Ende des Wachstums in Belgien

Lieber Second Hand und Reparieren

22:08 Minuten
Im belgischen Flandern boomen Second Hand Kaufhäuser.
Im belgischen Flandern boomen Second-Hand-Kaufhäuser. © dpa / Andreas Arnold
Von Paul Vorreiter · 06.12.2018
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Jeder Bürger soll fünf Kilo gebrauchte Ware pro Jahr kaufen – das beschloss die flämische Regionalregierung bereits 2015. Damit dieses Ziel erreicht wird, werden in Flandern sogar Second-Hand-Läden staatlich gefördert.
In angenehmer Lautstärke dudelt Popmusik aus den Lautsprechern. Sie ist der passende Begleiter beim Schlendern durch den 3000-Quadratmeter großen Gebrauchtwaren-Handel. Er heißt "De Kringwinkel", liegt in Hasselt im Osten Belgiens. Er ist einer von rund 125 in ganz Flandern.
Es gibt Teller und Geschirr - nach Farben sortiert. Kleidungsständer stehen in Reihen, sind aber luftig nebeneinander aufgestellt. Niemand muss sich aneinander vorbeidrücken. Ein Teil der Halle ist Möbeln vorbehalten, um die Ecke geht es zu den Bücherregalen. Die helle, geräumige Anmutung erinnert an große Schreibwaren- und Künstlerbedarfe.

Wo endet das Wachstums? Alle Folgen der Reihe hören Sie im Podcast der Weltzeit. Wir berichten u. a. aus Singapur, Ecuador, Bolivien und Barcelona.

Stellvertretender Leiter ist Bert Melaer. Er erklärt, woher das Sortiment des Ladens stammt:
"Wir haben mehrere Lastwagen. Die Leute rufen uns dann an und sagen, welche Dinge wir abholen sollen. Das machen wir gratis. Wer will, kann aber auch seine Sachen zu uns in den Laden bringen. Zusätzlich gibt es auch noch Wertstoff-Höfe in Belgien, und hier in Hasselt können die Menschen ihre Sachen auch in Container werfen, deren Inhalt wir dann bei uns im Laden verkaufen."
Alles gut sortiert bei "De Kringwinkel" im ostbelgischen Hasselt. Auf Kleiderständern hängen T-Shirts und Hemden.
Alles gut sortiert bei "De Kringwinkel" im ostbelgischen Hasselt.© Paul Vorreiter / Deutschlandradio
Kringwinkel nimmt aber nicht beliebig alles an: Wer sein Sofa loswerden will, muss sichergehen, dass es keine Flecken hat. Kleidung darf nicht riechen, auch auseinanderfallende Bücher bleiben draußen.
Die großen Artikel werden direkt an der Haustür gecheckt: Was den Kriterien nicht entspricht, kommt gar nicht erst in den Laster. Kleinere Dinge werden im Lager geprüft. Was nicht nutzbar ist, wird entweder weggeschmissen oder recycelt. Ungefähr 55 Prozent aller Waren können nicht mehr weiterverkauft werden. In einigen Läden sind Reparaturen möglich.

Jeder Bürger soll fünf Kilo Second Hand kaufen

Das "Re-Use"-Prinzip – also die Wiedernutzung – hat in Flandern eine lange Tradition. Ende der 1980er-Jahre entstanden die ersten Initiativen dazu. Sperrmüll wurde eingesammelt und sortiert: Was davon verkauft werden konnte, wurde zu einem günstigen Preis angeboten. Vor allem arme Menschen nahmen das Angebot an. Seitdem hat sich die Kreislaufwirtschaft hier im niederländisch sprechenden Teil Belgiens nach und nach professionalisiert und der Kundenkreis ist größer geworden. Die "Re-Use"-Shops sind auch bei der Mittelschicht beliebt.
Im Jahr 2002 schlossen sich 66 "Re-Use"-Läden zur Marke "De Kringwinkel" zusammen. Auch die Regierung erkannte das Potenzial und verlangte Standards per Gesetz: Im Jahr 2015 sollte jeder Bürger Flanderns fünf Kilogramm an wiederverwertbaren Waren pro Jahr kaufen. Ein Wert, den die Läden in etwa erreichen. Für das Jahr 2022 soll diese Zielmarke für Second-Hand-Käufe nochmal angehoben werden.
Second Hand wird in Flandern auch bei der Mittelschicht immer beliebter. Das Sortiment ist breit, hier sind Bücherregale zu sehen, es gibt auch Kleidung und Möbel.
Second Hand wird in Flandern auch bei der Mittelschicht immer beliebter.© Paul Vorreiter / Deutschlandradio
2005 legte die flämische Regierung auch Kriterien für "Re-Use"-Shops fest, wenn diese sich registrieren und damit staatlich gefördert werden wollten: Sie müssen etwa ein Einzugsgebiet von mindestens 75.000 Einwohnern haben, das Geschäft muss mindestens 30 Stunden pro Woche geöffnet haben und mindestens sechs Produktgruppen anbieten: zum Beispiel Freizeitartikel, Kleidung, Haushalts- oder Elektronikartikel. Nach und nach stieg die Zahl der Kringwinkel-Läden. 2015 waren es schon 125 Läden in ganz Flandern, hinzu kamen noch gut 30 größere Zentren.
Die Marke lebt davon, dass man sie kennt. Eine Umfrage aus dem Jahr 2012 zeigte, dass 70 Prozent der flämischen Verbraucher das Konzept kennen, die Hälfte von ihnen hat ein Kringwinkel-Geschäft auch schon mal besucht.

