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'Autofahren in Deutschland'

"Seit die Männer aufgehört haben Mammuts zu jagen, läuft irgendwas falsch," findet Marthe. "Seitdem hat niemand mehr eine reelle Beschäftigung gefunden." Marthe hat einfach Angst. Mit ihr sorgen sich Hugo, ein Graphikdesigner, Lorenz, dessen Steuerberater, und Cleo, ein wieder auferstandenes Unfallopfer, um ihre Zukunft in einer Gesellschaft, die ihnen keine Hoffnung mehr bietet. Nicht einen Funken Hoffnung auf Erfolg, Sicherheit, Integrität. Und dann sind da noch die Bulgaren, jene namenlosen Gestalten, die vor Waschsalons rumlungern, Zapfsäulen betätigen, Organe und Wodka verkaufen, in Ionenbeschleunigern und bei der Polizei arbeiten.

Ein Beitrag von Frauke Hartmann | 03.12.2002
    Von galoppierendem Wahn scheinen die Figuren in Ulrike Syhas Stück "Autofahren in Deutschland" erfasst zu sein. Und tatsächlich steuert die Geschichte auf absurde Weise in die Katastrophe. Hugo, der in einem Mietwagen umher fährt und einen Ionenbeschleuniger besichtigt, ist überzeugt, dass Spezialisten sein Privatleben zertrümmern wollen, dass seine Freundin Marthe es mit seinem Steuerberater und überhaupt jedem treibt und dass unbekannte Frauen Pistolen unter ihrem Mantel tragen. Während sein Steuerberater Lorenz in einem Waschsalon nach Kleingeld sucht, sich beobachtet fühlt und Marthe unter den Slip fassen möchte. Dann fällt ein Schuss. Die Autobahntoilette entpuppt sich als Drogenumschlagplatz, an dem Lorenz einen Mann erschießt. Und schließlich explodiert in der Kneipe unten bei Hugo und Marthe eine Bombe aus dem zweiten Weltkrieg. Daran können nur die Russenmafia oder das FBI Schuld sein, mutmaßt Lorenz und fährt, auf der Flucht vor der Steuerfahndung, gegen einen Baum. Heimlicher Schrecken des Alltags. Er bleibt merkwürdig folgenlos. "Passiert überhaupt noch etwas wirklich?", fragt Marthe sich.

    Die Idee zu ihrem zweiten Bühnenwerk kam Ulrike Syha beim Autofahren. Wo sonst kann man seinen Phantasien so schön freien Lauf lassen? Und seiner Wahrnehmung eine andere Wirklichkeit unterstellen, die täglich neue Nahrung bekommt. Aus dem Autoradio zum Beispiel.

    Für eine Autorin hat Ulrike Syha besonders viel Bodenhaftung im Theater. Nach dem Dramaturgie-Studium an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater verdingte sich die 26jährige Wiesbadenerin für drei Jahre als Regie-Assistentin am Schauspiel Leipzig. Wo auch ihr Erstling "Kunstrasen" uraufgeführt wurde. Inzwischen lebt sie in Berlin. Als Freischaffende. Und schwärmt, außer für Dostojewski, immer noch fürs Theater.

    Im Gegensatz zur Prosa sind Theatertexte Material. Man kann den Text ja immer noch nachlesen.

    Zwar ist die Umsetzung von Monika Gintersdorfer und Christin Vahl, die für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, ebenso phantasievoll wie, bis in die verschiedenen Vermummungen der Bulgaren hinein, präzise. Wiebke Mauss etwa gibt Marthe als wunderbar nervös vibrierenden Seismographen der Para-Wirklichkeit.

    Doch für die Regie erweisen sich die irritierend vielfältigen Möglichkeiten des Textes, der aus Dialogen und einem Subtext, parallel geführten inneren Monologen, besteht, als Falle. Beim Lesen weiß man nie ganz genau, auf welcher Ebene man sich gerade befindet. Bei der Uraufführung wohl. Die Bühne ist ein gelb ausgeleuchteter kurzer Tunnel: Wasch- und Ionentrommel, Bombenkeller und Auto-Innenraum. Ein benzin-injizierender Tankwart wird zur Zapfsäule, ein Bett mit Armen und Beinen spielt Kleinwagen. Alice in Car Crash-Land. Die Dummie-Testschiene vor dem Publikum, auf der Autositze hin und her rollen, sorgt für weitere, kurzweilige Intermezzi. Und ist schon viel zu viel.

    Als ob die Regie Ulrike Syhas kunstvoll geschnittenem Wechselspiel zwischen Phantasien und Ereignissen, Gedankenflucht und Wirklichkeit, Gewalt und Traum, Paranoia und Parallelwelt nicht ganz getraut hätte. Gintersdorfer und Vahl haben noch einen drauf gesetzt und ein bunte, fröhliche Sarah Kane-Stunde daraus gemacht. Jeder Verdacht auf Grausamkeit wird gleich zu einem Bild verdammt, jedes Lächeln zur, wenigstens angedeuteten Fick-Szene.

    Dabei gehen eben jenes schwebend Ungefähre, die Schärfe und die Komik verloren, die den Reiz des Textes ausmachen, seine offene Form, sein Geheimnis, seine Sprachbilder.

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