Versöhnung nach Kriegen

Je mehr Gräuel und Leid, desto tiefer der Graben

08:10 Minuten
Im völlig zerstörten Mariupol schiebt ein Mann einen Kinderwagen und transportiert damit Plastikflaschen.
Szene aus dem völlig zerstörten Mariupol: Es könnte Jahrzehnte dauern, bis die Ukrainer verzeihen können. © Imago / Itar-Tass / Sergei Bobylev
Volker Stanzel im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 20.04.2022
Audio herunterladen
Der Hass in der Ukraine auf Putin und die russischen Soldaten ist groß. Gibt es eine Chance auf Aussöhnung nach dem Krieg? Der ehemalige Diplomat Volker Stanzel nennt die Bedingungen dafür.
Viele Kommentatoren und politischen Beobachter zweifeln inzwischen an der Verhandlungsfähigkeit des russischen Präsidenten - weil Putin skrupellos Raketen auf einen Bahnhof voller Flüchtlinge abfeuern lässt und Soldaten, die Zivilisten töten, wie in Butscha, auszeichnet.

Putin verbrennt alle Brücken

Wer so etwas tue, verbrennt alle Brücken hinter sich, heißt es. Wie soll Aussöhnung mit jemandem möglich sein, der dafür verantwortlich ist, dass Kinder, Frauen und Alte ermordet werden? Wird es eine jahrzehntelange Feindschaft zwischen der Ukraine und Russland geben?
Nach Ansicht von Volker Stanzel hängt das vor allem davon ab, wie lange das Leid in der Ukraine noch anhält. Je länger die Bildung von Traumata andauere, umso länger werde auch der Prozess der Aussöhnung, sagt der ehemalige Diplomat, der inzwischen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik arbeitet.
Der Hass der Ukrainer richte sich vor allem gegen Putin, aber auch gegen die Russen selbst, sagt Stanzel. Denn es seien Russen gewesen, die in die Ukraine gekommen seien und Kriegsverbrechen verübt hätten.

Ukrainer und Russen sind sich eigentlich nah

In Bezug auf Ukrainer und Russen werde immer wieder von einem "Geschwisterverhältnis" gesprochen, betont der Ex-Diplomat: "Und wenn nahestehende Menschen Verbrechen verüben, ist die Reaktion - Hass, Rachegefühl - umso stärker."
Stanzel hat sich wissenschaftlich mit Aussöhnungsprozessen beschäftigt und verschiedene historische Beispiele untersucht. Es gebe durchaus Hinweise, wie Aussöhnung funktionieren könne, sagt er.
So sei vor allem wichtig, dass beide Seiten - Opfer wie Täter - und bereits die direkt betroffenen Generationen aussöhnungswillig seien. Ob das im Fall der Ukraine und Russland so sein werde, lasse sich im Moment aber nicht sagen.

Die Macht der Narrative

Stanzel hat weitere Bedingungen identifiziert, die Aussöhnung erleichtern oder erschweren können - zum Beispiel die vorhandene oder fehlende Bereitschaft der politischen Führungen zum Frieden, die Lebensumstände der Bevölkerungen nach dem Krieg, das Verhalten und der Einfluss anderer Staaten und nicht zuletzt die Narrative, die sich um den Konflikt herum gebildet haben:
"Sind es Narrative, die darauf schließen lassen, dass hier zwei Gruppen für immer Feinde sein werden - und immer schon Feinde gewesen sind? Oder sind es Narrative mit dem Inhalt: Hier sind Geschwister - ein Unglück der Geschichte - miteinander in Feindschaft geraten. Daraus kann der Wunsch erwachsen, die Resultate dieses Kriegs überwinden zu wollen."
(ahe)

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema