Literaturskandal in Italien

Roman über Pädophilie erhitzt die Gemüter

Der italienische Schriftsteller und Essayist Walter Siti, diesjähriger Preisträger des italienischen Literaturpreises Premio Strega, aufgenommen am 04.07.2013 in Mailand.
Walter Siti: „Mir geht es darum, dieses Thema auf den Punkt zu bringen.“ © picture alliance / ANSA / Mauretta Capuano
Von Thomas Migge |
Ein Roman über einen pädophilen katholischen Geistlichen wird derzeit in Italien diskutiert. Der Schriftsteller Walter Siti hat in „Brucciare tutto“ die erotischen Wünsche seines Protagonisten genau beschrieben. Selbst abgebrühte Vielleser sind peinlich berührt.
Walter Siti: „Mir erschien das eine interessante Geschichte für einen Roman. Als Schriftsteller reizte mich diese Geschichte, weil es sich um ein Thema handelt, das wie das Wasser von oben nach unten fließt.“
Und mit „unten“ meint der italienische Schriftsteller Walter Siti die düstersten Gefilde menschlicher Sexualität und Erotik. Eine Gefühlswelt, die abstoßend ist, weil im Zentrum ihrer Faszination minderjährige Menschen stehen, Kinder und Jugendliche. Pädophile Sexualität ist das Thema des neuen und erst vor wenigen Tagen erschienenen neuen Romas von Walter Siti mit dem Titel „Brucciare tutto“. Das könnte man, in Bezug auf den Inhalt des Romans, als „Drinnen brennt alles“ übersetzen.
Wobei mit „drinnen“ die gesamte Gefühlswelt eines triebbestimmten Menschen gemeint ist, der durch und durch von einer sexuellen Fixierung auf Minderjährige dominiert wird. Genau das ist das heikle Thema von Sitis Roman, dessen Erscheinen hohe Wellen schlägt. Nicht nur in Italiens Feuilletons, sondern auch in der öffentlichen Debatte. In einem Land, in dem schon homosexuelle Sujets für Aufsehen und Aufregung sorgen – wie etwa ein Kuss zwischen zwei Männern im Staatsfernsehen RAI zur besten Sendezeit – ist das Thema Pädophilie absolut skandalös, und sollte besser gar nicht erst aufgegriffen werden.

Siti: Musste mich in seine Gedankenwelt hineinversetzen

Walter Siti: „Mir geht es darum, dieses Thema auf den Punkt zu bringen. Ich musste also einerseits eine gewisse Toleranz einem der beiden Protagonisten gegenüber aufbringen, um mich in seine erotische Gedankenwelt hineindenken zu können.“
Genau das hat Siti gemacht: sich in einen pädophilen katholischen Geistlichen hineingedacht. In seine erotischen Wünsche und Träume. Mit so eindeutigen Worten und Beschreibungen, dass selbst abgebrühte Vielleser peinlich berührt sind.
Der von Siti beschriebene pädophile Geistliche unterhielt während seines Studiums eine Beziehung zu einem Minderjährigen. Später versuchte er, diesen Versuchungen nicht mehr zu erliegen. Bis ein anderer Jugendlicher auftauchte, und ihn zu verführen versuchte. Weil der Priester nicht nachgab, wählte der junge Mann schließlich den Freitod. Ein dramatischer Roman. Dramatisch und skandalös, denn Siti beschreibt nicht nur ausführlich pädophile Fleischeslust en detail, sondern auch die erschreckenden Inhalte illegaler Pädo-Websites. Ein literarisches Unding, meint die Philosophin Michela Marzano, die in der Tageszeitung „La Repubblica“ den Roman in Grund und Boden kritisiert hat:
„Hier wird ein Extrem nach dem anderen beschrieben. Vom reinen ‚Mir ist alles egal‘ bis hin zu der Einstellung ‚Es gibt keine Unterschiede in der sexuellen Ausrichtung‘.“
Die meisten Literaturkritiker der italienischen Medien zeigen sich in diesen Tagen irritiert über Sitis neuen Roman. Einige von ihnen erklärten, dass sie ein Buch mit einem solchen Sujet a priori nicht lesen würden. Die katholische Presse bezeichnete das Thema des Buches als geschmacklos.
Autor Walter Siti kann über die hohe Welle der Kritik, die seit Erscheinen seines jüngsten Romans über ihn und den renommierten Verlag Rizzoli hinwegrollt, nur lächeln. Er nenne die Dinge doch nur beim Namen, meint er: Das, was in den Köpfen pädophiler Menschen vor sich gehe, was sie denken, fühlen und begehren. Das zu thematisieren, ohne die Pädophilie in Schutz zu nehmen oder zu relativieren, sei doch die Aufgabe eines Schriftstellers, erklärt er. Auch wenn man damit anderen Menschen vor den Kopf stoße.

Vorbild Pasolini

Dabei darf man nicht vergessen, dass Siti ein gläubiger Verehrer von Pasolini ist. Und von diesem hat er gelernt, dass es für einen Intellektuellen keine von der Gesellschaft normierten Grenzen geben sollte. Siti verwies im vergangenen Jahr bei einem Gespräch über die Grenzen des Beschreibbaren auf Pasolinis extrem komplexes und für den Zuschauer nur schwer verdauliches Filmopus „Salò oder die 120 Tage von Sodom“. Dieser 1976 erschienene Film ist immer noch so starker Tobak, dass viele ihn nicht zu Ende sehen können.
Der Schriftsteller Walter Siti lotet in seinem neuen Roman die Grenzen des literarisch Möglichen aus. Das tut weh. Das ist eklig. Das widert an. Das ist aber bei bestimmten extrem problematischen Themen, wie eben der Pädophilie, nötig. Allerdings nur dann, wenn es nicht voyeuristisch daherkommt – was bei Walter Siti nicht der Fall ist.
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