteien spielen wird".

Schnelles Urteil im Sekundentakt

Als drittstärkste Kraft ist die AfD mit 12,6 Prozent erstmals in den Bundestag eingezogen. Um dies zu kommentieren, hatte der Studiogast 38 Sekunden.
"Natürlich ist die AfD die Gewinnerin der Wahl oder sind es mehrere AfDen, die Gewinnerinnen der Wahl sind?"
Die Frage sei, ob sich die Absetzbewegung von Frauke Petry noch fortsetzen werde. Die Partei müsse sich jetzt erstmal sortieren. Es gebe in der Partei rechtsradikale, teilweise neo-nationalsozialistische Elemente, auch wenn die AfD-Politiker Alexander Gauland und Jörg Meuthen das bestritten.
"Gibt es eine Chance, dass die AfD eine bürgerlich-konservative Partei wird und ein Stück den Platz besetzt, der von der Merkel-CDU freigeräumt wird?"
Er sei da skeptisch, sagte Nolte.
Mit 20,5 Prozent ist die SPD künftig die Oppositionsführerin im Bundestag. Nolte widmete sich ihr 61,5 Sekunden lang. Er hoffe, dass die SPD in der Opposition eine guten Rolle spielen könne. Dies sei auch für die parlamentarische Kultur wichtig. SPD-Politikerin Andreas Nahles werde dann zukünftig bei wichtigen Debatten auf die Bundeskanzlerin antworten. Das sei ein "unglaublich wichtiges Signal". Die Partei müsse sich tiefgehend regenerieren.
Nolte wagte die Prognose, dass Schulz nicht mehr lange Vorsitzender bleiben, sondern vermutlich von Manuela Schwesig oder Olaf Scholz abgelöst werde.

CDU und CSU getrennt behandelt

Bei den Unionsparteien blieb im Studio zunächst zu klären, ob die Fraktion mit 33 Prozent in gemeinsamer Redezeit von 99 Sekunden zu würdigen sei oder lieber als zwei getrennte Parteien. Nolte entschied sich dafür die CDU in 80 Sekunden und die CSU in 19 Sekunden einzeln zu behandeln.
Bei der CDU begann der Historiker angesichts der langen Redezeit damit, langsamer zu sprechen, weil es da gar nicht so viel zu sagen gebe.
"Denn es geht ja, wie die Kanzlerin sagt, alles so weiter wie bisher."
Aber es könne in der CDU natürlich angesichts einer gewissen Unzufriedenheit mit der Kanzlerin zu gären beginnen. Es stelle sich die Frage, wo diese neun Prozent Verluste hingegangen seien.
"Die Kanzlerin wird natürlich fest im Sattel sitzen, aber ich glaube, wir werden Absatzbewegungen, wir werden stärkere Flügel- und Fraktionskämpfe wieder in der CDU erleben."
Dem Politiker Jens Spahn könnte in der CDU vielleicht sogar als nächster Parteivorsitzender oder Kanzlerkandidat eine große Zukunft bevorstehen. Man werde versuchen, diesen entfremdeten, konservativen Flügel wieder etwas einzufangen.
Für die CSU blieben Nolte noch 19 Sekunden für einen letzten Kommentar.
"Sie sucht ihre Rolle noch ganz stark, sie ist ja auch stark abgeschmolzen."
In früheren Koalitionsregierungen sei die CSU oft stärker gewesen als der andere Koalitionspartner der CDU.
"Und jetzt ist sie schwach."
(gem)
Mehr zum Thema