Dienstag, 30. April 2024

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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, mein Beethoven-Bild bekam Kratzer mit der Zeit"

Für den Komponisten, Dirigenten und Intendanten Peter Ruzicka kann die Auseinandersetzung mit Beethovens Musik nie zu einem Ende kommen. So hat sein Beethoven-Bild mit der Zeit Kratzer bekommen, schreibt Ruzicka in seinem Brief an den Komponisten.

Von Peter Ruzicka | 05.10.2020
    Ein älterer Mann mit nach hinten geföhnten, grauen Haaren steht inmitten von Stuhlreihen in einem Theatersaal, trägt ein blaues Jacket und einen dunkelgrauen Schaal und er schaut in die Kamera.
    Seit 2015 ist Peter Ruzicka geschäftsführender Intendant die Osterfestspiele Salzburg. (imago/Manfred Siebinger)
    Hochverehrter, geschätzter Kollege!

    wann auch immer und in welchem Alter man mit Ihrer Musik Berührung hat – man wird nie am Ende ankommen, in Jahren nicht, mit und ohne Jubiläum. Meine ersten "Begegnungen" mit Ihnen verdanke ich den Schellackplatten der väterlichen Sammlung, durch beständigen Gebrauch zunehmend zerkratzt. Im Konzertsaal, in der Hamburger Musikhalle, hörte ich Ihre Sinfonien mit dem großen, heute leider fast vergessenen Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt.
    Später wurde für mich Nikolaus Harnoncourt, mit dem ich lange Gespräche, nicht nur über Ihre Musik, führen konnte, zu einer Instanz der musikalischen Wahrheitssuche. Und wenn ich einige Ihrer Sinfonien selbst dirigiere, stellen sich alle Fragen doch wieder neu: der Tempi, der Phrasierung, der dynamischen Artikulation und unabdingbar auch der "historisch informierten Aufführungspraxis" (Sie werden mit diesem Begriff kaum umgehen wollen!).
    Beethoven 2020
    Auseinadersetzung mit Beethovens Poetik
    Für einen jungen Komponisten der 70er-Jahre schienen Sie mir als Vorbild so unerreichbar wie unvorstellbar. Erst sehr viel später, in meinem 7. Streichquartett von 2017, das den Titel "Possible-A-Chaque-Instant" trägt, habe ich mich mit Ihrer Poetik auseinandergesetzt. Und mit einem Gedanken von Paul Valéry zum künstlerischen Schaffensprozess: "Vielleicht wäre es interessant, einmal ein Werk zu schaffen, das an jedem seiner Knotenpunkte zeigen würde, wie Verschiedenartiges sich dort dem Geist darbieten kann, bevor er daraus eine einzige Folge wählt, die dann im Text vorliegt. Das hieße: an die Stelle der Illusion einer einzigen, das Wirkliche nachahmenden Bestimmung diejenige des ‚In-jedem-Augenblick-Möglichen‘ setzen."
    Eine solche reflexive Beobachtung setzt für mich Ihr grandioses Streichquartett cis-Moll op. 131 frei, ein singuläres Werk, das beständig auf einen "Möglichkeitshorizont" verweist. In meinem 7. Streichquartett vermeide ich eindeutige Kontinuitäten und spreche vielfach in Möglichkeitsform über "Fragmente aus der Zukunft".

    Sie sehen: Nicht nur die väterlichen Schellackplatten, auch mein Beethoven-Bild bekam Kratzer mit der Zeit, Risse, Sprünge, ungeahnte Möglichkeiten. Vielleicht werden wir in Zukunft alles besser verstehen: zum Beispiel in Ihrem nächsten Jubiläumsjahr 2027!
    Ringen um die musikalische Gestallt und das 6. Klavierkonzert
    Meine jüngste Entdeckung war Ihr 6. Klavierkonzert. Sie haben es nicht vollendet, sondern das Konzert am Ende der Durchführung des ersten Satzes aufgegeben. Sind Sie da womöglich gescheitert? Wollten Sie den Maßstab der ersten fünf Klavierkonzerte noch überschreiten?

    Sie haben da unerhört viele Skizzen und Entwürfe hinterlassen. Man spürt Ihr Ringen um die musikalische Gestalt, die offenbar neue Wege gehen sollte. Eine Musik, die während des Erklingens beständig darüber nachsinnt, wie sie weiter fortfahren könnte. Und dann auch wieder verwirft, wo vielleicht zu wenig Entwicklungspotenzial vorhanden war. Philosophen wie Theodor W. Adorno haben im Blick auf Ihre Musik viel später von "Konsequenzlogik" gesprochen. Es ist eine Umschreibung des "So und nicht anders". Und dies schließt ein Scheitern doch eigentlich aus …

    Ich weiß, dass Ihnen ein solcher Blick in Ihre Werkstatt eher nicht behagen wird, und doch habe ich gerade in der Beschäftigung mit dem Fragment Ihres 6. Klavierkonzerts wieder viel gelernt. Auch im Scheitern eine neue Perspektive auf die Entstehung Ihrer Musik, auf Ihre musikalische Poetik.
    Mondschein-Sonate
    Sie selbst haben sich einmal beschwert, dass etwa Ihre Fis-Dur-Klaviersonate op. 78 kaum beachtet werde, während alle Welt im Mondschein der "Sonata quasi una Fantasia" op. 27 Nr. 2 wandelte: "Immer spricht man von der cis-Moll-Sonate! Ich habe doch wahrhaft Besseres geschrieben. Da ist die Fis-Dur Sonate etwas ganz anderes!", haben Sie gesagt. Nun, heute hören wir beide Werke mit gleicher, großer Bewunderung und können eine Rangfolge wirklich nicht erkennen.

    Und deshalb gehört auch die Beschäftigung mit solchen Fragmenten wie dem 6. Klavierkonzert zu einer in der Musikgeschichte einzigartigen Erfahrung. Sehen Sie mir meine Indiskretion also bitte nach. Meiner großen Verehrung für Sie tut dies keinen Abbruch, ganz im Gegenteil.

    Ihr
    Peter Ruzicka