Neue Chance für Produkte und Menschen

Bei Preisen von vier Euro für Hemden und 12 Euro für Jacken ist klar: Bei der Finanzierung hilft der Staat. Auch, weil in den Geschäften Menschen mit "Einstellungshemmnissen" beschäftigt werden. Zum Beispiel Alleinerziehende oder ehemalige Drogenabhängige. Je höher die Hürden sind auf dem regulären Jobmarkt, desto höher fällt die staatliche Unterstützung aus. Im Kringwinkel-Laden in Hasselt arbeiten 30 Beschäftigte. Auch die 46-jährige Peggy Eerdekens ist vier Tage pro Woche da:
"Ich habe lange als Putzfrau gearbeitet. Wegen meiner Rückenprobleme habe ich hier angefangen. Erst als Aushilfskraft, dann einen Monat in Teilzeit und dann in Vollzeit. Und jetzt sind inzwischen schon zwölf Jahre vergangen."
Dass die Wiederverwertungsindustrie in Flandern derart expandiert, wäre vor zwanzig Jahren wohl auch nicht zu erwarten gewesen. Inzwischen machen die 125 Läden einen Umsatz von mehr als 45 Millionen Euro im Jahr. Bert Melaer glaubt daran, dass das Prinzip ausbaufähig ist – aus ökologischen und sozialen Gründen:
"Wir geben Menschen neue Chancen, aber auch den Produkten, die wir verkaufen. Ich denke, die professionelle Art und Weise, auf die wir es machen. Davon können andere Länder lernen."

Reparieren statt neu kaufen

Nebenan in den Niederlanden setzen immer mehr Menschen auf das Reparieren: Gemeinschaft und Nachhaltigkeit waren die Ziele des ersten Repair Cafés in Amsterdam, das Martine Postma 2009 gründete. Mittlerweile ist daraus eine weltweite Bewegung entstanden, mit Ablegern auch in Deutschland.
"Ich habe als Journalistin gearbeitet, habe über Nachhaltigkeit geschrieben, im Speziellen über Müllvermeidung, und irgendwann wollte ich mehr tun, als nur darüber zu schreiben. Ich habe mich gefragt, warum wir im Alltag so viel Müll produzieren und ein Grund dafür ist: Wir reparieren nichts mehr. Oft ist es einfacher und attraktiver, etwas Neues zu kaufen. Aber das macht keinen Sinn, weil wir soviele Rohmaterialien und Energie brauchen und CO2 produzieren für diese Produkte. Deshalb wollte ich Reparieren wieder attraktiv machen. Noch gibt es in jeder Gemeinde Leute, die gern reparieren, oft als Hobby und sie freuen sich ihren Nachbarn zu helfen. Wir bringen diese Bastler und die Leute mit kaputten Objekten zusammen, tun so etwas gegen den Ressourcen-Verbrauch und für die Gemeinschaft."
Martine Postma agiert seit 2009 als Gründerin der Repair-Café-Bewegung. Mittellange, lockige Haare. Sie sitzt in Amsterdam in einem Repair-Café.
Martine Postma agiert seit 2009 als Gründerin der Repair-Café-Bewegung.© Martine Postma
Auf der Website Repaircafe.org gibt es ein Starterkid in sieben Sprachen für Interessierte, die auch so einen Laden eröffnen wollen. So sind inzwischen 1650 Repaircafés entstanden - in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und immer mehr enstehen in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland.
Die Vernetzung der Gleichgesinnten in diesen reichen Ländern wird immer stärker. Einige Organisationen finden sich unter OpenRepair. In Deutschland fordern Aktivistinnen sogar ein "Recht auf Reparatur". Ihre Petition mit bisher 110.000 Unterschriften fordert die Bundesregierung auf sich für EU-weite Reparaturstandards einzusetzen.
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